Diskussion über Sinn der historischen Aufführungspraxis

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Mod: Bezog sich ursprünglich auf den Beitrag https://www.clavio.de/threads/die-besten-bach-interpreten.27156/post-786266. Zwecks besserer Übersichtlichkeit wurde ein eigener Faden erstellt.

Es ist weit mehr, als nur ein Zeitdokument.
Und auch unsere Spielen, wird irgendwann eim Zeitdokument sein und einigen als völlig unverständlich erscheinen.
Jede Darstellung von Musik erscheint im Gewand ihrer Zeit, man muss erkennen, was dahinter steht.
 
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Es erscheinen (!) mir aber Furtwängler-Tempo und -Phrasierung objektiv verfehlt zu sein. Ich musste nach 3 Minuten abstellen, grauenhaft.
 
Es ist weit mehr, als nur ein Zeitdokument.
Wenn man das darin sehen will, vielleicht. Muss man aber nicht.

Jede Darstellung von Musik erscheint im Gewand ihrer Zeit, man muss erkennen, was dahinter steht.
Das ist schon klar. Aber die Furtwängler-Aufnahme ist Musik des 18. Jahrhunderts, betrachtet durch die Brille des 19. Jahrhunderts. Das muss mir nicht gefallen - auch dann nicht, wenn es auf seine Weise sehr gut gemacht ist.
 
Und wir sehen die Musik des 18. oder 19. usw. Jahrhunderts durch die Brille des 21.
Die Vergangenheit ist immer ein Produkt der Gegenwart.
 
Zuletzt bearbeitet:
Und wir sehen die Musik des 18. oder 19. usw. Jahrhunderts durch die Brille des 21.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert wurden allerdings eine Menge historischer Quellen erschlossen, die uns die barocke Musikpraxis sehr viel näher gebracht haben. Auch, wenn wir nicht wissen, wie es damals tatsächlich geklungen hat, sind wir heute sicher sehr viel näher am Original als die Musiker im frühen 20. Jahrhundert.
 
Wie stark haben sich die Aufführungen in der historisch informierten bzw. "Originalklang"-Praxis in den letzten Jahrzehnten verändert und sind auch heute untereinander sehr verschieden. Was übrigens nicht gegen sondern für sie spricht.
Und auch das Quellenstudium ist immer Deutung aus unserer Sicht, oft von Quellen, die sich gegenseitig widersprechen, lückenhaft und zufällig sind. Die Vergangenheit lässt sich nicht wiederherstellen, jede Epoche muss ihren eigenen Zugang finden.
Wir können nicht besser Bach spielen als Furtwängler oder Fischer oder Straube usw., nur anders.
 
Wir können nicht besser Bach spielen als Furtwängler oder Fischer oder Straube usw., nur anders.
Nach heutigem Stand der Forschung ist vieles bei Furtwängler objektiv falsch (z.B. das absurd langsame Tempo des 2. Satzes). Man kann ihm gar keinen Vorwurf daraus machen - er konnte es damals noch nicht besser wissen. Aber heute können und müssen wir es besser machen.
 
Es erscheinen (!) mir aber Furtwängler-Tempo und -Phrasierung objektiv verfehlt zu sein. Ich musste nach 3 Minuten abstellen, grauenhaft.
Naja, das ist eine Aufnahme von Ende 1940, also schon über 15 Monate im 2. Weltkrieg.
Ich habe noch eine LP mit Beethovens 5. Sinfonie unter Toscanini von 1944? und eine andere mit Hanns Ander-Donath an der großen Silbermann-Orgel der Frauenkirche in Dresden u.a. mit BWV 540 ebenfalls von 1944.
Ich bin sicher, daß die äußeren Zeitumstände die Interpretationen hörbar! beeinflusst haben.

Wir können nicht besser Bach spielen als Furtwängler oder Fischer oder Straube usw., nur anders.
Kein Organist würde z. B. an der Woehl-Orgel der Thomas-Kirche nach Straubes Bach-Ausgabe spielen.
Mein KKL/KCL/KOL ist über Ramin und Kästner Enkelschüler von Karl Straube. Als dieser Bachs Orgelwerke herausgegeben hat, gab es in vielen bedeutenden Kirchen große romantische, oft pneumatische Orgeln, z. B. von Sauer in der Thomas-Kirche oder Ladegast in Merseburg, hervorragend geeignet für Liszt, Reger und Co.
Bach auf diesen Instrumenten nach alter oder moderner Spielweise (Tempo, Phrasierung, Registrierung) ergibt einen fürchterlichen Klangbrei.
Nicht aber nach der Straube-Ausgabe:

 
Nach heutigem Stand der Forschung ist vieles bei Furtwängler objektiv falsch (z.B. das absurd langsame Tempo des 2. Satzes). Man kann ihm gar keinen Vorwurf daraus machen - er konnte es damals noch nicht besser wissen. Aber heute können und müssen wir es besser machen.

Welche Werke anderer Komponisten würden eine solche Behandlung einigermaßen überstehen?
 
