Diskussion über Sinn der historischen Aufführungspraxis

Es geht hier in diesem Faden schon länger nicht mehr nur um Bachinterpretation, sondern darum , wie verbindlich die Musizier- bzw. Aufführungspraxis (1) eines Komponisten selbst (2) oder aus Zeit und Umfeld eines Komponisten sind.
(1) sagt fast nichts (kein Komponist kann seine eigenen Streichquartette "spielen", seine Opern komplett singen etc etc9
(2) ist in aller Regel unabhängig von von biografischen Kapriolen

Und wieso reagierst Du so gereizt, wenn ein kritisches Wort über Wagner fällt, bist Du einer der dem Meister blind ergebenen Jünger? Ich dachte, die seien in dieser Form inzwischen ausgestorben....
Pardon erhabener Kenner, mich wunderte halt, dass ich - so lange es noch um Furtwänglers Bach ging - allerhand Wagner-Allotria als "Argumente" (keine Ahnung, wofür oder wogegen) hier aus des erhabenen Kenners Feder zu lesen bekam... nach wie vor, egal was man von Wagner, Verdi, Opern des 19. Jhs., ist mir nicht klar, was das mit dem anfänglichen und nun auch mit dem neu formulierten Thema zu tun hat. Wenn es nun um Tempi in den Sinfonie- und Operndirigaten von Wagner, Verdi und Liszt (der uraufführte einige Opern) gehen soll, so wird man auch da unterschiedliche Sekundärquellen finden. Dass Liszt, Verdi, Wagner sonderlich langsam gewesen seien, ist eine beliebte Behauptung - leider lässt sie sich quellengestützt nicht zur Tatsache machen.
 
@mick zum Thema Barockmusik und Tempo hatte ich einst einen Thread erstellt. Da konnte mir keiner irgendeine Quelle nennen, die handfest einen Beleg gibt, in welchem Tempo irgendetwas von Bach von Zeitgenossen aufgeführt wurde.

Hast du irgendeien Quelle, die nicht subjektiv ein Tempo beschreibt, sondern die Dauer irgendeines Satzes, einer Kantate, eines Orgelwerks, eines Cembalowerks/Klavichordwerks oder Klavierwerks angibt? Metronomzahlen kann es ja schlecht gegeben haben.

Hast du irgendeine Quelle, dass die gängige Art zu artikulieren so, wie sie ist, richtig ist?

Hast du Quellen zur Beschreibungen zur Agogik, Dynamik?

Damit will ich nicht sagen, Furtwängler hatte jetzt Recht. Ich bevorzuge weitgehend auch eine modernere Art, Bach zu interpretieren. Ich hätte nur gerne einen Beleg dafür, dass Furtwängler Unrecht hat und bisher habe ich nirgends einen Beleg gefunden.

Was mich sehr an vielen Konventionen zweifeln lassen hat, war eine Aufnahme von einem Stück was ich gerade aus einem Anfall von Größenwahn heraus übe (Reflets dans l'eau aus Images, Debussy). Debussy selbst spielt insgesamt langsamer, insbesondere macht er viel stärkere und längere Riterdandi als heute üblich. Meist brauchen die Pianisten heute 4:30-5:30, Debussy brauchte über 6:00 für das Stück. Und seit Debussy ist wesentlich weniger Zeit vergangen. Vermutlich haben die Impressionisten und Spätromantiker auch Chopin und Beethoven wesentlich langsamer gespielt, als deren Zeitgenossen. Nach meinem Kenntnisstand verliert sich die Spur aber im 18. Jahrhundert.

Aber selbst, wenn man jetzt eine Quelle für ein Tempo von Stück xy von Bach hat, weiß man nicht, wie unterschiedlich schnell zu wieviel Gefallen vom Komponisten die Zeitgenossen gespielt haben. Vielleicht gab es auch vor 300 Jahren das gleiche Stück interpretiert in völlig unterschiedlichen Tempi.

Das einzige, was ich für so wirklich gesichert halte, ist wie Bach Triller ausgeführt hat. Gerne lasse ich mich aber eines Besseren belehren.

Zweifelsfrei gut an der HIP ist aber, die Auseinandersetzung mit der vermutlichen Intention des Komponisten und die Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten, Beschränkungen und Eigenarten mit den historischen Instrumenten.
 
zum Thema Barockmusik und Tempo hatte ich einst einen Thread erstellt. Da konnte mir keiner irgendeine Quelle nennen, die handfest einen Beleg gibt, in welchem Tempo irgendetwas von Bach von Zeitgenossen aufgeführt wurde.
Es gibt minutengenau festgehaltene Aufführungsdauern - z.B. von Delalande, Händel und Heinichen. Daraus kann man historische Tempi ziemlich genau rekonstruieren.

