Vorschlag in Chopins Nocturne Op. 9/2

  • Ersteller des Themas heimklav
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Danke für die Notenbeispiele.

In deinem zweiten Beispiel: Im dritt letzten Takt (im Orignal Takt 329) da schreibt Frédéric Chopin die kurze Vorschlagsnote "dis2" nach dem Taktstrich. Würdest Du dieses "dis2" hier wirklich auf dem Schlag spielen? Zumal hier die Unterstimme fisis auch hervor gehoben werden soll. Hier spielen die meisten Pianisten, die ich kenne, das "dis2" vor dem Schlag. Ob die kurze Vorschlagsnote vor oder nach dem Takt notiert wurde, sagt also nicht immer aus, ob die kurze Vorschlagsnote auf, oder vor dem Schlag zu spielen ist.
 
Ob die kurze Vorschlagsnote vor oder nach dem Takt notiert wurde, sagt also nicht immer aus, ob die kurze Vorschlagsnote auf, oder vor dem Schlag zu spielen ist.
Das ist ein krasses Fehlurteil - warum sollte dein Namensvetter da so unterschiedlich notieren, etwa aus grafischen Gründen? Angenommen, jede Vorschlagsnote bei Chopin müsste vor der Zählzeit gespielt werden, dann wären deutlich differierende Notationen (mal vor, mal nach dem Taktstrich (sofern es um die 1. Zählzeit geht)) völlig sinnloser Quatsch...

Und bitte: wie egal wer irgendwas ausführt, beantwortet nicht die Frage, warum und wie der Komponist seine Notation gewählt hat und was er damit meint - es beantwortet lediglich die bestenfalls aufführungsgeschichtliche Frage, wie X oder Y dies oder das ausführen (und ob X oder Y da Gründe haben oder nicht, diese mitteilen oder nicht, müsste man nachgucken - meist erfährt man da nicht viel) - - da du mich fragst: ich spiele Verzierungen oft, nicht immer, so, wie mir´s gerade passt; und spaßeshalber, weil´s nett klingt, spiele ich manche Praller und Mordente bei Bach und Scarlatti auch völlig falsch vor der Zählzeit, außerdem gefällt mir oft genug bei Trillern, die mit der Nebennote beginnen müssen, genau das nicht und ich mach´s eben anders. Aber das sagt nichts darüber, wie sie korrekt auszuführen wären! Allerdings aber weiß ich, was mus.wiss. dazu vorliegt (falls was vorliegt, z.B. über Verzierungen in Wagners Albumblättern gibt´s nüscht) und ohne das zu durchdenken entscheide ich nichts.

Zu Chopins Verzierungen gibt es umfangreiche Literatur. Das ist nun deshalb von Interesse, weil oft bis in manchen Stücken sogar meistens nicht so gespielt wird, wie Chopin das haben wollte. Das überraschende und für uns, weil wir´s vom hören notgedrungen anders gewohnt sind, verblüffende ist die Marotte von Chopin, dass nahezu alle klein gestochenen Auszierungen*) auf der Zählzeit gespielt werden müssen, dass also die Hauptnote verspätet dran ist. Ab und zu wich Chopin von seiner "Verzierungsregel" ab, indem er es dann anders als sonst notierte! Diesen Fall findest du im 1. Scherzo (welches du genau zu kennen behauptest) ...grundlos hab´ ich das Notenbeispiel mit den Vorschlägen mal vor, mal nach dem Taktstrich nicht gezeigt...

Übrigens gibt es einen ulkigen Fall, wo die meisten ein falsches Tempo wählen, aber die Verzierung korrekt a la Chopin ausführen - das ist ein ganz berühmtes und oft gespieltes Stück von Chopin (wer sich auskennt, weiß das sofort) :-):-):drink:

Nun zum Tipp mit den arpeggierten Akkorden: Chopin verwendet da primär zwei**) unterschiedliche Notationen: 1. die Schlangenlinie vor dem notierten Akkord, 2. klein gestochen voraus die einzelnen Töne zur Melodienote hin (mal mit, mal ohne Haltebögen) - im 1. Fall muss eindeutig die Melodienote auf die Zählzeit fallen, im 2. Fall nicht. Natürlich gibt es dann auch bei beiden Varianten noch zusätzliche Auszierungen (Vorschläge, Trillerchen usw) ((steht ein Vorschlag vor der Melodienote eines arpegg. Akkords, muss dieser dann nach dem hochrollen auf die Zählzeit fallen)

