Satzfehler in Bach's Schlüsselchoral?

Zum Prélude von BWV 808:

In Takt 76, ZZ 2-3 füllt die Agricola-Quellengruppe den Akkord jeweils durch es'' auf, das sonst fehlt. Das es'' ist also eine Zutat des Schreibers und nicht echt. (Henle gibt es im Kleinstich, es sollte dort gestrichen werden.)

Takt 6, ZZ 2: Dürr (NBA) streicht den Akkordton g unter Berufung auf den autograph überlieferten Takt 186. Analog verfährt er mit der Parallelstelle Takt 114, ZZ 2, dort entfällt der Akkordton d. Man vgl. auch eine weitere Parallelstelle Takt 72. Ich empfehle, die Dürr-Entscheidung zu übernehmen.

In Takt 128, B, 1. Ton, fehlt zB bei Henle (wie auch in vielen Quellen) das Auflösungszeichen vor es. NBA hat e, was fraglos richtig ist.
 
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Zum Prélude von BWV 808:

Es handelt sich um einen Concerto-Satz mit einem Reperkussionsthema (bekanntestes Beispiel für diese Art Thema: Mozart - Zauberflötenouvertüre). Und Bach benutzt das Thema bzw. die aus ihm gewonnenen Motive, um bereits im ersten Soloabschnitt harte Sekunddissonanzen auf der 1. ZZ zu generieren; nicht jedermanns Geschmack vielleicht - ich find's herrlich. Und besonders gut gefällt mir, wenn der alte Bach im Contrapunctus 8 der Kunst der Fuge mit dem dortigen Reperkussionsthema (es wird in Cp. 11 durch Umkehrung zum BACH-Thema) genau dasselbe macht wie der junge im Prélude von BWV 808: harte Sekunddissonanzen auf betonter ZZ.

Meine Lieblingsfuge aus dem Wtk II übrigens ist die in g-moll mit einem großartigen Reperkussionsthema.
 
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Und Bach benutzt das Thema bzw. die aus ihm gewonnenen Motive, um bereits im ersten Soloabschnitt harte Sekunddissonanzen auf der 1. ZZ zu generieren; nicht jedermanns Geschmack vielleicht - ich find's herrlich.
"Heutzutage sind Dissonanzen ja so begehrt wie Trüffel" (Saint-Saens über die zeitweilige editorische Entschärfung einer Dissonanz bei Chopin) - und wir heute sind mittlerweile noch schärfere harmonische Gewürze gewohnt als der Camille...
Kann es sein, dass hier die Dissonanzen lediglich im harmonischen und stilistischen Kontext hart wirken, ansonsten oder andernorts gar nicht so sehr auffallen? Ich frage aus Interesse, da mir in Bachs Werken (die ich nicht vollständig kenne) bislang spektakuläre Dissonanzen nicht aufgefallen sind (Sekundreibungen über Orgelpunkten mit Vorhalten etc, also nichts, was sich nicht erklären liesse)
(Mozart hat ein paar verblüffend herbe Dissonanzen, z.B. f-e-as-c in KV331 - aber dieser Vorhalt mit Orgelpunkt auf der Zählzeit wirkt hier im Kontext herb, bei Grieg oder Tschaikowski tauchen solche und schärfere Klänge geradezu inflatorisch auf)
Dissonanzen bei Bach, ihre kontextspezifische Wirkung und ihre eventuelle Intention (sofern halbwegs plausibel erschliessbar) könnten ein interessantes Thema werden - gerne mit Notenbeispielen!
 
Kann es sein, dass hier die Dissonanzen lediglich im harmonischen und stilistischen Kontext hart wirken, ansonsten oder andernorts gar nicht so sehr auffallen?
Eigentlich hätte ich mick zitieren müssen, der vor einiger Zeit hier geäußert hatte, unser Prélude gefalle ihm wegen der vielen Härten und Unschönheiten nicht und er möge es gar nicht spielen. Ich war zu faul, um das Zitat zu suchen, wollte aber auf eine der Ursachen für diese Härten aufmerksam machen.