Es gibt zahlreiche zeitgenössische Traktate über Artikulationsregeln, Verzierungspraxis und Dynamik, auch über Rubato wurde einiges geschrieben. Dummerweise ist manches widersprüchlich, man kommt nicht umhin, eigene Entscheidungen zu treffen. Und selbstverständlich wurden auch früher die Tempi an den jeweiligen Raum, die vorhandenen Instrumente und an das Vermögen der beteiligten Spieler und Sänger angepasst.

Vermutlich haben die Impressionisten und Spätromantiker auch Chopin und Beethoven wesentlich langsamer gespielt, als deren Zeitgenossen. Nach meinem Kenntnisstand verliert sich die Spur aber im 18. Jahrhundert.
Davon würde ich nicht ausgehen. Von Wagners Dirigaten gibt es ebenfalls exakte Aufführungsdauern. Er hat sowohl seine eigenen Werke als auch beispielsweise Beethovens 9. Sinfonie am oberen Ende des Tempobereichs aufgeführt, der heute üblich ist. Und über Mendelssohn hat er sich beklagt, dass der Beethoven zu schnell dirigiert!

Es ist - je nach Werk - eine gewisse Bandbreite an sinnvollen, nicht entstellenden Tempi möglich und das wird auch vor 300 Jahren nicht anders gewesen sein. Ein großer Künstler hat da sicher mehr Spielraum als ein mittelmäßiger, weil er auch in einem sehr schnellen Tempo noch klar artikulieren kann oder ein langsames Tempo durchhalten und ausfüllen kann. Aber wenn sich durch ein ganz falsches Tempo der Grundcharakter eines Satzes komplett ändert, dann ist in meinen Augen eine Grenze überschritten, die man besser nicht überschreiten sollte.
 
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Aber selbst, wenn man jetzt eine Quelle für ein Tempo von Stück xy von Bach hat, weiß man nicht, wie unterschiedlich schnell zu wieviel Gefallen vom Komponisten die Zeitgenossen gespielt haben. Vielleicht
Ich würde auch bestreiten, dass ein Komponist immer am besten weiß, wie seine Werke zu interpretieren sind.
Und sie haben ihre Werke bestimmt nicht im Laufe ihres zuweilen auch langen Lebens immer gleich gespielt.

Kunstwerke haben ihr Eigenleben, der Zugang zu ihnen kann sehr unterschiedlich sein. Gerade das ist ein wesentliches Kennzeichen von Kunstwerken.

Zwei Beispiele:
Beim Marsch am Schluss der 5. Symphonie von Schostakowitsch ist durch einen Druckfehler bei der Metronomzahl in der gedruckten Partitur ungefähr ein doppelt so schnelles Tempo angegeben als eigentlich von Schostakowitsch beabsichtigt. Bei einer Aufführung der Symphonie in Amerika unter Bernstein war Schostakowitsch anwesend. Als Bernstein den Schluss in diesem schnellen Tempo spielte, was den Ausdruck grundlegend veränderte, sagte ein Freund zu Schostakowitsch: das ist viel zu schnell, das musst Du ihm sagen. Schostakowitschs Antwort: Das ist doch gut, lass ihn so spielen.

Der junge Karajan dirigierte eine Strauss-Oper, der alte Strauss war anwesend. Strauss lobte hinterher die Aufführung, Karajan stellte viele Fragen, ob dieses Tempo gut, jener Übergang gelungen war usw. Strauss antwortete: Ich habe das Werk vor über dreißig Jahren komponiert, das ist lange her. Sie haben sich jetzt wochenlang damit beschäftigt, Sie wissen das besser als ich.

Das heißt, wir müssen selbst unseren Zugang finden.
Die Ergebnisse historischer Forschung können hilfreich und interessant sein, objektiv richtig gibt es nicht.
 
Das ist wahr. Aber objektiv falsch gibt es schon.
Ja. Und zwar dann, wenn ein Spielraum nicht mehr eingehalten wird. In diesem Spiel-Raum befinden sich aber auch noch die anderen Parameter, die mitspielen wollen und mitspielen dürfen, ja müssen. Zum Beispiel kann ein objektiv langsames Tempo in einem Tanzsatz subjektiv schneller wirken, wenn mit Betonungen und Artikulation der Charakter von Leichtigkeit veratärkt wird.
 
