Satzfehler in Bach's Schlüsselchoral?

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Beim Abtippen des (meiner Meinung nach unvergänglich schönen ) Schlüsselchorals "Oh Haupt voll Blut und Wunden" aus der Matthäus-Passion (zwecks Orgelbegleitung für den Gottesdienst) sind mir im 2. Takt folgende Merkwürdigkeiten aufgefallen:

1) 2x Oktavparallelen hintereinander zwischen Alt (rot) und Bass (blau) hintereinander vom 2. - 4. Viertel

2) Terzverdopplung beim F-Dur-Klang 1. Viertel Sopran (schwarz) und Tenor (grün), was wohl bei einigen Theoretikern verpönt ist

3) Terzverdopplung beim C-Dur Klang 2. Viertel Alt und Bass; dies ist wohl schlicht verboten bei einigen Theoretikern - wenn die Terz im Bass steht (ist ja immerhin eine Viertelnote, keine Durchgangsnoten dazwischen).

4) Springen von einer vollkommenen Harmonie in die nächste (von Oktave in Quinte) zwischen Alt/Bass von Takt 2, 4. Viertel auf Takt 3, 1. Viertel (scheint auch verpönt zu sein bei manchen Theoretikern)?

5) dasselbe, Springen von Oktave in Quinte im Takt 3, 2. auf 3. Viertel zwischen Tenor/Bass.

Habe den Satz vorher auf C-Dur transponiert zwecks besserer Singbarkeit für die Gemeinde, Notenschlüssel: Alt,Tenor,Bass: Bass-Schlüssel, Sopran: Violinschlüssel).

Frage an die Theoriefreaks: sehe ich da was falsch, oder hat Bach da tatsächlich Parallelen fabriziert?

Was die Erlaubtheit von Terzverdopplung angeht, noch dazu, wenn eine Terz im Bass steht, scheinen ja die Meinungen auseinanderzugehen?

Und was ist mit dem Springen von einer Konsonanz in eine andere?

Meine Meinung: Bachs Musik, insbesondere diese Choräle aus der Matthäus-oder Johannespassion, sind vollkommen und von außerirdischer Schönheit. Wem das nicht in eine Theorie passt, sollte man eher die Theorie überdenken...

Meinungen? J. Gedan?
 
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Hi,
zu 1. kann ich nur sagen, dass nunmal auch großen Meistern gelegentlich Parallelen unterlaufen sind (wenn auch selten). Ob diese nun schlecht klingen oder nicht, ist eine andere Frage
2. Diether de la Mothe zeigt in seiner Harmonielehre, dass die Regel, die Terz nur in Ausnahmefällen zu verdoppeln, erst ab der Zeit Klassik Anwendung fand, nicht aber zur Bachzeit
2+3. Dazu la Mothe: "Die allgemeine Lehrmeinung, daß bei Sextakkorden der Funktionsgrundton zu verdoppeln sei, muss in ihrer Gültigkeit auf die Klassik eingeschränkt und darf nicht auf die Bachzeit beozgen werden. Die in den Beispielen angegebenen Tonverdopplungen bei Dreiklängen demonstrieren die Bevorzung der Grundtonverdopplung, während bei den Sextakkorden Terz und Quinte nicht seltener verdoppelt werden als der Funktionsgrundton."

Zu den anderen Punkten kann ich leider nichts sagen.

Gruß Ritardando
 
@ Ritardando:
Terzverdopplung / Diether de la Motte:

Weiss ich, habe das Buch - und dass ist es ja gerade, was ihn unterscheidet von der bisherigen Lehrmeinung. De la Motte hatte ja sich die Mühe gemacht, einige Bach-Choräle auszuzählen, welcher Ton bei einem 4-stimmigen Satz verdoppelt wird. Und siehe da - der Grundton wird logischerweise am meisten verdoppelt, ABER danach kommt die Terz, erst zum Schluss die Quinte, die verdoppelt wird! Diametral anders als die bisherige Lehrmeinung, die auch und gerade für die Barockzeit Terzverdoppelungen verpönt oder verbietet!

Es bleibt die Sache mit der Terz im Bass und Verdoppelung, und vor allem die Parallelen:

Mir ist bisher kein Fall bekannt, dass man Bach auch nur eine Oktav- oder Quintparallele nachweisen konnte, zumindest bei Werken, von denen ein Bach-Autograph vorliegt, das ist es ja, was mich so wundert!
 