Natürlich muß die zur Bach-Zeit geltende Kompositionstheorie als bekannt vorausgesetzt werden, wobei ich dazu außer De la Motte keine anderen modernen Werke, vielleicht noch ein paar Aufsätze, gelesen habe. Ich schaue aber ab und zu auch in die kompositionstheoretische Schrift von Johann Gottfried Walther:
  • Praecepta der musicalischen Composition. Weimar 1708.
    • Neu hrsg. von Peter Benary in: Jenaer Beiträge zur Musikforschung. Band 2, Breitkopf & Härtel, Leipzig 1955.
Gut, normalerweise wird die Dissonanz im polyphonen Satz gegen einen bereits liegenden Ton eingeführt und nachfolgend wieder aufgelöst. Beispiel: Kunst der Fuge, Cp. 1: T. 7, T. 9 (jeweils 1. ZZ). Doch sehen wir in Cp. 1 auch schon die Ausnahme: T. 42, 1. ZZ., wo die (Vorhalt-)Dissonanz bei 4 gleichzeitig angeschlagenen Tönen erklingt und damit weit drastischer ins Ohr fällt, als der zuvor beschriebene Dissonanztyp. Hinzu kommt gleich noch etwas Bach-Typisches: Die angeschlagene Dissonanz auf der 1. ZZ wiederholt sich in den beiden Folgetakten 43 (f-cis'') und 44 (B-d-fis'), wobei ich nur die angeschlagenen Töne nenne, nicht die liegenden. Selbstverständlich hatten solche Härten im Barock noch eine rhetorische Bedeutung, waren als Figur zu verstehen, hier in Cp. 1 im Sinne der Pathopoiesis, des Leiden Erzeugenden. Wie ich früher einmal über Cp. 8 schrieb, sind die dort - im Unterschied zu Cp. 11 (oder auch Cp. 1) - angewandten Mittel Chromatik und betonte Dissonanz eben nicht als Pathopoiesis gemeint, sondern als scherzhaft-capriziöse Elemente, die wie scharfe Gewürze einem auch Tränen in die Augen treiben können, ohne daß dabei der Affekt der Trauer und des Schmerzes mitspielt.

Und diese zuletzt genannte kapriziöse Affektlage scheint mir auch in unserem g-moll-Prélude zu herrschen. Gemeint waren hier die Takte 38, 39, wobei diesen der T. 37 hinzuzufügen ist, der ja ebenfalls eine betonte Dissonanz auf der 1. ZZ bringt. Und gegenüber den vollgriffigen, zumindest dreistimmigen, Dissonanzen des Eingangsritornells (T. 1-32) sind hier die Dissonanzen zweistimmig und schockierend nackt. Weiter oben hatte ich im übrigen schon einmal auf die Quartdissonanzen auf der 1. ZZ der Takte 9, 11, 13 hingewiesen, die ja nicht nur quellenkritische, sondern auch satztechnische Fragen aufwerfen.

Noch zur Info: das Reperkussionsthema in Cp. 8 erscheint erstmals in T. 39 ff. (Mittelstimme), und in T. 90 ff. (Alt) von Cp. 11 erscheint es erstmals in der BACH-Gestalt.
 
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Eigentlich hätte ich mick zitieren müssen, der vor einiger Zeit hier geäußert hatte, unser Prélude gefalle ihm wegen der vielen Härten und Unschönheiten nicht und er möge es gar nicht spielen.

Das bezog sich nicht auf Dissonanzen, sondern auf tatsächliche satztechnische Unschönheiten wie Leittonverdoppelungen oder teilweise riesige Abstände zwischen vollgriffigen Akkorden links zum Diskant. Letzteres mag auf dem Cembalo noch einigermaßen gehen, auf einem modernen Flügel klingt es wegen der Inharmonizität der dickeren Saiten vergleichsweise hässlich.

Gegen gehäufte Dissonanzen habe ich überhaupt nichts. Eine der dissonantesten klassischen Fugen gehört zu meinen absoluten Favoriten des Genres:


View: https://www.youtube.com/watch?v=oNrM37AYxfc
 
Das bezog sich nicht auf Dissonanzen, sondern auf tatsächliche satztechnische Unschönheiten wie Leittonverdoppelungen oder teilweise riesige Abstände zwischen vollgriffigen Akkorden links zum Diskant.
OK, ich spiel's nicht nur auf dem Cembalo, aber dort klingt das entschieden besser. Auf dem Klavier donnere ich die Baßakkorde fortissimo, und mir als Spieler macht das sicher mehr Spaß als einem sensiblen Zuhörer.
Leittonverdopplungen werde ich jetzt noch suchen müssen. Die vermeidet Bach doch sonst im polyphonen Satz... Aber gut: Bach kennt kein Tabu - heißt doch unser Thema!

