Flügel Blüthner Aliquot Bj. 1887 Reparaturdoku

Der Flügel gehörte übrigens die letzten ca. 60 Jahre einer Pianistin, die ihn sehr pfleglich behandelte. Die Dame ist vor einiger Zeit gestorben. Deren Tochter hat mir den Flügel verkauft, weil ich, anders als andere Interessenten, diesen Flügel nicht kernsanieren lassen wollte.

LG, Sesam
 
In München bedeutet "kernsanieren" vor allem: für billiges Geld ganze Häuser kaufen, modernisieren und dann für sehr teures Geld verkaufen. :-(
 
Du meinst "Kernsanieren" im Zusammenhang mit der sogenannten Gentrifizierung. Auch hier in der Gegend (und ich wohne wahrlich nicht in München oder Hamburg) gibt es ein weites Spektrum zwischen unter 5 Euro bis über 10 Euro den Quadratmeter für gemieteten Wohnraum. Und oft genug passiert genau das: ein "preiswertes" Haus wird gekauft, "saniert", die Wohnungen in Eigentumswohnungen umgewandelt und den Mietern entweder direkt gekündigt oder sie kriegen Mieterhöhungen am Limit dessen, was das Gesetz her gibt, und das ist einiges und für viele einfach zu viel.

So haben wir auch im Ruhrgebiet Stadtteile, wo Wohnen billig, aber unbeliebt ist (und wo ich zugegebenermaßen leider auch nicht mehr wohnen will, nachdem diese Entwicklung nun Jahrzehnte so geht), und Stadtteile, wo man mindestens gut verdienender Akademiker sein muss, um sich Auto und Miete gleichzeitig leisten zu können (von dicken Reserven reden wir mal nicht).

Auf einen Flügel übertragen klingt "Kernsanierung" jedenfalls nach jenen "Renovierungen", die einige Firmen alten Flügeln antun. Natürlich kann man einiges mehr machen und den Charakter des Instruments dabei trotzdem erhalten, aber z.B. schon bei der Neubesaitung und erst Recht bei neuen Hammerfilzen und/oder Überarbeitung des Korpus' glaube ich, hätte ich gerne jemanden mit echtem Respekt für ein altes Instrument. Aber nachdem, was ich bisher gesehen habe, mache ich mir da bei Micha keinerlei Sorgen. :-D

Zum Blüthner: was ich bemerkenswert finde, ist dass er schon Agraffen hat (wenn ich nicht blind bin). Ich dachte, frühere Instrumente hätten alle Kapodaster benutzt... so kann man irren. Ein recht modernes Detail, interessant besonders im Kontrast dazu, dass Blüthner sich (glaube ich) bis weit nach dem zweiten Weltkrieg anderem neumodischen Schnickschnack wie dem serienmäßigen Sostenuto-Pedal verweigert hat.
 
Lieber Kalessin,

ja, das meinte ich. Hinzukommt, das jeder Markt ja nicht nur vom Angebot, sondern auch von der Nachfrage lebt. Diese schick sanierten Wohnungen müssen ja auch eine Käuferschicht ansprechen. Oft sind das zunächst renditeorientierte Investoren, die dann diese Wohnungen an ein internationales Publikum zu enormen Summen weiterreichen.
Dass sich da keiner mehr um "gewachsene Viertel" oder "Lebensraum" schert, ist auch klar. Etwas rücksichtslos, das ganze. Aber denjenigen, die diese hübschen, aufpolierten Wohnungen ihr eigen nennen, gefällt das.

Genauso gefallen alte schwarze, in allen Details hochglänzende Flügel. Dafür finden sich genügend Abnehmer. Eine komplette Neulackierung (kein Schellack) innen wie außen, neue Saiten + Wirbel, neue Hämmer, Resoboden aufbereiten. Bei alten Blüthnern pegelt sich der Preis zwischen 16 und 18 T€ ein. Das scheint ein attraktives Angebot zu sein und lässt bei so manchem Flügelsuchenden das Herz höher schlagen: ein Markenflügel, alt, aber alles neu gemacht für so wenig Geld! Und oft wird der "eigentliche" Neupreis gleich im Angebot dazugeschrieben. Wenn man Pech hat, ist der Flügel zwar schön anzusehen (Geschmacksache), aber klanglich völlig, naja, uninteressant. Und das Spielgefühl auch mehr als gewöhnungsbedürftig. Wenn man dem Flügel die Wurzeln kappt und alles neu sein muss, kann dieses traurige Ergebnis der wahre Preis sein. Diese zulackierten, hochglanzaufgehübtschten Instrumente erinnern mich immer an in die Jahre gekommene Menschen, die mit allen möglichen Tricks der Kosmetikindustrie versuchen, jung zu erscheinen. Nicht immer mit überzeugendem Ergebis.