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ok ok sorry für die redundante Information^^

Naja, in Krämers Harmonielehre ist auch irgendwo ein Beispiel einer Quintparallele im Choral "Ich will dich mit Fleiß bewahren". Ob dazu ein Autograph vorliegt weiß ich nicht. Aber du hast recht, natürlich ist es unwahrscheinlich, dass Bach solche offensichtlichen Parallelen einfach "passiert" sind :confused:
 
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Wenn Komponisten Fehler machen...

Schönberg sah den Umgang mit der Reihentechnik eher unverkrampft als dogmatisch, wie die folgende Begebenheit zeigt: Felix Greissle, Schönbergs Schwiegersohn, bekam den Auftrag, den Klavierauszug des Konzertes herzustellen. Ihm wurde die Partitur aus Los Angeles zugeschickt und er bemerkte gleich einen Fehler in der Zwölftonreihe, den er Schönberg sofort brieflich mitteilte. Schönberg antwortete aber nicht. Als der Fehler auch in den folgenden Lieferungen wieder auftauchte, schrieb er erneut, bekam aber ebenso wenig eine Antwort auf seinen Hinweis wie vorher. Kurz vor Drucklegung erreichte ihn dann eine Postkarte des Komponisten mit der lakonischen Frage: „Na und, wenn schon!?“

http://www.hr-online.de/website/rub...p?rubrik=20818&key=standard_document_19917832
 
zurückrudern - Satzfehler nur bei Alt/Tenorvertauschung

Habe nochmals den Choralsatz überprüft. Die Oktavparallele erschien im Klavierauszug, weil die Tenorstimme an dieser Stelle über der Altstimme liegt. Im SATB-Satz hat Bach doch keine Oktavparallele (obwohl sie nur durch Stimmentausch umgangen wurde), siehe Anhang mit korrekt notierten Stimmen:

Also, Johann Sebastian, ich entschuldige mich in aller Form für die gemeine Unterstellung einer Oktavparallele. Gelobe, in Zukunft genauer hinzugucken, bevor ich dem Meister sowas gemeines unterstelle :D

Die anderen Punkte bleiben jedoch bzgl. Springen von einer Konsonanz in die andere, sowie die Terzverdopplung, insbesondere Terzverdopplung mit Bass.

Gibt's dazu noch weitere Meinungen?

Naja, in Krämers Harmonielehre ist auch irgendwo ein Beispiel einer Quintparalle im Choral "Ich will dich mit Fleiß bewahren".

Handelt es sich um den Choral aus dem Weihnachtsoratorium, 3. Teil? Habe alle Stimmen gegeneinander verglichen, nirgendwo eine Quintparallele entdeckt. Oder ist es ein anderer, separater Choral? Würde mich jetzt schon interessieren, ob man dem alten Herrn doch eine Quint- oder Oktavparallele anhängen kann (in den 8 kleinen Präludien/Fugen für Orgel sollen einige drin sein, aber die werden auch mittlerweile nicht mehr Bach zugeschrieben).
 
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Ich hab nochmal nachgeschaut, es handelt sich schon um den Choral aus dem Weihnachtsoratorium. Allerdings ist es sich nur um eine nachschlagende Parallele zwischen Alt und Sopran, welche ja anscheinend unbedenklich sind. Tut mir leid, dass du dir nun die Mühe gemacht hast, das alles durchzusehen :(
 
ad 2: Wie das Terzverdopplungs-Verbot sich je in die Lehre so allgemeingültig einschleichen konnte und warum seine Gültigkeit immer wieder behauptet wird, muß ein Rätsel bleiben. Es gibt kein Terzverdopplungs-Verbot! Terzverdopplung klingt nicht schlechter als jede andere Verdopplung, sie klingt meist ausnehmend gut. Ein Terzverdopplungs-Verbot hat es nie gegeben, lediglich ein Terzverdopplungs-Gebot, nämlich beim Trugschluß und bei der Auflösung eines verkürzten D7/9.

ad 4: Da springt nichts aus gleicher Richtung in die Quinte, sondern die Quinte bleibt einfach nur liegen, das ist also keine Parallele. Ansonsten sind verdeckte Parallelen genauso wenig "verboten" wie Terzverdopplungen. Das Verbot verdeckter Parellelen ist ein ebensolcher Unsinn wie das Terzverdopplungsverbot. Beide wurden von Komponisten seit dem Barock nie beachtet.