. Er hat sowohl seine eigenen Werke als auch beispielsweise Beethovens 9. Sinfonie am oberen Ende des Tempobereichs aufgeführt, der heute üblich ist. Und über Mendelssohn hat er sich beklagt, dass der Beethoven zu schnell dirigiert!

Der
Mendelssohn? Ich hätte eher an Strauss, Furtwängler, Debussy etc. gedacht. OK Rachmaninow hat nicht unbedingt langsam gespielt, Ravel, von dem, was ich hörte auch eher normal für heutige Verhältnisse.
Und Wagner ist noch nicht so späte Spätromantik, wie ich meine. Wenn man die Metronomzahlen von Beethoven, Mendelssohn, Chopin, Wagner, Debussy und Furtwängler ansieht, bekomme zumindest ich den Eindruck, dass man im 19. Jahrhundert irgendwann angefangen hat, immer langsamer zu spielen. Denn die Chopinschen Metronomzahlen sind auch nicht niedrig.
Es gibt minutengenau festgehaltene Aufführungsdauern - z.B. von Delalande, Händel und Heinichen.

Quelle? Zahlen für Beispiele? Interessiert mich wirklich. Auch für Bach vorhanden? Gerade im Barock halte ich die regionalen Unterschiede für sehr bedeutend, wenn auch im Spätbarock vielleicht nicht mehr ganz so wie im 17. Jahrhundert.


Es ist - je nach Werk - eine gewisse Bandbreite an sinnvollen, nicht entstellenden Tempi möglich und das wird auch vor 300 Jahren nicht anders gewesen sein. Ein großer Künstler hat da sicher mehr Spielraum als ein mittelmäßiger, weil er auch in einem sehr schnellen Tempo noch klar artikulieren kann oder ein langsames Tempo durchhalten und ausfüllen kann. Aber wenn sich durch ein ganz falsches Tempo der Grundcharakter eines Satzes komplett ändert, dann ist in meinen Augen eine Grenze überschritten, die man besser nicht überschreiten sollte.
100% Zustimmung. Aber wann etwas entstellt ist oder als solches wahrgenommen wird, ist auch wieder subjektiv und ändert sich mit der Zeit. Wahrscheinlich haben weniger Leute vor 90 Jahren die postromantischen Furtwänglerschen Bachinterpretationen als entstellt wahrgenommen als heute.
 
Wenn man die Metronomzahlen von Beethoven, Mendelssohn, Chopin, Wagner, Debussy und Furtwängler ansieht, bekomme zumindest ich den Eindruck, dass man im 19. Jahrhundert irgendwann angefangen hat, immer langsamer zu spielen.
Irgendwer hat allerdings vergessen, Schnabel, Feinberg, Toscanini etc. über diese bahnbrechende Entwicklung zu informieren. Die Volltrottel haben einfach weiter schnell gespielt...
 

Dass alle das getan haben, habe ich auch nicht behauptet.
Als positiv habe ich das im Übrigen nirgends bezeichnet. Sicher ist, dass es diese niedrigen Tempi Anfang des 20. Jahrhunderts mehr gab als heute. Und dass du noch immer keine Quelle genannt hast (deren Existenz ich nicht abstreite, von deren Stichhaltigkeit und Gültigkeitsbereich ich mich aber gerne selbst überzeugen würde).
 
dass du noch immer keine Quelle genannt hast
Bei Händel gibt es entsprechende Vermerke in der handgeschriebenen Partitur zu Judas Maccabaeus (und auch in weiteren Oratorien; ich bin leider zu faul, das jetzt im Einzelnen herauszusuchen).

Delalande hat genaue Aufführungsdauern zu einzelnen Sätzen seiner geistlichen Motetten festgehalten - u.a. für sein berühmtestes Werk, das Te Deum.

Eine ganz ordentliche Zusammenfassung zu Heinichens Temposystem findest du hier. Die Originalquellen sind darin aufgeführt.
 
