Jeremias, ehrlich gesagt überraschst du mich mit dieser Frage. Für mich sollte die eher lauten: Was für Gründe gibt es, nicht aus einer Urtextausgabe zu spielen, also einer Ausgabe, die sich wenigstens bemüht, möglichst originalen und beabsichtigten Text abzudrucken.
Für mich ist es eine Frage von Respekt gegenüber dem Komponisten, dem Stück und mir selbst (bzw. der Arbeit, die ich leiste), dass ich nicht irgendwie spiele, und auch dass ich eben nicht irgendwas spiele.
Das wird dann wichtig, wenn man die Zeit und Gedanken hat (oder sich nimmt), nicht nur die richtigen Töne zu spielen und das Stück auf einen Ablauf schöner Aneinanderreihung von rhythmisierten Noten zu reduzieren, sondern versucht, wirklich tief einzutauchen, Absicht, Wirkung und Botschaft zu verstehen.
Vermeinliche Kleinigkeiten, die man überliest oder die von Verlagen gerne mal verändert werden, können dann eine große Wirkung auf den Gestus und Charakter des Stückes, die Interpretation und damit den Eindruck haben, den ein Vorspiel hervorruft.
Bestes Beispiel sind Bögen. Bögen kennzeichnen Phrasierung und Sinnzusammengehörigkeit, und unverschiedliche Phrasierung kann ganz unterschiedliche, sehr deutlich hörbare Ergebnisse produzieren.
Stell dir einfach vor, du würdest ein Stück komponieren, jemand würde darin herumkritzeln und es dann veröffentlichen. Wäre dir das egal? Vermutlich nicht, aber Bach und Chopin können sich halt nicht mehr wehren...
Anders verhält es sich natürlich mit Ausgaben, die extra als bearbeitet und mit Hinweisen versehen herausgegeben werden, um eine Interpretation vorzuschlagen (z.B. von Cortot). Wenn man die verwendet, ist man sich dessen aber hoffentlich bewusst und zieht trotzdem noch einen Originaltext hinzu.