Man verwechsle nicht alles: Der strenge Kontrapunkt Palestrinas unterliegt anderen Regeln als die Barockmusik, die Klassik anderen Regeln als die Barockmusik, die Romantik noch anderen. Gemeinsam ist allen, daß Oktavparallelen, die keine Stimmenverdopplungen sind, vermieden werden. In der Klassik gilt, daß Stimmverdopplungen keine Quintparallelen erzeugen, in der Romantik gilt das in vielstimmigem Satz auch nicht mehr.
 
Schönberg sah den Umgang mit der Reihentechnik eher unverkrampft als dogmatisch, wie die folgende Begebenheit zeigt: Felix Greissle, Schönbergs Schwiegersohn, bekam den Auftrag, den Klavierauszug des Konzertes herzustellen. Ihm wurde die Partitur aus Los Angeles zugeschickt und er bemerkte gleich einen Fehler in der Zwölftonreihe, den er Schönberg sofort brieflich mitteilte. Schönberg antwortete aber nicht. Als der Fehler auch in den folgenden Lieferungen wieder auftauchte, schrieb er erneut, bekam aber ebenso wenig eine Antwort auf seinen Hinweis wie vorher. Kurz vor Drucklegung erreichte ihn dann eine Postkarte des Komponisten mit der lakonischen Frage: „Na und, wenn schon!?“

http://www.hr-online.de/website/rub...p?rubrik=20818&key=standard_document_19917832

Das ist die Antwort eines wahren Profis!
 
@ J. Gedan:
Vielen Dank für die Ausführungen!
Warum das "Terzverdopplungs-Verbot" auch heute noch in der Lehre herumgeistert (z.B. Kirchenmusik-Hochschule Herford), verstehe ich auch nicht. Die Bach-Choräle seiner Passionen (in denen von Terzverdopplungen reichlich Gebrauch gemacht wird) empfinde ich als so ausnehmend schön, dass sich jede Kritik verbietet - im Gegenteil, man sollte besser untersuchen, warum diese Naturwunder so toll klingen.

ad 4: Da springt nichts aus gleicher Richtung in die Quinte, sondern die Quinte bleibt einfach nur liegen, das ist also keine Parallele. Ansonsten sind verdeckte Parallelen genauso wenig "verboten" wie Terzverdopplungen. Das Verbot verdeckter Parellelen ist ein ebensolcher Unsinn wie das Terzverdopplungsverbot. Beide wurden von Komponisten seit dem Barock nie beachtet.

Eigentlich meinte ich nicht, ob aus gleicher Richtung in eine Konsonanz (also Quinte oder Oktave) gesprungen wird, sondern das von einer vollkommenen Konsonanz in eine andere gewechselt wird (also von Quinte in Oktave und umgekehrt). Ich dachte, dass dies auch nicht so erwünscht ist. Aber es kann sein, dass ich wieder mal Kantionalsatz mit Barockzeit verwechselt habe :?

@ Haydnspaß:
Ist ja schon richtig, dass man als Spitzenkomponist sich über Regeln hinwegsetzen kann oder sogar sollte (wie wären sonst musikalischer Fortschritt oder Neuerungen entstanden).
Bzgl. solcher Dinge wie Quint- oder Oktavparallelen nötigt es mir trotzdem wahnsinnig viel Hochachtung ab, dass man J.S.Bach bisher, obwohl er so sehr viel geschrieben hat, trotz neuster Technik keine offensichtlichen Satzfehler nachweisen kann, jedenfalls ist mir hierzu nix bekannt (bei Werken, die eindeutig ihm zugeschrieben sind und wo Autographen existieren). Schon allein das ist eine starke Leistung.
 

@ Haydnspaß:
Ist ja schon richtig, dass man als Spitzenkomponist sich über Regeln hinwegsetzen kann oder sogar sollte (wie wären sonst musikalischer Fortschritt oder Neuerungen entstanden).