Aber nicht genug damit: man muss auch noch differenzieren, was da gerade vorliegt (und was für Tempi gefordert sind) - um das abzukürzen: im Es-Dur Nocturne sind wir nicht in einer schnellen und womöglich gar akkordischen Etüde, sondern in einer sehr cantabile zu spielenden Kantilene a la Belcanto. Hier muss man sich an der Gesangspraxis orientieren. Oft genug imitieren solche Verzierungen der Belcanto-Linie das hochziehen von Tönen bei Intervallsprüngen, und da hat kein Sänger zwanghaft den Zielton in voller Pracht exakt auf der Zählzeit - im Gesang sind die Zählzeiten weitaus flexibler (!). Und gerade Chopins spezielle Marotte der Verzierung meist auf der Taktzeit wird dem Belcanto gerecht (da entsteht ein Rubato-Eindruck, obwohl die Begleitung ganz streng im Takt bleiben kann) Korrekt im Sinne des Komponisten wäre es an der gefragten Stelle im Nocturne schon den Vorschlag oder wenigstens die erste klein gestochene Note zusammen mit dem Bass zu spielen.

=> ob man das macht, ob einem das gefällt, ob andere das ganz anders ausführen, ist eine andere Frage, und deren Antworten (Plural) erklären nicht, was Chopins Notation tatsächlich meint. Die Interpretationsgeschichte gibt uns nur Auskunft über verschiedene Interpretationsstile im Lauf der Zeit; bei Chopin geht das los mit den ersten alten Aufnahmen, die sehr frei im Tempo sind (...oh oh...) über Rubinstein mit seinen geraderen Tempi (der anfangs als sachlich kritisiert wurde, uns heute aber eher spätromantisch vorkommt) und weiter über Michelangeli und Pollini bis heute, und erst in der Nachkriegszeit begann die Musikforschung, sich eingehender mit den Chopinschen Verzierungen zu befassen (!!) - immerhin weiß man heute, wie es gespielt sein sollte, was aber (Verzierungen sind ein Schmuck, und wie man Schmuck trägt, ist subjektive Geschmackssache, Mode usw) meiner privaten Ansicht nach keinen strengen Zwang bedeuten muss. aber es sollte keine freie Entscheidung ohne die Kenntnisnahme und das durchdenken der spezifischen Charakteristika Chopins geben, und dazu gehören heute nun mal die Verzierungen meist auf der Zählzeit.

Und Achtung: Chopins "interne" Verzierungsregeln (oder Marotten) sagen NICHTS über die Verzierungen bei Mendelssohn, Schumann, Liszt aus.

...jetzt hab ich mir ohne meine Bücher und ohne Nähe zu einer ordentlichen Musik-Bibliothek in meiner heiligen Freizeit die Mühe gemacht, zumindest ein paar wenige Fingerzeige zu liefern, und da ich von Natur aus gemein, mordlüstern und diabolisch grausam bin, gönne ich mir eine Bosheit: ich glaube nicht, dass dir @Frédéric Chopin das alles "nichts Neues" ist, denn sonst wären deine Antworten anders ausgefallen ;-)
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*) darunter fallen natürlich nicht solche Stellen wie der Schluss der e-Moll Etüde oder der Beginn der Polonaise-Fantaisie ;-):-D was schon das Notenbild eindeutig zeigt... das muss hoffentlich nicht extra erklärt werden...
**) primär zwei - tatsächlich gibt es noch ein paar wenige andere, aber das hier soll nicht in einen monströsen Aufsatz ausarten...
 
Zuletzt bearbeitet:
Danke Rolf für den ausführlichen Beitrag und dass du dir in deiner Freizeit die Mühe gemacht hast.
Nur bei einem Satz, weiß ich nicht, was Du genau meinst:
((steht ein Vorschlag vor der Melodienote eines arpegg. Akkords, muss dieser dann nach dem hochrollen auf die Zählzeit fallen)
Meinst du jetzt den Vorschlag auf die Zählzeit, oder die Melodienote des arpeggierenden Akkordes?

Bei den Mazurken op. 33 Nr. 4 (Tak 2) oder op.67 Nr. 2 (Takt 17) finde ich, ist es musikalisch sogar verpflichtend die kurzen Vorschäge auf dem Schlag zu spielen.

