vom Blatt spielen - Spielen durch Hören

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Leoniesophie

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Hallo, liebe Musikfreunde und -freundinen

Mich beschäftigt die Frage, warum ich ganz gut vom Blatt spielen kann, aber beim Improvisieren so starke Probleme habe.
 
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Ein guter Lehrer würde Dir ganz schnell zeigen, daß Du sehr wohl problemlos improvisieren kannst.

Hier, so aus der Ferne ohne Dich zu kennen oder gehört zu haben, kann man nur ein paar allgemeine Tips geben:

1) Versuche beim Improvisieren nicht, ganz toll zu klingen, sondern spiele erstmal ganz einfache, vielleicht sogar geradezu kinderliedartige Melodien.

Nicht komplizierte Figuren und Läufe spielen, sondern "singbare" einfache Melodien.

2) Sing' erstmal eine improvisierte Melodie, dann versuche die Töne auf dem Klavier zu finden und die Melodie nachzuspielen. Improvisieren klappt nur dann zufriedenstellend, wenn eine konkrete Klangvorstellung dahintersteht.

3) Die typischste Länge für einen Melodieabschnitt in einem Stück mit mittlerem Tempo beträgt 2 Takte. Daher solltest Du erstmal so improvisieren, daß Du einen 1 bis 1 1/2 Takte langen Melodieabschnitt spielst (sozusagen das musikalische Pendant zu einem ganz knappen Satz wie "Das Wetter ist schön"), dann eine kleine Pause machst und dann am Anfang des nächsten 2-Takt-Abschnitts eine neue Melodie spielst. Auf keinen Fall ununterbrochen und planlos in der rechten Hand drauflosspielen, denn dann weiß man gar nicht mehr, wo einem der Kopf steht und kommt nicht mehr dazu, seine Klangvorstellung einzusetzen, außerdem vervielfachen sich die technischen Probleme.

4) Du kannst auch erstmal vom Rhythmus ausgehen und Dir "Rhythmusvorlagen" für die Melodien vorsingen. Beispiele:

15gy3dd.jpg
oder
2rd91c8.jpg


Und dann z.B. mal immer nur mit dem einen Rhythmus improvisieren und hören, was alles für Melodien damit möglich sind.

Hört man Leute, die sagen, sie könnten nicht gut improvisieren, stellt man fest, daß meistens der Rhythmus wacklig / unkonkret / un-groovig ist. Spielst Du einen guten Rhythmus und diesen dazu noch wirklich groovig, dann ist es geradezu zweitrangig, welche Töne Du dazu spielst, die ergeben sich dann schon irgendwie. (Und selbst "falsche" Töne klingen nicht mehr so falsch.) Wackelst Du rhythmisch dagegen planlos rum, klingt jeder Ton irgendwie falsch.

Gibt noch sehr viel mehr Anfängertips, aber das sind schon mal erste Einstiegpunkte.

LG,
Hasenbein
 
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Sehr schöne Zusammenfassung, Hasenbein.
Danke.

Ich komme zwar aus der andern Ecke wie Leoniesophie, bin zu faul zum Notenlesen und improvisiere gerne bzw. zwangsweise.

Die Punkte werde ich mir ausdrucken.

Gruß aus Hamburg, Reiner
 
Ja, ich bin Klavierlehrer.

Alte Rechtschreibung (die ich besser finde): Tip

Neue Rechtschreibung: Tipp

LG,
Hasenbein
 
Ich denke, ich probiere diese Improvisation heute auch aus :)

Allerdings will ich keinen Jazz improvisieren. Also es muss nicht "grooven", obwohl wahrlich nichts über den klassischen Groove geht :D

lg marcus
 
Ich denke, ich probiere diese Improvisation heute auch aus :)
Leute!!! ich habe was improvisiert :D

Ich bin so stolz auf mich; ich habe noch nie mehr als zielloses Tasten drücken dabei produziert, aber die Anleitung von Hasenbein und insbesondere das Bestehen auf einer ganz einfachen Basis hat mich heute weitergebracht.

