Ich greife diesen zehn Jahre alten Thread wieder auf, weil ich vor einigen Tagen auf folgendes Buch gestoßen bin:
Arno Lücker: op. 111. Ludwig van Beethovens letzte Klaviersonate. Takt für Takt. 313 Seiten Wolke Verlag 2020. ISBN978-3-95593-123-0.
Es gibt etliche Abhandlungen, Analysen und literarische Annäherungen an diese Sonate (oder zumindest den zweiten Satz). Zu nennen wären A.B. Marx, H. Schenker, Th. Mann.
Lückers Buch geht zurück auf eine 335teilige (!) Artikelserie in der nmz, in der er jeden Takt einzeln analysiert. Eine ungewöhnliche und auf den ersten Blick befremdliche Vorgehensweise. Aber Lücker ist ein (auch in Sachen Musiktheorie) sattelfester Musiker und Musikwissenschaftler, der weiß, was er tut. Er analysiert nicht einfach die Strukturen gemäß dem Motto: hier Tonika, dort Dominante, Modulation nach x ... Er macht deutlich, was die harmonischen und melodischen Strukturen für den weiteren Verlauf bedeuten, nicht nur mit musikwissenschaftlicher Terminologie, sondern er beschreibt sinnfällig und anschaulich, wie Beethoven Spannung aufbaut und sie auflöst (oder auch nicht), Erwartungshaltungen, die beim Hörer geweckt, aber nicht unbedingt erfüllt werden. Lücker zieht Parallelen zu anderen Werken Beethovens und der Musikgeschichte generell. Vieles, was man beim Hören mehr ahnend empfindet, vermag Lücker namhaft zu machen, und das nicht in trockenem Theorie-Jargon.
Das Buch macht Lust, es am Klavier zu lesen, in jedem Augenblick klanglich nachzuvollziehen, was Lücker beschreibt. Und damit bin ich auch schon beim "Wermutstropfen": Um die Notenbeispiele am Klavier nachvollziehen zu können, ist das Druckbild zu klein, die 313 Seiten werden durch eine unsägliche Leimbindung zusammengehalten. Ich bin versucht, das Buch auseinanderzurupfen, die Seiten (widerrechtlich) zu scannen und auf mein Tablet zu laden ...
Ich bin mit der Lektüre erst bei Takt 18, also am Ende des Maestoso-Anfangs angekommen, und bereits um Einiges schlauer. Gespannt bin ich auch schon auf die Analyse des zweiten Satzes. Was ich aber dort wahrscheinlich vergeblich erhoffe: den Stein der Weisen, wie man die vermaledeiten Trillerketten gegen Schluß meistert.
Ob Herr Lücker sich auch noch die anderen Beethoven-Sonaten in dieser Weise vornimmt. Es wäre zu wünschen. Eine entsprechende Wunschliste, was mir unter den Nägeln brennt, hätte ich auch schon ...