Im Fall von Schönbergs Violinkonzert, auf das sich das Zitat von mir bezieht, hat Schönberg sich eindeutig vertan in bezug auf sein selbsterfundenes Zwölftonsystem. Das Witzige dabei ist nun halt, daß er den einmal gemachten Fehler nicht korrigiert, sondern ihn im weiteren Verlauf des Stückes einfach beibehält. Das nenne ich konsequent :p

Bzgl. solcher Dinge wie Quint- oder Oktavparallelen nötigt es mir trotzdem wahnsinnig viel Hochachtung ab, dass man J.S.Bach bisher, obwohl er so sehr viel geschrieben hat, trotz neuster Technik keine offensichtlichen Satzfehler nachweisen kann


Es gibt da einen sehr skurrilen Komponisten, Louis T. Hardin, bekannt unter seinem Künstlernamen Moondog, der durchaus eine Menge Satzfehler sogar im Wohltemp.Clavier gefunden hat.

Hier ein Zitat aus einem Interview von 1992:


Hören Sie viel Musik?

Wenn im Radio Musik kommt, muß ich es ausmachen. Ich halte all diese Fehler nicht aus. Ich kann sie hören. Sogar bei Bach. Im Wohltemperierten Klavier macht er schon in der ersten Fuge in Takt zwei auf dem vierten Schlag einen schrecklichen Fehler! Am Anfang der ersten Fuge fand ich zehn Fehler - und das kleine Stück war nur etwa 20 Takte lang.
Mozart ist ebenso voll mit Fehlern. Haydn, Beethoven, sie alle. Wenn es einen Grund gibt, warum die meisten Menschen keine klassische Musik mögen, kann das daran liegen, daß sie intuitiv fühlen, daß etwas nicht in Ordnung ist. Aber daran sind nicht wir schuld, sondern die Komponisten, die ihre Hausaufgaben nicht gemacht haben.


von der Seite www.moondogscorner.de,
J.Gedan hat nun auch den Direktlink zum Interview herausgeknobelt. Danke :)


Ich bin allerdings nicht Moondog's Ansicht, daß die "Fehler" Mängel sind. Letzten Endes zählt der musikalische Geschmack des Komponisten, und wenn dabei eine "Regel" verletzt wird, kann ich nur mit Schönberg sagen: na wenn schon... :)
 
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Nach einmal ad 4 und ein anderes kleines Beispiel dafür: WTK I, dis-moll-Fuge, Takt 3, Einsatz des Soprans, wo im Alt das dis' liegen bleibt, während der Sopran von ais' nach dis'', also von der Quinte in die Oktave springt. Noch schöneres Beispiel im selben Stück in Takt 52, wo alle drei Stimmen um ein Viertel versetzt enggeführt sind:
1. Viertel: Baß Ais, Alt ais', (Sopran cisis'')
2. Viertel: Baß dis, Alt ais
3. Viertel: Baß dis, Alt dis', Sopran ais'
4. Viertel: Baß dis, Alt dis', Sopran dis''
Lauter vollkommene und, abgesehen vom ersten Viertel, wo der Sopran auf cisis'' endet, terzlose Konsonanzen. Die Wendung Quinte-Oktave kommt zahllos vor in den Kadenzen der zweistimmigen Inventionen (allerdings immer mit antizipiertem Sopran-Grundton), s. Invention 1, G-dur-Schluß von Takt 6 auf Takt 7, a-moll-Schluß von Takt 14 auf Takt 15. Die Unterscheidung von vollkommener und unvollkommener Konsonanz ist eine Sache des Kontrapunkts zu Palestrinas Zeiten. Auch andere Regeln des Kontrapunkts (wie: Dissonanzen sind immer vorzubereiten und schrittweise zu erreichen) gelten für Bach nicht mehr.

Der Direktlink zu Haydnspaß' Zitat lautet: http://www.moondogscorner.de/interviews/inter7.html
Moondog macht genau den Fehler, daß er einen Stil an den falschen Regeln mißt, wenn er behauptet, in Takt 2 der C-dur-Fuge fänden sich "Fehler". Offenbar meint er die Durchgangsnoten, die zu unvorbereiteten Dissonanzen führen. Dann wäre allerdings Bachs Musik voller Fehler. Aber es ist völliger Quatsch, Musik von Bach, Mozart oder Beethoven anhand von Regeln bewerten zu wollen, die einen ganz anderen Stil beschreiben; und die Behauptung, die Komponisten hätten sich alle nicht genügend Zeit zur Fehlerkorrektur genommen, ist abstrus ("Ich bin wahrscheinlich der einzige lebende Komponist, der kontrapunktische Fehler vermeidet [...] Ich habe das Gefühl, er [Bach] hat sich nicht die Zeit genommen, jeden Teil, jede Note zu analysieren...").

