Zugänge zur Musik

Ich habe als Kind/Jugendlicher Klavierunterricht gehabt und bis ich mit dem Unterricht aufgehört habe (da war ich 19), auch nicht ernsthaft verstanden was ich spiele und warum. Höchstens in groben Grundzügen. Zu dieser Zeit war ich mit meinem Können bei so Stücken wie der Ravel-Sonatine angelangt und habe mit besagter Sonatine auch einen städtischen Musikpreis abgeräumt ohne auch nur eine Ahnung zu haben, was einen Quartsextakkord von einem Sextakkord unterscheidet (und was das überhaupt ist). Von der Musikausbildung her bin ich also der "erste Fall" deiner Beschreibung, auch wenn ich nicht mit einer einseitigen Liste an Wettbewerben aufwarten kann.

Parallel zu dieser Phase, also bis ich 19 war, war ich Mitglied in einem Chor und habe dadurch natürlich auch viel über Musik gelernt. Wenn man durchgehend Klavier spielt und in einem Chor auch jahrelang mal (fast) jede Stimmlage gesungen hat, erschließt sich einem viel Grundstruktur und Harmonik des vierstimmigen Satzes von selbst, genauso wie Kadenzen etc.
Außerdem hab ich mit Eigenkompositionen (nicht veröffentlichungswürdig) herumexperimentiert und immer viel vom Blatt gespielt. Klavierstücke und Chorsätze. Dadurch hab ich mir wohl selbst ein Grundverständnis angeeignet, konnte aber musiktheoretisch nichts benennen und wusste auch nicht, wie viel ich überhaupt verstanden hatte (bzw. ob überhaupt etwas). Das ging bei meinen Kompositionsversuchen alles irgendwie nach dem Motto: Herumexperimentieren, danach Anhören und schauen ob es richtig oder falsch klingt. Und wenn es falsch klingt, so lange weiter experimentieren, bis es richtig genug klingt.

Mit 20 Jahren bin ich ins Studium, hatte "keine Zeit" mehr für Unterricht und bin kaum mehr zum Üben ans Klavier gekommen. Damals hab ich dann eben Ersatzbeschäftigung gebraucht, und so hat es sich eben ergeben, dass ich mich selbst seither musiktheoretisch fortgebildet habe. Komplett autodidaktisch, teils mit Hilfe von Clavio, wo ich zu der Zeit auch eingetreten bin. Das war eben so ein bisschen der Klavierunterrichtsersatz für mich - ich hab nämlich sehr schnell gemerkt, dass ich als Autodidakt nur dann vorwärts komme, wenn ich selbst auch genau verstehe, was da in den Noten drinsteckt - und damit meine ich nicht die Tonhöhen und den Rhythmus, sondern ebensolche Dinge wie Harmonie und ihre Fortschreitungen, Melodik, Form, Kontrapunkt etc.
Seither bin ich also wohl eher der "zweite Fall", den du beschreibst, also Amateur mit dem unbedingten Willen zu verstehen was ich tue.

Habe als Teenager auch viele im Chor gesungen, aber fast sämtliche Musiktheorie, die ich lernte und für die ich mich auch von Anfang an interessierte, musste ich anhand von Schulunterricht, Instrumentalunterricht und vor allem der Lektüre der dabei angewendeten Fachbücher mit Schwerpunkt Harmonielehre lernen. Intuitiv erschloss sich mir die Theorie nicht, auch wenn ich intuitiv Zugang zu Rhythmus und Klangfarben hatte. Allerdings hörte ich bis etwa zum 14. Lebensjahr nur einfache Musik aus den Bereichen Rock und Pop. Klassik und Jazz kamen dann erst dazu, so dass da hinsichtlich des Verständnisses noch nichts vorhanden sein könnte.

Die oben erwähnten Begriffe Sextakkord und Quartsextakkord kannte ich aus dem Schulunterricht (ca. 6. oder 7. Schuljahr) und würde vermuten, dass viele andere das auch mal gelernt haben wie auch Notenlesen.
 
Was mir beispielsweise in Musiktheorie-Aufnahmeprüfungen an Musikhochschulen immer wieder auffällt ..., ist, dass haufenweise junge Leute kommen, die ... nicht in der Lage sind, Sext- und Quartsextakkorde zu unterscheiden.
Mir fällt immer wieder auf, was für ein Kram da abgefragt wird. Musiktheorie wird leider immer wieder als lästiges Pflichtfach präsentiert und nicht etwa als Werkzeug, das man kreativ nutzen kann. Und obwohl ich mich schwer dafür interessiere, kann ich diese Verweigerungshaltung schon fast verstehen. Viele glauben einfach, das hätte nichts mit praktischer Musik zu tun. Ich bin hier Gasthörer im Schulmusikstudiengang und fall immer wieder vom Glauben ab, wie gering da oft die Kenntnisse sind. Gerade zukünftige Lehrer... Die haben ja nicht die Aufgabe, ihren Schülern am Klavier irgendwelche akrobatischen Kunststücke um die Ohren zu hauen. Und was müssen die in Harmonielehre machen? Sie schreiben nutzlose Funktionszeichen unter nutzlose Akkordverbindungen, die nichtmal richtige Musik sind. Was soll das? In richtiger Musik hingegen finden sie die Zusammenhänge dann nicht mehr wieder. Solche Frage, wie in meinem facile-Faden werden da nicht erörtert. Das würde "den Unterricht aufhalten..." (hüstel)
 
