Erfahrungen mit Chopin Etüden

Und dass Chopin die Fähigkeit hatte, ein Stück mehrmals hintereinander zu spielen, jeweils mit total anderer Interpretation, und jedesmal total überzeugend.

Das ist ein wichtiger Punkt: erstens gibt es sicher nicht die einzig wahre Art ein Stück zu spielen,sondern mehrere (immer im Rahmen der Vorgaben des Komponisten, natürlich), zweitens empfindet man es doch auch als Klavierspieler je nach Stimmung, Tageszeit, Publikum etc. anders, oder nicht? Ich hab' z.B. größte Mühe, wenn die Sonne scheint und das Leben lacht, den zweiten Satz der Wandererfantasie zu spielen. Geht nicht.
 
Mir ist es keinesfalls zu langsam. Und sportliche Herausforderung - hat im Zusammenhang mit Musik immer einen faden Beigeschmack, finde ich. Insbesondere bei Chopin.

Hallo,
bin auch hier für die kontroversen Ansichten dankbar. Ich finde aber, dass sportliche Herausforderung im Zusammenhang mit Etüden durchaus legitim ist. Das ist einer der Vorteile von Etüden: Es sind "nur" Etüden. Oh je, das ist wieder eine Steilvorlage!
Gruß - Andreas
 
Übrigens, kennst du die "Aufzeichnungen über Chopin" von André Gide, das ist eines der besten Bücher über Chopins Klaviermusik überhaupt.

Inzwischen ist das Buch von Gide eingetrudelt und ich habe es gelesen - ist ja nur ein Büchelchen von ca. 100 Seiten, was sich schnell liest.

Interessant, wie unterschiedlich Meinungen sein können. Es ist für mich das so ziemlich schlechteste Buch, was über Chopin geschrieben wurde, ein paar Gründe füge ich hier noch an. Es ist auf meinem immer grösser werdenden Stapel unnützer Chopin-Bücher gelandet.

Andre Gide ist ein Schriftsteller und Amateurpianist. In hochsubjektiver Art schildert er seine Meinung, wie man Chopin zu interpretieren habe.

Er prangert das Klavierspiel der Profiinterpreten seiner Zeit an, das Wort Klaviervirtuose ist durchweg negativ bei ihm besetzt, und der einzige Klavierspieler, der seiner Meinung nach Chopin richtig interpretiert, ist er selber. So kommt an endlos vielen Stellen im Buch rüber. Das ist alles dermaßen arrogant, unbeschreiblich, wie ein Möchtegern-Spieler hier versucht, seine Stammtischparolen über die "einzig wahre Art", Chopin zu interpretieren, unter das Volk zu bringen, ohne an den entsprechenden Stellen auf verbürgte Quellen über Chopins Spielweise zu verweisen.

Bei den paar mageren gelieferten Fakten bleibt Gide die Quelle schuldig. Zum Beispiel führt er an, dass das d-und a-moll-Prelude eher als die anderen Preludes komponiert wurden. Der Zeitpunkt der Entstehung der Preludes, ob erst in Mallorca oder früher, ist ein grosser Streitpunkt. Mich hätten die Quellen interessiert, woraus Gide seine Weisheit zieht.

Wenn jemand der Wahrheit näher kommen möchte, wie Chopin selber gespielt hat, kann man dieses Buch vergessen, und zwar komplett. Ausschliesslich authentisch Verbürgtes über Chopins Spielweise findet sich stattdessen in Eigeldinger "Chopin: pianist and teacher".
 
Es ist für mich das so ziemlich schlechteste Buch, was über Chopin geschrieben wurde [...] Es ist auf meinem immer grösser werdenden Stapel unnützer Chopin-Bücher gelandet.
[...] In hochsubjektiver Art schildert er seine Meinung, wie man Chopin zu interpretieren habe.
Du hast mit Deiner Beschreibung sicherlich recht. Aber als unnütz würde ich das Buch dennoch nicht bezeichnen. Es ist zumindest ein zeitgeschichtliches Dokument der Chopin-Rezeption - ein letzter Versuch, Chopin für den Salon (der Amateure) zu rettenein letzter Kampf gegen die Virtuosen alten Schlages (z.B. Cortot) und gegen die damals aufkommende Sachlichkeit der Interpretation.

Jede Zeit sucht sich ihrer Position zu den Werken neu. Und jede Position wird nur verständlich aus dem, was die Väter und Großväter für richtig erachtet haben. Sehr sinnfällig wird dies bei der historischen Aufführungspraxis, die ja seit gut einem halben Jahrhundert behauptet, daß sie sich ausschließlich auf authentische Quellen stützt. Und wie unterschiedlich fallen über Jahre hinweg die jeweiligen Ergebnisse aus. Selbst das vermeintlich "Authentische" (das ja doch den Charakter des Objektiven hat), scheint dem Zeitgeschmack des Rezipienten unterworfen zu sein.
 