Ja, die Mozart-Fuge kannte ich gar nicht vom Notenbild her; die ist wirklich der Wahnsinn, bachischer als Bach sozusagen.
 
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OK, ich spiel's nicht nur auf dem Cembalo, aber dort klingt das entschieden besser. Auf dem Klavier donnere ich die Baßakkorde fortissimo, und mir als Spieler macht das sicher mehr Spaß als einem sensiblen Zuhörer.

BWV894 zB... herrlich!

Leittonverdopplungen werde ich jetzt noch suchen müssen. Die vermeidet Bach doch sonst im polyphonen Satz...

Patrem omnipotentem T. 72
Das ist mir erst beim Continuospielen aufgefallen. Gut, der polyphone Satz ist nicht wirklich streng; die Streicher verdoppeln mal die eine, mal die andere Stimme. Aber den Leitton gleichzeitig in zwei exponierten Lagen zu haben, ist unschön. Zum Glück wird der Satz meistens so schnell gespielt, dass man nichts merkt, und, etwas weniger erfreulich, dass man nichts versteht...
 
Habe in T. 72 gesucht und nichts Verdächtiges gefunden. Wir haben doch in T. 69 D-dur erreicht und dann 3 Takte lang Orgelpunkt d, auf dem sich ein D7-Klang aufbaut, der sich in T. 72, 3. Viertel, nach G auflöst, das aber nur harmonische Zwischenstation ist, weil das g zur 7 von A-dur wird, aber erst in T. 73. Bitte um nähere Erläuterung, wo da der Wurm drin ist.
 
Frohe Weihnacht allen Besuchern und Teilnehmern von Clavio!
 

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Habe in T. 72 gesucht und nichts Verdächtiges gefunden. Wir haben doch in T. 69 D-dur erreicht und dann 3 Takte lang Orgelpunkt d, auf dem sich ein D7-Klang aufbaut, der sich in T. 72, 3. Viertel, nach G auflöst, das aber nur harmonische Zwischenstation ist, weil das g zur 7 von A-dur wird, aber erst in T. 73. Bitte um nähere Erläuterung, wo da der Wurm drin ist.

Nach fast einem Jahr sehe ich plötzlich diese Nachricht. Ich bitte um Entschuldigung!

Ich habe die Oktavenparallele fis-g (Violine+Bass) gemeint.
 
Ich habe die Oktavenparallele fis-g (Violine+Bass) gemeint.

Stimmt, die ist tatsächlich vorhanden. Solche Fälle wird man wohl öfter finden, umso öfter, je vielstimmiger der Satz. Ich vermute, dass es ein Versehen ist, das Bach korrigiert hätte, wenn er es bemerkt hätte. Ich würde sogar sagen, es ist ein Indiz dafür, dass Bach diesen Satz niemals aufgeführt hat, denn bei einer Aufführung wäre ihm der Fehler aufgefallen. Da dieser Patrem-omnipotentem-Satz ja in BWV 171/1 ein Parodievorbild hat, kann man die Stelle mit dem Vorbild vergleichen und findet dort die Oktavparallele nicht, denn der Bass lautet dort zwei Viertel d - Halbe g. Der Satzfehler ist also durch Bearbeitung entstanden, was ein Versehen umso wahrscheinlicher macht. Generell sind Satzfehler infolge bearbeitendem Eingreifen in eine schon fertige Komposition natürlich viel wahrscheinlicher als bei Neukomposition. Noch charakteristischer sind Transpositionsversehen, die bei Bach öfter vorkommen und die dann Rückschlüsse auf die ursprüngliche Tonart eines Satzes zulassen. Beispielsweise erlauben solche Fehler den Rückschluss darauf, dass das 1. Kyrie der h-moll-Messe ursprünglich in c-moll gestanden hat.

Immerhin sind Bach auch in der Kunst der Fuge Parallelenfehler unterlaufen, wenn auch nur in der zweiclavierigen Bearbeitung der 3-stimmigen Spiegelfuge, die nicht zur Druckveröffentlichung bestimmt war: Einklangsparallelen in T. 31 der auf a' beginnenden Fuge und Doppeloktavparallelen in T. 30 der auf d" einsetzenden Fuge.
 
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