Dann würde mich interessieren, aufgrund welcher Quellen du zu dieser Erkenntnis kommst.
Nach den Quellen und Studien, die mir vorliegen, ist das langsamste Tempo im barocken 4/4 ungefähr mit dem halben Tempo ordinario anzunehmen - das wäre ein Adagio. Bach schreibt aber Affettuoso (ok, über die pausierenden Ripieno-Stimmen schrieb er Adagio, aber da hatte er den Satz vermutlich noch nicht komponiert). Zudem berichteten Zeitzeugen, dass Bach zu auffallend schnellen Tempi neigte.o Sein Tempo ordinario dürfte mindestens bei 𝅘𝅥 = 80 gelegen haben. Daraus ergibt sich aber, dass der Affettuoso-Satz auf keinen Fall langsamer als etwa 𝅘𝅥 = 40 gemeint sein konnte, eher schneller.
Furtwängler liegt ungefähr bei 𝅘𝅥 = 22. Das ist, nach allem was man heute weiß, absurd. Ganz ohne Anführungszeichen.
Wir argumentieren auf völlig verschiedenen Ebenen.
Für die Bewertung der Interpretation Furtwänglers ist es völlig irrelevant, ob Bach in diesem Tempo gespielt hat oder nicht.
Seine Tempi sind innerhalb seines Ansatzes sinnvoll und führen zu musikalisch sinnvollen und eindrucksvollen Lösungen, und natürlich spiegeln sich die Zeitumstände darin wider, sonst wäre es ja totes Musizieren.
Das Musizieren von Musik, die lange vor unserer Zeit geschrieben wurden, heißt den Gegenwartssinn darin finden, und nicht die museale Rekonstruktion von Klangbildern, so interessant und hilfreich für das Verständnis die Beschäftigung mit den Gewohnheiten früherer Epochen auch sein mag.
Ich wäre übrigens sehr vorsichtig mit Aussagen wie Bachs Tempo ordinario liege bei 80 oder irgendeinem anderen Wert.
Da sind zuviel Vermutung bzw. Analogieschlüsse.
Im Nekrolog heißt es: "Im Dirigieren war er sehr akkurat, und im Zeitmaße, welches er gemeiniglich sehr lebhaft nahm, überaus sicher".
Bach konnte sicher sehr virtuos Orgel und Cembalo spielen, dabei bei virtuosen Passagen (gerade von seinem Pedalspiel ist das überliefert) schneller, sicherer und freier, aber vor allem auch runder und schöner als die meisten seiner Zeitgenossen spielen. Aber daraus zu schließen, er habe alle Stücke, gleich ob schnelle oder langsame Sätze, ob lyrische oder dramatische Sätze usw. grundsätzlich in einem für die jeweilige Tempovorschrift eher schnellen Tempo genommen, halte ich für sehr kühn.
Außerdem wissen wir, was mit "sehr lebhaft" gemeint ist? Ist das nur ein messbar schneller Pulsschlag? Wirkt nicht oft bei einem Spieler durch entsprechende Darstellung ein etwas langsameres Tempo lebhafter und wilder als das metronomisch schnellere eines anderen?
Es gibt übrigens auch Stücke, die im 4/4 Takt notiert sind, deren Puls eindeutig in Achtel geht (z. b. die kolorierten Choralbearbeitungen aus dem Orgelbüchlein), die sind mit Viertel gleich 40 sinnvoll nicht darstellbar.