Regeln sind nämlich keine ewig gültigen Gesetze oder gar willkürlichen Beschlüsse, sondern beschreiben lediglich, wie in einem bestimmten Stil komponiert wurde. Will man diesen Stil kopieren, muß man sich also an die Regeln halten. Wo Komponisten tatsächlich einmal Fehler gemacht haben, sind diese so selten, daß man nicht sagen könnte, die Regeln gelten nicht, sondern -- da hat Haydnspaß völlig recht -- wie Schönberg nur antworten könnte: Na und?

Übrigens hat Moondog ja sowieso alle Weisheit der Welt und der Musik für sich gepachtet:
"Ich bin ein Bote und berichte nur, was ich herausgefunden habe. Und mein Dank dafür wird sein, daß ich umgebracht werde. Was ich entdeckt habe, ist sehr gefährlich, denn es wirft Theorien um. [...] Wir sind das Zentrum des Universums. Man muß nicht rausschauen und nach dem Zentrum des Universums suchen, das ist direkt hier, wo wir sind. Ich bin stolz, daß ich das entdeckt habe. Ich will dafür keine Anerkennung. Ich bin darüber gestolpert. Ich habe diese Botschaft nicht einmal gesucht. Ich habe nur nach einem Weg geschaut, wie ich die Obertöne in eine thematische Struktur bringen kann."
Das darf man wohl getrost als dieselbe Spinnerei bezeichnen wie die abstruse Behauptung, Bach hätte lauter Fehler gemacht.
 
Habe einige Einträge hier gelesen, wo immer mal gefragt wurde, ob es bei Bach irgendwo Quint- oder Oktavparallelen gibt. Hinzuzufügen wären die Einklangsparallelen, die im polyphonen Satz ebenfalls verpönt sind. Nun, das alles gibt es tatsächlich bei Bach. Ich beschränke mich auf ein Werk, das ich selbst bei IMSLP ediert und und mit Kommentaren versehen habe: das Konzert C-dur für 2 Cembali senza ripieno BWV 1061a.

3. Satz, T. 34: Hier findet sich in der frühesten Quelle (einer von Bach selbst durchgesehenen Abschrift seiner Frau Anna Magdalena) eine Quintparalle zwischen 8. Note d"/9. Note c“ im Diskant von Cembalo 2 zum Diskant von Cembalo 1 (a"/g"). Erst in der späteren Fassung mit Ripieno wurde die 9. Note c" (Cembalo 2) zu h’ korrigiert, wodurch zwar die Quintparallele beseitigt wurde, dafür aber ein anderer Nachteil in Kauf genommen wurde: durch die Korrektur wurde die an dieser Stelle erscheinende Dreiklangsbrechung gestört.

Noch interessanter ist ein gegenläufiges Beispiel aus dem 1. Satz dieses Konzerts, wo Bach einen zuvor kompositorisch untadeligen Satz unter Inkaufnahme einer Oktavparallele verändert, um, so jedenfalls meine Deutung, die musikalische Gesamtwirkung der Stelle überzeugender zu gestalten. Diese Korrektur ist durch die Quellenlage für T. 94 belegbar, im Falle der 4 Parallelstellen (T. 7, T. 35, T. 135, T. 160) haben alle erhaltenen Quellen nur noch die Korrekturversion mit Oktavparallele. (Näheres in meinem Editionskommentar zu T. 94).

Ebenfalls Ergebnis einer Revisionskorrektur sind m.E. die 3 Einklangsparallelen in T. 153 desselben Satzes zwischen dem Diskant beider Cembali, die umso auffallender sind, als Bach an der entsprechenden Vorgängerstelle in T. 80 drei Sextenparallelen schreibt Die drei Einklangsparallelen in T. 135 verstehe ich als Kunstgriff, mit dem Bach die selbständige Stimmführung des Cemb. I zunächst verringert, um ihm sodann, nach 2 Achtelpausen, in T. 154 mit den 4 Akkordschlägen der Quintfallkadenz a‑moll – d‑moll – G‑dur – C‑dur (2. - 5. Taktachtel) für einen kurzen Moment eine rein begleitende Rolle gegenüber Cemb. II zuzuweisen.



Mit diesem Werkstattbericht wollte ich deutlich machen, vor welchem reichen gedanklichen Hintergrund sich "Satzfehler" bei Großmeister Bach finden, ein Hintergrund, der die Hochachtung vor seinem Werk nur steigern kann!
 