Nach heutigem Stand der Forschung ist vieles bei Furtwängler objektiv falsch (z.B. das absurd langsame Tempo des 2. Satzes). Man kann ihm gar keinen Vorwurf daraus machen - er konnte es damals noch nicht besser wissen. Aber heute können und müssen wir es besser machen.
Mit objektiv falsch wäre ich vorsichtig.
Und selbst wenn wir eine CD von Bach persönlich hätten und also ungefähr hören könnten, wie er ein Stück gespielt hat, müssten wir unseren eigenen Zugang und Weg finden und nicht nur versuchen, ihn zu imitieren.
Das "absurd" langsame Tempo finde ich im übrigen weniger willkürlich als so manches grotesk schnelle, das man heute oft gerade bei Bach in historisch vorgeblich korrekter Spielweise hört, egal wie dicht der harmonische Satz ist und wieviele Harmoniewechsel pro Takt sind.
 

Mit objektiv falsch wäre ich vorsichtig.
Das "absurd" langsame Tempo finde ich im übrigen weniger willkürlich
Dann würde mich interessieren, aufgrund welcher Quellen du zu dieser Erkenntnis kommst.

Nach den Quellen und Studien, die mir vorliegen, ist das langsamste Tempo im barocken 4/4 ungefähr mit dem halben Tempo ordinario anzunehmen - das wäre ein Adagio. Bach schreibt aber Affettuoso (ok, über die pausierenden Ripieno-Stimmen schrieb er Adagio, aber da hatte er den Satz vermutlich noch nicht komponiert). Zudem berichteten Zeitzeugen, dass Bach zu auffallend schnellen Tempi neigte.o Sein Tempo ordinario dürfte mindestens bei 𝅘𝅥 = 80 gelegen haben. Daraus ergibt sich aber, dass der Affettuoso-Satz auf keinen Fall langsamer als etwa 𝅘𝅥 = 40 gemeint sein konnte, eher schneller.

Furtwängler liegt ungefähr bei 𝅘𝅥 = 22. Das ist, nach allem was man heute weiß, absurd. Ganz ohne Anführungszeichen.
 
Zuletzt bearbeitet:
Dann würde mich interessieren, aufgrund welcher Quellen du zu dieser Erkenntnis kommst.

Nach den Quellen und Studien, die mir vorliegen, ist das langsamste Tempo im barocken 4/4 ungefähr mit dem halben Tempo ordinario anzunehmen - das wäre ein Adagio. Bach schreibt aber Affettuoso (ok, über die pausierenden Ripieno-Stimmen schrieb er Adagio, aber da hatte er den Satz vermutlich noch nicht komponiert). Zudem berichteten Zeitzeugen, dass Bach zu auffallend schnellen Tempi neigte.o Sein Tempo ordinario dürfte mindestens bei 𝅘𝅥 = 80 gelegen haben. Daraus ergibt sich aber, dass der Affettuoso-Satz auf keinen Fall langsamer als etwa 𝅘𝅥 = 40 gemeint sein konnte, eher schneller.

Furtwängler liegt ungefähr bei 𝅘𝅥 = 22. Das ist, nach allem was man heute weiß, absurd. Ganz ohne Anführungszeichen.
Wir argumentieren auf völlig verschiedenen Ebenen.
Für die Bewertung der Interpretation Furtwänglers ist es völlig irrelevant, ob Bach in diesem Tempo gespielt hat oder nicht.
Seine Tempi sind innerhalb seines Ansatzes sinnvoll und führen zu musikalisch sinnvollen und eindrucksvollen Lösungen, und natürlich spiegeln sich die Zeitumstände darin wider, sonst wäre es ja totes Musizieren.
Das Musizieren von Musik, die lange vor unserer Zeit geschrieben wurden, heißt den Gegenwartssinn darin finden, und nicht die museale Rekonstruktion von Klangbildern, so interessant und hilfreich für das Verständnis die Beschäftigung mit den Gewohnheiten früherer Epochen auch sein mag.

Ich wäre übrigens sehr vorsichtig mit Aussagen wie Bachs Tempo ordinario liege bei 80 oder irgendeinem anderen Wert.
Da sind zuviel Vermutung bzw. Analogieschlüsse.
Im Nekrolog heißt es: "Im Dirigieren war er sehr akkurat, und im Zeitmaße, welches er gemeiniglich sehr lebhaft nahm, überaus sicher".
Bach konnte sicher sehr virtuos Orgel und Cembalo spielen, dabei bei virtuosen Passagen (gerade von seinem Pedalspiel ist das überliefert) schneller, sicherer und freier, aber vor allem auch runder und schöner als die meisten seiner Zeitgenossen spielen. Aber daraus zu schließen, er habe alle Stücke, gleich ob schnelle oder langsame Sätze, ob lyrische oder dramatische Sätze usw. grundsätzlich in einem für die jeweilige Tempovorschrift eher schnellen Tempo genommen, halte ich für sehr kühn.
Außerdem wissen wir, was mit "sehr lebhaft" gemeint ist? Ist das nur ein messbar schneller Pulsschlag? Wirkt nicht oft bei einem Spieler durch entsprechende Darstellung ein etwas langsameres Tempo lebhafter und wilder als das metronomisch schnellere eines anderen?
Es gibt übrigens auch Stücke, die im 4/4 Takt notiert sind, deren Puls eindeutig in Achtel geht (z. b. die kolorierten Choralbearbeitungen aus dem Orgelbüchlein), die sind mit Viertel gleich 40 sinnvoll nicht darstellbar.
 