In der Mazurka op. 63 Nr. 2 (Takt 9) zum Beispiel sehe ich aber keinen Grund, und hier fällt bei mir der Hauptton auf die Zählzeit. Rubinstein macht es ebenfalls sehr deutlich:



Aber im Gegensatz zu Rubinstein, weiß ich natürlich die Pianisten, die gerade darauf bestehen, kurze Vorschläge immer auf dem Schlag zu spielen.
Schüler von Cyprien Katsaris, den ich unter anderem sehr schätze, haben keine einzige Chance, kurze Vorschlagsnoten vor dem Schlag zu spielen, unterbricht sofort mit den Worten: "Sur le temps, Monsieur!" (Auf die Zeit , mein Herr!)

Im Nocturne Es- Dur bin ich davon leider immer noch nicht überzeugt, den ersten Ton der Verzierung auf dem Schlag zu spielen. Die Version von Shura Cherkassky ist für mich wesentlich überzeugender. Warum hatte ich ja bereits geschrieben.
 
Es geht nicht darum, dich zu überzeugen, sondern darum, Chopins spezielle Eigentümlichkeiten zu erkennen und vor irgendwelchen Entscheidungen zu berücksichtigen. Dazu muss man sie kennen.

Streng genommen muss der Vorschlag bei einem arp. Akkord auf die Zählzeit fallen, das stand auch gramm. eindeutig in dem Satz, nach dem du fragst.
 
Ein sehr spannendes Buch zu diesem Thema könnte sein:
"Chopin pianist and teacher as seen by his pupils" von Jean Jacques Eigeldinger (Cambridge University Press).
Das Original ist natürlich französisch: "Chopin vu par ses élèves" (Editions de la Baconnière Neuchatel)
 
Danke @Tastatula für den Buchtipp! :-)
 
seine klein gestochenen Verzierungen auf der Zählzeit zu spielen, worüber es ausreichend Literatur gibt!
Hallo Rolf,
tut mir leid, wenn ich immer wieder Beispiele finde, da es ja aureichend Literatur gibt.
In der Etüde op. 25 Nr. 7 , Takt 22 linke Hand!
Das schreibt er ein "cis1" als Viertel und dann die drei kleingedruckten Verzierungsnoten.
Ich kann mir unmöglich vorstellen, dass Frédéric Chopin diese drei kleingedruckten Verzierungsnoten bei dieser Stelle auf dem Schlag haben wollte.

Kannst Du mir bezüglich des Themas da vieleicht Mal ein paar Bücher nennen, bzw empfehlen? Vor allem, was den kurzen Vorschlag etc. betrifft, weil mich vor allem interessieren würde, wie und wann man zu dieser Kenntnis kam.
 
In der Etüde op. 25 Nr. 7 , Takt 22 linke Hand!
Das schreibt er ein "cis1" als Viertel und dann die drei kleingedruckten Verzierungsnoten.
Ich kann mir unmöglich vorstellen, dass Frédéric Chopin diese drei kleingedruckten Verzierungsnoten bei dieser Stelle auf dem Schlag haben wollte.

Natürlich wollte er das nicht. Es sind ja keine Vorschlagsnoten, sondern Nachschläge zum cis', was sich aus dem harmonischen-melodischen Kontext zweifelsfrei ergibt.
 
Eine der hilfreichsten Quellen zum Thema ist das in mehreren der Bände abgedruckte Vorwort zur Chopin Ausgabe von Paderewski (polnischer Verlag). Dort wird an einigen Beispielen aus den Exemplaren der Schüler von Chopin gezeigt, wie der Komponist vielfach Linien vom Basston zum ersten Ton der Verzierung zieht. Chopin sollte ja wohl gewusst haben, wie er's haben wollte.

Der Hintergrund ist vermutlich, wie hier schon angesprochen die Unabhängigkeit der melodischen Agogik vom regelmäßig zu spielenden Bass.
Es sei hier vermerkt, dass interessanterweise auch Mozart über die metrisch stabile Linke und die frei sich darüber bewegende Rechte gesprochen hat.
Viele Musiker (Pianisten) sind heute wieder bereit das künstlerische Mittel des 'Klapperns' also des verfrühten oder verspäteten Melodietons mit schöner Wirkung zu nutzen. Der Fetisch des 'alles zusammen' ist am bröckeln.
Rolf und Katsaris ist also zuzustimmen!!
 
Exempel für diese Art des Rubato können die Aufnahmen mit Paderewski von op. 9,2 sein. Durchaus (nach meiner unmassgeblichen Meinung) übertrieben, aber die Trennung von Melodie und Begleitung ist wunderbar plastisch und deutlich hörbar!
 

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