Natürlich kann man auch auf Flügelangebote in Privathaushalten treffen, die genauso hinüber sind. Nicht jeder alte Flügel war überhaupt jemals ein guter Flügel und nicht jeder alte Flügel hatte über die gesamte Zeit optimale Standorte und ein nettes Frauchen oder Herrchen. Insofern kannste beim 40, 50, 60, .....130-jährigen Instrument, das noch nie ne Werkstatt von innen gesehen hat, auch Pech haben. Aber dieses Risiko kostet dich höchstens ein bißchen Benzingeld und ein Gutachterhonorar.

LG, Sesam
 
Zuletzt bearbeitet:
@Vitamin P , ich dachte früher auch, dass es nur blaue Filze für Blüthner gab, aber ich lasse mich gerne belehren. Glaubst Du, dass jemand die alten Saiten entfernt hat, um den blauen Filz zu entfernen und gegen rot zu ersetzen ohne neu zu besaiten? Die Saiten sowie die Stimmnägel waren bei diesem Flügel original. Hat ein Klavierbauer in gleichem Zuge die Dämpferfilze erneuert mit rotem Tuch als Unterfilz? Wenn ja, musste er jeden Unterfilz für die Dämpfer selbst kleben, denn kein Hersteller macht die in rot. So selbst geklebt sehen die aber nicht aus, denn sie wurden am Stück geschnitten.

LG
Michael

ich hab jetzt mal bei Blüther angerufen, hat mich selbst interessiert. dort wurde mir gesagt, dass die aller ersten modelle rot betucht waren...wann der wechsel zu blau stattgefunden hat, wissen sie nicht so genau...allerdings ist der flügel ja kurz vor der jahrundertwende gebaut..also kann man nicht von einem der ersten modelle reden....

eigentlich auch egal...ist ja nur ein "nebenschauplatz"..aber ich hab jetzt wieder was neues dazugelernt - nämlich, dass es sehr alte modelle gibt, die tatsächlich rot waren...

....vielleicht wurde das instrument ja auch auf kundenwunsch hin rot betucht....wer will das heute schon noch wissen.....
 
Weißt warum ich die alten Stimmnägel mehr schätze als Neue? ...vorausgesetzt natürlich sie sitzen noch fest im Stimmstock! Soviel vorweg, es liegt nicht daran, dass sie eben Original waren...
Anderes Material? Andere Form? Der Stimmstock ist aus Holz, die Nägel aus Metall, soweit ich weiß. Sind neue Nägel weniger maßtreu? Oder waren die früher aus einer anderen Legierung, die vielleicht einen höheren Reibungskoeffizienten im Holz erzeugt hat (sprich, Stimmung stabiler)? :denken:
 

Menno Micha, jetzt lös' doch das Rätsel auf. Ich guck hier alle 5 Minuten...

Mir fallen ein paar Möglichkeiten ein:

Liegt es daran, dass Die alten Stimmnägel besser zur Bauweise des Stimmstocks passen?
Liegt es daran, dass sich alte Stimmnägel schon an die Kraftlinien angepasst haben und so besser bei der Stimmung reagieren, also wenn du da dran drehst?
Liegt es daran, dass die alten Stimmnägel beim Stimmen auch "stufenloser" im Holz drehen? Und du deshalb noch genauer stimmen kannst?

....

Ach, ich weiß es nicht. Aber verrate es uns bitte bald :-))
 
Nun, es ist so, dass Stimmnägel früher von Hand, und moderne Stimmnägel stumpf maschinell geriffelt werden.
Hab mal ein Video der beiden Stimmwirbel (von 2014 und 1887) gemacht:



Was genau passiert nun im Holz? Während ein moderner Stimmnagel in erster Linie durch die Quetschung den Halt gewährt, ist es beim Alten die Riffelart, die zusätzlich hilft. Der Wirbel sitzt auch bei sehr leichtem Gang noch fest und löst sich nicht. Im Gegensatz zur heutigen Machart ist er fester, wenn man ihn gegen den Uhrzeigersinn herausdrehen will. In Verbindung mit dem Saitenzug ergibt sich beim anziehen und lösen ähnliche Kraftanstrengung. Es lässt sich leichter stimmen und schont noch den Stimmstock, weil er oberflächlich eher glatt ist, wie Agraffentoni bereits schrieb.

LG
Michael
 
Sehr interessant! Ist ja schon mehr ne Schraube, als ein Nagel.

Aber wie wurde das denn manuell hergestellt. Mit den Schneidezähnen? :konfus::-D
Wann setzte eigentlich die maschinelle Fertigung ein? Und gilt das für alle Fabrikate? Ich nehme an, Stimmnägel waren Zulieferware, die von vielen Herstellern geordert wurde.

LG, Sesam
 
Ich denke, Drehbänke gab's damals auch schon, die sind ziemlich alt. Aber damals hat halt ein Dreher liebevoll per Hand den Nagel auf Maß abgedreht, poliert, abgestochen und nachbearbeitet. Heute sind es vermutlich per CNC (Computer) erzeugte Automatik-Produkte, mit durchaus hoher Präzision, aber nackte Präzision ist ja nicht alles. :denken:
 

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