Meine ersten improvisierten vier Takte könnt ihr euch hier anhören.
[MP3="http://api.ning.com/files/-7V1Ag2RSkQXNkVEyRvBfw3HJGM1KC1ZoXuXFwBvnL-UGJSViSyAiBEiuRc2EIu9FgUVSJlDmH2KXApXsgFsBSSi3mrY4-55/MeineersteImprovisation.mp3"]ichbinsostolz[/MP3]

Es ist wirklich tricky Rhythmus, Melodie und Harmonie irgendwie zusammenzuhalten, aber hier habe ich definitiv (noch) den Überblick. Ich habe halbtaktigen Tonika - Dominant Wechsel angefangen, die Melodie schlicht linear und einzig durch den punktierten Rhythmus belebt.

Ich habe auch gleich versucht das in anderen Tonarten zu spielen, was ziemlich gut geht. Man muss ein Weilchen suchen und aufhören zu denken, "jetzt kommt das g", sondern "jetzt kommt die Tonika" :D

Lacht net ;)

lg marcus
 
Gratuliere, Marcus! :)

Allerdings hast Du meinen Tip mit der Zweitaktigkeit noch nicht mit drin, ne?

Zwar kann man Deine 4 Takte durchaus in 2 Melodieabschnitte zerlegen, aber Du spielst dennoch ununterbrochen durch. Wie gesagt, zu lange ununterbrochen spielen ist nicht günstig.

Jetzt mach doch Folgendes:

Laß mal für die ersten Melodie-Improvisationsversuche die Begleitung weg! Denn festgelegte Akkorde hemmen ja nur die Einfälle. Er-improvisiere Dir erstmal eine längere Melodie, und erst dann füge durch Probieren passende Akkorde hinzu!

Und dann, ganz wichtige Sache: "Frage" und "Antwort" - eine DER Arten, wie Melodiephrasen aufeinander bezogen sein können.

Ein Beispiel, wie man Deine erste Phrase fortführen könnte:

4ik3r8.jpg



Man singe die erste zweitaktige Phrase, die einem einfällt.
Dann auf dem Klavier spielen.

Dann singt man die erste Phrase nochmal und lasse das Ohr spontan, ohne "Überlegen" oder "Konstruieren", eine Antwort darauf erfinden. Das kann eigentlich im Prinzip jeder, man hat dafür ein eingebautes "Gefühl".
Diese 4 Takte spiele man dann. Usw.

In meinem Beispiel kommt noch hinzu, daß die erste Antwort (Takt 3-4) un-abgeschlossen klingt (d.h., man hat nicht das Gefühl, hier könne das Stück zu Ende sein). Das heißt, man schließt nochmal eine Frage- und Antwort- Runde an, die dann am Ende abgeschlossen klingt (d.h., man landet auf dem Grundton).

Diese auch in Kompositionen überaus häufige 8 taktige Form nennt man auch Periode.

Wichtig für die 2. Frage (Takt 5-6) ist, daß sie der 1. Frage gleicht oder zumindest sehr ähnlich ist. In meinem Beispiel habe ich, da mein Ohr es verlangte (nochmal mit D beginnen klänge irgendwie öde), die Frage beim 2. Mal tonhöhenmäßig nicht gleich gelassen, sondern sie (diatonisch) transponiert.

Solche Frage- und Antwort- Spielchen würde ich erstmal viele improvisieren, immer ohne Begleitung, damit sich erstmal das Gefühl für schlüssige Melodien etablieren kann.

Und ganz wichtig dabei: NICHT "überlegen" oder theoretisch rumkonstruieren, sondern alles ganz unmittelbar übers Ohr und das eingebaute Musikgefühl machen, und erst dann gucken, wo es auf dem Klavier liegt!

Klar, daß das Ganze sowohl für Improvisation als auch für Komposition Gültigkeit hat.