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Wir argumentieren auf völlig verschiedenen Ebenen.
Für die Bewertung der Interpretation Furtwänglers ist es völlig irrelevant, ob Bach in diesem Tempo gespielt hat oder nicht.
Was ein Komponist schreibt, ob sich das auf Tonhöhen, Notenwerte oder Tempoangaben bezieht, ist für die Bewertung einer Interpretation sehr wohl relevant.

Es gibt übrigens auch Stücke, die im 4/4 Takt notiert sind, deren Puls eindeutig in Achtel geht (z. b. die kolorierten Choralbearbeitungen aus dem Orgelbüchlein), die sind mit Viertel gleich 40 sinnvoll nicht darstellbar.

Die Angabe "adagio assai" bei "O Mensch, bewein dein Sünde groß" impliziert allerdings ein deutlich langsameres Tempo als die Angabe "affettuoso".
 
Eine historisch informierte Aufführungspraxis speist ihre Legitimation aus dreierlei: erstens aus Zeitzeugnissen, die durch überlieferte Texte belegt sind, zweitens aus der Interpretation dieser Zeitzeugnisse aus der Sicht der Lesenden und drittens aus Spekulation. Da wir bekanntlich über keinerlei Tondokumente verfügen, bleibt uns letztlich nur der Weg der Überlegung, ob etwas stimmig wirkt oder nicht. Dies ist immer vom Einzelfall abhängig - pauschale Aussagen zu treffen ist nicht möglich. Eine bekannte Bach-Kennerin hat gesagt: „Bach hält viel aus.“ (ohne damit in irgendeiner Weise Willkür zu legitimieren) Ich vermute, Bach wusste das.
 
Eine historisch informierte Aufführungspraxis speist ihre Legitimation aus dreierlei: erstens aus Zeitzeugnissen, die durch überlieferte Texte belegt sind
Richtig
zweitens aus der Interpretation dieser Zeitzeugnisse aus der Sicht der Lesenden
Auch richtig. Die Zeugnisse sind nämlich nicht immer ganz eindeutig und widersprechen sich manchmal sogar.

Quatsch.

Vergessen hast Du die Kenntnis der damaligen Instrumente und ihrer klanglichen und technischen Möglichkeiten.

Und schließlich müssen die Praktizierenden auch spielen können...
 
@Pedall Mit Spekulation meinte ich z.B. die Diskussion über Tempofragen, wie sie etwa in Beitrag Nr. 56 geführt wird. Alles legitim, aber eben spekulativ, wenn auch mit dem Ziel, valide Argumentationsgrundlagen zu schaffen.
 
Es gibt übrigens auch Stücke, die im 4/4 Takt notiert sind, deren Puls eindeutig in Achtel geht (z. b. die kolorierten Choralbearbeitungen aus dem Orgelbüchlein), die sind mit Viertel gleich 40 sinnvoll nicht darstellbar.
Ausnahmen bestätigen die Regel. Möglicherweise hätte Bach bei einem freien Satz dieses Charakters eine andere Taktvorzeichnung gewählt - das konnte er aber nicht, weil der Takt nunmal durch den Choral vorgegeben ist. Die ungewöhnliche und seltene Tempoangabe Adagio assai könnte ein Indiz dafür sein, zumal auch das harmonische Tempo hier meist in Achteln voranschreitet - das findet man auch nicht oft. Im ebenfalls kolorierten BWV 659 geht das harmonische Tempo in Vierteln - da braucht Bach keine Tempobezeichnung, weil jedem Spieler klar war, dass es sich hier um ein reguläres Adagio handelt.

Kennst du einen nicht choralgebundenen Satz, der mit "O Mensch, bewein dein Sünde groß" in irgendeiner Weise vergleichbar wäre? Mir fällt keiner ein, in Bachs Unterhaltungsmusik schon zweimal nicht.
 
gibt übrigens auch Stücke, die im 4/4 Takt notiert sind, deren Puls eindeutig in Achtel geht
In einer ganzen Reihe von Fugen im 4-Vierteltakt beginnt das Thema mal am Taktanfang oft aber auch in der Taktmitte. Das lässt sich dann meist auch durchaus befriedigend auf Achtel empfinden. Also 2 Mal 4 Achteltakt!
Eine Akzentverschiebung in Anpassung an den 4/4 Takt erscheint mir hier unnatürlich
 

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