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Wenn man die Metronomzahlen von Beethoven, Mendelssohn, Chopin, Wagner, Debussy und Furtwängler ansieht, bekomme zumindest ich den Eindruck, dass man im 19. Jahrhundert irgendwann angefangen hat, immer langsamer zu spielen.
Beethovens wenige Metronomangaben weisen sehr scharfe Tempi auf (op.106)
("früher" spielte man die Hammerklaviersonate insgesamt zügiger als heute, wie im Netz leicht findbare Messungen belegen (waren auch mal vor Jahren in irgendeinem Faden hier verlinkt))
Mendelssohn als Dirigent neigte angeblich zu sehr raschen Tempi, soll sich später aber gezügelt haben
(in seinen Kompositionen gibt es durchaus einiges, was ziemlich gegeben, was irrtümlich Wehmeier & Co dazu veranlasst hatte, man müsse Chopins z.B. Halbe = 80 als Halbe gleich 40 verstehen (was Schwachsinn ist)
Wagner hat wenige Metronomzahlen eingesetzt, die wenigen, die er für allegro vorgibt, sind sehr fordernd im Tempo (Tannhäuser) und aus seinen Briefen an Liszt weiß man, dass er gerne auch noch raschere Tempi für schnelle Sätze/Abschnitte gewählt hatte.
bei Debussy bin ich überfragt: hat der irgendwo Metronomangaben vorgegeben?

insgesamt kann man nicht davon ausgehen, dass die "Romantiker" ihre Sachen langsamer als heute gespielt hätten, das geben die Quellen nicht her (die alle aufzulisten, wäre eine schöne Aufgabe für zuarbeitende Assistenten)
(im Zusammenhang mit Wehmeier/Talsma ist das alles hier schon mal ausführlich bekakelt worden)

Bzgl. der Interpretationen auf Tonträgern (seit dem Ende des 19. Jhs) kann man ebenfalls nicht davon ausgehen, dass man früher langsamer gewesen wäre, weder bzgl. Sinfonie und Oper noch bzgl virtuoser Sololiteratur. Dass vereinzelt auch überraschend langsame Interpretationen abweichend auftauchen, war damals wie heute so (Barenboim spielt halt die Chopinfantasie bei weitem nicht so flink wie andere vor ihm oder jetzt)
 
"Warum spielst du das so schnell???"

"Weil ich es kann...":super:
 
Bzgl. der Interpretationen auf Tonträgern (seit dem Ende des 19. Jhs) kann man ebenfalls nicht davon ausgehen, dass man früher langsamer gewesen wäre
Die hatten ja auch nicht so viel Platz auf der Schellackplatte.
(Noch in meiner Jugend war es nicht möglich eine Bruckner-, oder Mahlersymphonie am Stück auf Vinyl zu hören.)
 
Bei Händel gibt es entsprechende Vermerke in der handgeschriebenen Partitur zu Judas Maccabaeus (und auch in weiteren Oratorien; ich bin leider zu faul, das jetzt im Einzelnen herauszusuchen).

Delalande hat genaue Aufführungsdauern zu einzelnen Sätzen seiner geistlichen Motetten festgehalten - u.a. für sein berühmtestes Werk, das Te Deum.

Eine ganz ordentliche Zusammenfassung zu Heinichens Temposystem findest du hier. Die Originalquellen sind darin aufgeführt.

Das ist sehr schade, dass Du zu faul bist...Ganz im Ernst, ich fände das hochinteressant, ist mir jetzt auch völlig neu, aber sehr spannend. Vielleicht hast Du ja doch irgendwann Zeit.
 
Was ein Komponist schreibt, ob sich das auf Tonhöhen, Notenwerte oder Tempoangaben bezieht, ist für die Bewertung einer Interpretation sehr wohl relevant.



Die Angabe "adagio assai" bei "O Mensch, bewein dein Sünde groß" impliziert allerdings ein deutlich langsameres Tempo als die Angabe "affettuoso".
Also dazu gibt es ein Buch: Bach - wie schnell? von Sonnleitner/von Gleich. Da sind sehr lesenswerte Überlegungen zu Taktarten und Bewegungsmustern zu finden. Sehr detailliert, man braucht etwas Geduld. Die Tempi auf der beiliegenden CD fallen dann insgesamt recht gemütlich aus.
 
Beethovens wenige Metronomangaben weisen sehr scharfe Tempi auf (op.106)
("früher" spielte man die Hammerklaviersonate insgesamt zügiger als heute, wie im Netz leicht findbare Messungen belegen (waren auch mal vor Jahren in irgendeinem Faden hier verlinkt))

Bezüglich Beethovens Metronomangaben gibt es jetzt seit wenigen Tagen eine neue Theorie spanischer Mathematiker:


Sprich, Beethoven konnte damals angeblich sein Metronom einfach nicht richtig ablesen. Ob das mal wirklich stimmt.. :-)
 

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