Ich denke nur, das unsere Vorstellung wie ein Stück zu spielen sei, meilenweit von der des 19. Jahrhunderts entfernt ist. Als einziges Indiz kann ich die wenigen Aufnahmen Cortots, Busonis und ähnlicher im vorletzten Jh. geborenen Pianisten anführen. Wie schon gesagt, es geht nicht um eine Bewertung der Interpretationen, aber sie weichen teilweise drastisch von unserem Verständnis des Gespielten ab.
Du beurteilst die Spielweise, und dies soll keine Bewertung der Interpretation sein? Irgendwie riecht dein Beitrag nach Kritisieren aber nicht dafür gerade stehen wollen.
Ach, hat es bei Cortot-Aufnahmen einige falsche Noten? Finde ich nicht erstaunlich, denn damals hatte man aus technischen Gründen nur einen oder ganz wenige Versuche zum Aufnehmen, zudem mussten ganze Reihen von Werken an wenigen Tagen eingespielt werden. Meine Klangvorstellung der Klaviermusik Chopins entspricht ziemlich genau dem einmaligen Klang Cortots. Lieber einige falsche Noten und dafür ein hundertmal inspirierteres Klavierspiel. Weiter sollte es eigentlich klar sein, dass die heute existierenden Aufnahmen von Busoni keinesfalls dem entsprechen, wie es damals klang. Denn die noch vorhandenen Tonträger entsprechen aus technischen Gründen nicht mehr dem, was die Busoni-Schüler über das Spiel ihres Lehrers erzählten und was er selber schrieb.
Wie intensiv sich Cortot und Busoni mit der Klaviermusik auseinandergesetzt haben, zeigt sich in ihren Studienausgaben, die ein wahrer Schatz sind, wenn man sie richtig anzuwenden weiss. (D.h. nicht einfach alles spielen, wie es darin steht, sondern verstehen, aus welchen musikalischen oder technischen Gründen es Busoni resp. Cortot so notiert hat.) Da findei ich es stossend, wie heute besserwisserisch über sie hinweggerichtet wird. Bemerkenswert, dass musikalische Nachfahren weniger Generationen von Busoni oder Cortot heute noch super beim Publikum ankommen, obwohl ihr Spiel nicht dem heutigen Verständnis entsprechen soll.
Ich weiss, heutzutage sollen Bach, Mozart, Beethoven, Chopin und Debussy die gleiche Klangfarbe haben, das ist "unser Verständnis", wie du es nennst.
Tatsache ist, dass Busoni oder Cortot nur wenige Generationen nach den Komponisten gelebt haben und deshalb sehr nahe zu ihrer Musik standen und diese ziemlich authentisch spielen konnten, genauso wie z.B. die Liszt-Schüler wussten, wie sich ihr Lehrer seine Stücke vorstellte.
Apropos Liszt: Obwohl du betonst, dass man Liszt's Interpretationen nicht beurteilen kann, da keine Tonträger vorhanden sind, scheinst du zu wissen, dass man heute seine Paraphrasen eleganter spielt.
Zum Klavierspielen gehört nicht nur Wunderkind-Technik, sondern v.a. Musikalität. Dafür ist es nicht wichtig, ob man nun mit 6 Jahren wie Liszt oder mit 1.5 Jahren zu spielen beginnt.
Zum Vergleich mit Lang Lang: wird man von ihm noch in 150 Jahren reden? Wohl kaum. Aber Liszt ist heute noch als Komponist wie als Pianist ein Begriff. Alleine die grosse Zahl an bedeutenden Schülern zeigt, dass er ein vorzüglicher Pianist gewesen sein MUSS. Wer sagt, das sei Legende, der verkennt die ganze Pianistentradition über ein Jahrhundert hinweg.
Ich bin der Meinung, dass man Pianisten von vor 150 Jahren nur schwer mit solchen von heute vergleichen kann, man müsste beide live hören können, was ja nicht möglich ist. Ich wehre mich aber wehement dagegen, wie hier über die ganz Grossen der Pianistik geredet wird.
Als Erinnerung: aus der Liszt-Schule stammen Pianisten wie Bülow, Arthur Rubinstein, Kempf, Edwin Fischer, Arrau, Albeniz, von Sauer, Rosenthal, Stefan Ashkenazy oder Backhaus. Zumindet ich verstehe Klaviermusik zu einem grossen Teil so, wie sie von diesen Leuten interpretiert wird, und da bin ich sicher nicht der einzige, im Gegenteil: Viele Aufnahmen von ihnen gelten als Referenz. Und da soll das Klavierspiel von Franz Liszt nicht unserem Geschmack, unserer Vorstellung entsprechen???