LG,
Hasenbein
 
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Danke für deine Anregungen, Hasenbein!

Ich habe zwar meinen Anspruch deutlich runtergeschraubt und ganz einfache Melodien und Harmonien erfunden, aber trotzdem immer beidhändig improvisiert :floet:

Ich habe aber auch den Eindruck, dass mir die Harmonie Sicherheit gibt und damit der Beliebigkeit entgegenwirkt. Solange man sich auf das rein diatonische Material beschränkt müsste es aber wohl gehen. (Andererseits ist für dieses offene, fortführbare bzw das abgeschlossene endende Gefühl ja nun die Harmonie verantwortlich, also so ganz aus dem Blick kann man sie nicht lassen)

Mein Viertakter klingt in sich schon zu Ende, weil ich auf dem Grundton lande. :)

Auf jeden Fall werde ich das Frage-Antwort-Spiel ausprobieren. Das gibt Struktur.

lg marcus
 
Selbstverständlich läßt man die Harmonie bei dem von mir Vorgeschlagenen nicht aus dem Blick.

Denn egal, was man übers Ohr improvisiert, irgendeine Harmonievorstellung ist bei einem abendländisch geprägten Ohr immer im Hintergrund wirksam. Manchmal braucht man nur ein bißchen, bis man raus hat, welche Harmonien das sind.

Es geht nur darum, sich nicht vor Spielbeginn gleich ein festes Harmonieschema vorzugeben (das kann man auf später verschieben), sondern die Melodie die Harmonie bestimmen zu lassen. Das feste Harmonieschema ist ein Prokrustesbett, das den freien Fluß hemmt.

Es ist überhaupt eine gewisse Seuche der heutigen Improvisations- bzw. Jazz/Rock/Pop- Pädagogik, daß man meint, Improvisation heiße stets, ein vorgegebenes Harmonieschema zu haben, das man dann "Malen nach Zahlen"-mäßig ausfüllt.

Deshalb (und jetzt beginne ich ein bißchen wie "Broadwood1830" zu klingen, hihi! :D :cool: :D) die sehr häufig musikalisch unbefriedigenden Improvisationen von Jugendlichen und sogar Musikstudenten. Wie Melodie eigentlich funktioniert und wie der Zusammenhang zwischen Rhythmus, Melodie und Harmonie eigentlich genau ist, das wird in den meisten Fällen leider nicht vermittelt. Nur so was wie: Hier hast Du ein 12taktiges Blues-Schema, nimm die Bluespentatonik, dazu werden noch ein paar fertige Licks gezeigt, aus.

LG,
Hasenbein
 
Hallo hasenbein, interessant sind Deine Ausführungen. Was Du beschreibst, sollte ich nämlich als Hausaufgabe machen . KL:" So, jetzt denken Sie sich mal eine schöne Melodie zu der C- Dur Kadenz aus." Total unbefriedigend. Ich werde jetzt mal Deine Methode probieren. Anscheinend kommt mein KL nicht von seiner Methode weg. Ich hatte mir die Barpianoschule , Band 1 von Michael Gundlach gekauft, aber das fand ich noch zu schwer für mich. Hast Du einen Tip (Mit einem p!haha) bezüglich Barpiano für Anfänger für mich? Irgendwo hat doch jeder mal angefangen, oder?

Ist es hilfreich, oft das Spielen durch Hören zu machen? Ich hoffe, ich nerv nicht langsam?
 
Hi Marcus,

nun hast du deinen ersten Baustein gezimmert und du weisst ja, was man aus vielen Bausteinen machen kann. Ich finde es prima, dass du jetzt damit loslegst.