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Ich denke, ich bin ein recht ungewöhnlicher Fall was die Musiktheorie angeht, darum ein kurzer Bericht von mir:

Musik habe ich schon immer gemacht, begonnen mit vier Jahren im Kinderchor. Von da bis Anfang 20 habe ich durchgehend in immer mindestens einem Chor gesungen, von Kindermusicals über H-moll-Messe und Reger-Motetten. Dabei habe ich sicher nebenbei vieles intuitiv aufgesogen, obwohl ich immer oberster Sopran war und bin.
Im Klavierunterricht habe ich nach meiner Erinnerung bis zum Studium kein Sterbenswort über Musiktheorie gehört. Mit 16 habe ich einen Vorbereitungskurs für Aufnahmeprüfung gemacht (in weiser Voraussicht) und musste erstmal den Quintenzirkel lernen, ungelogen. Das kam zwar in der Schule schon vor, ich wusste schon, dass es das gibt. Es hat mich aber nie interessiert und darum konnte ich ihn nicht auswendig, kannte nur ein paar Merksprüche etc.

Gehört habe ich schon immer gut. Ich habe z.B. nie Intervalle hören geübt und auch sonst keine Gehörbildung. Als Jugendliche hat mein Vater (auch Musiker) hin und wieder mir etwas am Klavier gezeigt, z.B. dass ich I IV V I in allen Umkehrungen und Tonarten spielen kann, Sext- und Quartsextakkorde hören und ähnlich einfache Dinge. Das konnte ich zwar, aber der echte, unmittelbare Bezug zur Musik war mir sehr lange nicht klar. Ein Verständnis für Musiktheorie, Zusammenhänge etc. kam erst langsam während des Studiums, wo ich schon anspruchsvolle Stücke spielen konnte.

Mir war die Theorie deshalb egal, weil ich nicht wusste, inwiefern sie mein Musikverständnis verändern sollte. Ich hörte doch alles, was da war. Sollte ich eine Stelle anders spielen, weil ich aus rationalen Gründen schlussfolgere, dass diese und jene Wendung verstärkt werden sollte? Das kam mir unwirklich und blödsinnig vor. Der Ausdruck einer Melodie, einer Harmonie geht doch unmittelbar in seiner Wirkung ins Ohr. Ob das Ding einen Namen hat, war mir ganz egal.

In gewissem Sinne ist das, in abgeschwächter Form, noch heute so. Ich habe natürlich inzwischen einigermaßen belastbare Kenntnisse in Harmonielehre erlangt, finde es auch interessant, wenn ich Stücke analysiert und entschlüsselt sehe. Es hilft mir durchaus, wenn ich größere harmonische Zusammenhänge erkenne (z.B. in Sonaten), wenn ich differenzieren kann zwischen dem melodischen / thematischen, rhythmischen und harmonischen Tempo, wenn ich in einem Ravel'schen Klangwust IV-V-I herausschäle und so weiter.
Es ist aber nicht die Grundlage meines musikalischen Wissens, sondern bestätigt mich nur in dem, was ich vorher schon wusste oder spürte. Jetzt wird es aber untermauert, mitunter in der Tat auch verstärkt, und je mehr Verständnis da ist (egal von welcher Seite), desto klarer und schöner wird auch die Interpretation. Während des Spielens weiß ich trotzdem meistens nicht, was ich tue.

Das geht so weit, dass ich auch beim Komponieren hauptsächlich nach Gehör gehe und mir selten überlege "oh, jetzt baue ich mal eine bVI oder einen Neapolitaner ein". Sondern ich höre innerlich voraus, was kommt, "weiß" es sozusagen - oder ich improvisiere und finde es so. Natürlich hilft mir auch dabei, bewusst oder unbewusst, absichtlich oder unabsichtlich, meine erworbene Theoriekenntnis - z.B. wenn ich eine bestimmte Form anstrebe und von As-Dur nach D-Dur zurückkehren will :heilig: Ich könnte mal meine eigenen Stücke harmonisch analysieren. Das wäre vermutlich genauso anstrengend, wie irgendwelche anderen Komponisten zu analysieren, denn ich müsste nachdenken, was da steht.

Ich habe also ein etwas zwiegespaltenes Verhältnis zur Musiktheorie. Sie hilft mir, sie unterstützt und stärkt mich, das spielen und die Interpretation, ich kann weitestgehend damit umgehen. Aber in der unmittelbaren Innigkeit mit der Musik spielt sie nach wie vor keine große Rolle.
 
Achja. Eine Kommilitonin von mir, Pianistin, muss sich exmatrikulieren, weil sie zweimal die Tonsatz-Prüfung nicht bestanden hat. Das verstehe ich zum Beispiel nicht. Gerade als Pianist spielt man doch ständig Tonsatz und kann sich die Antwort selbst vorspielen. Selbst wenn es keine 1,0 wird, irgendwas kann man sich doch überlegen.
Meine Tonsatzprüfungen sind damals sehr erfreulich ausgefallen, und auch in meiner Diplomarbeit habe ich Stücke harmonisch analysiert. Nix können tu ich also nicht. Immerhin kann ich meistens die Harmonie-Fragen meiner Schüler beantworten. Aber andere könnens noch deutlich besser...:-D
 

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