Jede Zeit sucht sich ihrer Position zu den Werken neu. Und jede Position wird nur verständlich aus dem, was die Väter und Großväter für richtig erachtet haben. Sehr sinnfällig wird dies bei der historischen Aufführungspraxis, die ja seit gut einem halben Jahrhundert behauptet, daß sie sich ausschließlich auf authentische Quellen stützt. Und wie unterschiedlich fallen über Jahre hinweg die jeweiligen Ergebnisse aus. Selbst das vermeintlich "Authentische" (das ja doch den Charakter des Objektiven hat), scheint dem Zeitgeschmack des Rezipienten unterworfen zu sein.

Stimmt auch wieder. Vielleicht ist es bzgl. historische Aufführungspraxis bei Barockmusik (o je, immer weiter OT) einfacher als bei der Musik aus der Romantik-Epoche und insbesonder als bei Chopin. Bei Barockmusik finde ich schon, dass sich in den letzten Jahrzehnten (vielleicht weniger bei Klavierinterpretation, wohl aber bei Orgelinterpretation und vor allem Kammermusik) die Aufführungspraxis rel. stabilisiert hat. Also, von historischen Instrumenten abgesehen, z.B. das Spiel ohne viel Vibrato bei Streichern, ohne viel Rubato, aber sehr tänzerisch bzgl. Melodiebögen auf schweren Zählzeiten und sorgfältiger genauer Artikulation, um ein paar Dinge zu nennen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man bei Barockmusik wieder zurück zur romantisierenden Aufführung kommt mit oppulenten Orchestern und Chören, die für Klangbrei statt Transparenz sorgen. Aber sind natürlich alles Mutmaßungen...
 
Inzwischen ist das Buch von Gide eingetrudelt und ich habe es gelesen - ist ja nur ein Büchelchen von ca. 100 Seiten, was sich schnell liest.

Interessant, wie unterschiedlich Meinungen sein können. Es ist für mich das so ziemlich schlechteste Buch, was über Chopin geschrieben wurde,


Schade, daß dir das Buch, bzw. das was Gide schreibt, nicht gefällt. Für mich ist es wie gesagt eines der besten Bücher über Chopins Musik, aber das ist ja nicht verwunderlich, er stimmt ja in den meisten Punkten mit meinen Ansichten überein. Während er natürlich völlig entgegengesetzt zu deiner Einstellung ist.

Ich werde mir das Eigeldinger-Buch wohl mal beschaffen müssen, um mir eine eigene Meinung dazu bilden zu können. Aber ich bin mir ziemlich sicher, daß es meine Art Chopin zu spielen, kaum beeinflussen würde. Den Schülern glaube ich nämlich am allerwenigsten :floet:
 
Ich werde mir das Eigeldinger-Buch wohl mal beschaffen müssen, um mir eine eigene Meinung dazu bilden zu können. Aber ich bin mir ziemlich sicher, daß es meine Art Chopin zu spielen, kaum beeinflussen würde. Den Schülern glaube ich nämlich am allerwenigsten :floet:

Wäre ja auch langweilig, wenn es keine unterschiedliche Ansichten und Interpretationsweisen gäbe.

Das Interessante am Eigeldinger-Buch ist, es wird gar nicht erst der Versuch unternommen, Originalaussagen zu interpretieren; sie werden (fleißig zusammengetragen) einfach für sich stehen gelassen, allerdings mit reichlich Fußnoten versehen, wo man Näheres zu den Umständen erfahren kann. Sind nicht nur Aussagen von Schülern drin, auch von anderen Zeitzeugen, wie z.B. Musikerkollegen (vielleicht glaubst du denen ja mehr :D). Alle Quellen wurden auf ihre Glaubwürdigkeit abgecheckt, und bei Zweifeln dies auch vermerkt. Es ist also ein Buch, was sich um Authentizität bemüht, in einem Umfang, was ich von keinem anderen Buch, auch nicht über andere Komponisten/Pianisten her kenne. Das Buch ist also eher eine Datenquelle, und zwar eine ziemlich umfangreiche, ohne dass irgendwas gedeutet oder gemutmaßt wird.

Wie gerne würde ich ein Buch in dieser Form wie das Eigeldinger-Buch über J.S.Bach lesen!
 
Sind nicht nur Aussagen von Schülern drin, auch von anderen Zeitzeugen, wie z.B. Musikerkollegen (vielleicht glaubst du denen ja mehr :D).

Zumindest könnte ich die Aussagen von bekannten Musikerkollegen insoweit einschätzen, daß ich ungefähr weiß, was ihre Ansichten über Musik waren und im Spiegel dessen dann auch ihre Äußerungen interpretieren. Es ist ja alles sehr relativ in der Musik ;)


»Der Bourgeois-Klasse muß man etwas Erstaunliches, Mechanisches bringen,
was ich nicht kann; die vornehme Welt, die viel reist, ist hoffärtig,
doch gebildet und gerecht, wenn sie gewillt ist, sich etwas näher
anzusehen, doch von tausend Dingen so sehr in Anspruch genommen, so
eingeschlossen in ihre konventionelle Langeweile, daß es ihr
gleichgültig ist, ob die Musik gut oder schlecht, da sie sie doch von
früh bis abends anhören muß«[237], schreibt Chopin 1848.

[237] Frédéric Chopin, Gesammelte Briefe. Übersetzt und hrsg. von
Alexander Guttry. München 1928. S. 382 f.
 
Zuletzt von einem Moderator bearbeitet:

Zurück
Top Bottom