Und Hasenbeins Tipps sind sicher genau die Richtigen-

Allerdings, Lieber Hasenbein, muss ich für die ersten 2 Takte deines Beispiels eine nicht unerhebliche Gebühr fordern, denn als UrSchwippneffe von Humperdinck habe ich ja die Rechte an solchen Liedern aus Hänsel und Gretel.:D:D:D
 

Hi,

@Hasenbein: Endlich mal jemand, der Improvisieren nicht zur Geheimwissenschaft macht (Genau meine Linie). Wenn man mal ein paar der von Hasenbein hier vorgestellten Grundgedanken/Tips (oder Tipe ? ;-) ) verstanden und geübt hat, ist es absolut von jedem machbar.

@Leoniesophie:

Eine kleine Auswahl empfehlenswerte Bücher zur Improvisation:

  • Improvisations Kurs. Klavier von Molsen Uli
Das hab ich nicht selber, aber die Bücher von Molsen sind immer sehr gut für Anfänger geeignet.


  • Ward Cannel und Fred Marx, How to Play the Piano Despite Years of Lessons: What Music Is and How to Make It at Home: Rev. Ed. - Taschenbuch (31 Dezember 1976) von Hal Leonard Pub Co
Hier lernt man unkompliziert wie man Stücke nach Leadsheets spielt. Sehr praktisch.


  • Mike Steinel, Building a Jazz Vocabulary. Hal Leonard 1995.
Ein gutes Buch mit dem Ansatz der Jazz Improvisation als Sprache. (Gibt's noch andere.)


  • Hal Crook, How To Improvise. Advance Music 1991.
Umfangreiches Standardwerk. Ein Muss, wenn man systematisch in die Materie einsteigen will.


Gruß
PS: Und natürlich die Bücher von Tim Richards (Blues/Jazz Piano). Die sind super.
 
Zuletzt von einem Moderator bearbeitet:
Die Gebühr, Klavigen, mußt Du übrigens nicht von mir, sondern von Marcus fordern - denn ich habe lediglich seine ersten 2 Takte übernommen und in meinem Beispiel anders weitergeführt. :D

LG,
Hasenbein
 
Die Schuld sei euch beiden erlassen, wenn ihr demnächst zu Weihnachten mal eine Vorstellung besucht.

Hänsel und Gretel ist immer wieder grossartig
LG KLavigen
 
@Hasenbein: Endlich mal jemand, der Improvisieren nicht zur Geheimwissenschaft macht (Genau meine Linie).

Improvisieren ist nicht nur "keine Geheimwissenschaft".

Improvisieren ist die natürliche Form des Musizierens (!!!), erst das Virtuosentum des 19. Jahrhunderts, gepaart mit einer Verkomplizierung der Musik, hat dem in der westlichen Welt leider den Garaus gemacht.

Daß die meisten Musikschaffenden nicht improvisieren und auch sagen "Ich kann irgendwie nicht improvisieren" ist so, als würden alle Menschen mit Reden und Mails-Schreiben aufhören, weil sie ja doch keine so tollen Romane wie Thomas Mann oder James Joyce schreiben können.

Hinzu kommt, daß die Mehrheit der Musik-Unterrichtenden sehr wenig Ahnung von den Grundzusammenhängen in der Musik hat. Weil man früh darauf getrimmt wird, daß "gut spielen" wichtiger als Verständnis ist.

LG,
Hasenbein
 
Improvisieren ist nicht nur "keine Geheimwissenschaft".

Improvisieren ist die natürliche Form des Musizierens (!!!), erst das Virtuosentum des 19. Jahrhunderts, gepaart mit einer Verkomplizierung der Musik, hat dem in der westlichen Welt leider den Garaus gemacht.

...was ist dann von Villa-Lobos und Ginastera aus der lateinamerikanischen Welt zu halten?... ...

Nichts gegen Improvisieren - aber erstens geht das auf sehr verschiedenen Stufen des Könnens, zweitens spricht das Improvisieren nicht gegen komplexe Klangstrukturen. Du darfst sicher sein, dass Skrjabins späte Sonaten nicht als Trockenübung am Reißbrett entstanden sind, und das, obwohl sie sehr kompliziert sind!!

Gruß, Rolf
 

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