Ich schließe mich deiner Auffassung fast hundertprozentig an - nur habe ich die Oktavparallelen in T. 94 und den Parallelstellen noch nie als Satzfehler empfunden. Bach hat ja hier nicht einen konsequent stimmigen Satz geschrieben - von Zweistimmigkeit bis hin zur Achtstimmigkeit wechselt er ständig die Textur. An dieser Stelle wechselt der Satz ohnehin von der Vierstimmigkeit in die Dreistimmigkeit. Mit der Änderung von a' zu f' passiert dieser Wechsel lediglich eine Note früher. Durch die Doppelung des Basstones verstärkt er den "Signalcharakter" der Subdominante, was die harmonische Progression hier zwingender macht.

Eine tolle Arbeit hast du da geleistet!
 
Vielen Dank, Mick, für deinen interessanten Diskussionsbeitrag! Ich hatte meinen obigen Beitrag in der Hoffnung auf solchen gedanklichen Austausch verfaßt und darum erstmal auf allzu genaue Details verzichtet. Die von dir angesprochene Oktavparallele in T. 94 ist ja objektiv vorhanden, es handelt sich also um einen Befund, den ich gedeutet habe, und die Deutung ist nun wiederum subjektiv. Das Spannende an dem Befund ist ja: die Oktavparallele ist das Ergebnis einer Revisionskorrektur Bachs, also mit voller Absicht gesetzt und eben nicht aus Versehen. Ich zitiere jetzt wörtlich meinen Editionskommentar zu dieser Stelle, der sich mit deiner Analyse teilweise deckt, um den Sachverhalt noch etwas zu vertiefen:

Takt 94, Cembalo I Baß: 4. Note f in (1) und fast allen anderen Quellen, wodurch eine Oktavparalle zu Cemb. II Baß ensteht. (2) bietet als Textzeuge, der nicht auf (1), sondern mutmaßlich direkt auf die verschollene Originalpartitur der Solofassung zurückgeht, an dieser Stelle die wohl ursprüngliche, satztechnisch untadelige Lesart a. Das f ist demzufolge Ergebnis einer Korrektur, die m.E. nur auf den Komponisten selbst zurückgehen kann, da sie ihrerseits gut begründet ist: Sie führt die Imitation (zwei absteigende Sekunden und Sext aufwärts) aus dem Vortakt weiter; sie verdeutlicht die harmonische Funktion des vierten Taktviertels (die Subdominante in heutiger Terminologie), indem sie den Subdominant-Grundton bringt, wobei auch der aufsteigende Sekundschritt f-g gegenüber der absteigenden Linie im Diskant von Cemb. I zu einer kraftvolleren Akzentuierung der Fortschreitung Subdominante – Dominante führt. Um solcher Vorteile willen bringt Bach das Opfer der Oktavfortschreitung offenbar gern, zumal sie in den auf dem Oktavklang G-g beruhenden Orgelpunkt der T. 94/2 – 95/1 mündet und damit klanglich unauffällig bleibt. Folgerichtig begegnet die Oktavfortschreitung an allen vier Parallelstellen des Satzes (T. 7, T. 35, T. 135, T. 160).

Eine weitere Anmerkungen von dir, Mick, ist vollkommen richtig: die Textur des Satzes ist nicht einheitlich. Es gibt zahllose nicht-polyphone Akkorde, es gibt auch Oktavparallelen im Baß (3. Satz) im Sinne einer Oktavverdopplung des Fugenthemas, ein Effekt, der aus der späteren Klavierliteratur nicht wegzudenken ist, mit dem Bach aber noch sehr sparsam umgeht. Und zum anderen finden sich Stellen, wo ein Cembalo das andere wie ein Continuo-Cembalo begleitet; auf letzteres habe ich im Zusammenhang mit den Einklangsparallelen hingewiesen. Von solchen Phänomen abgesehen folgt die zweiklavierige Textur des Satzes dennoch im Großen und Ganzen den Gesetzen des polyphonen Satzes.
 
Zur Erläuterung des obigen Zitats noch: (1) ist die Hauptquelle der Solofassung, eine vom Komponisten revidierte Stimmenabschrift von der Hand Anna Magdalena Bachs; (2) ist eine Partiturabschrift von Satz 1 der Solofassung von unbekannter Hand aus der 2. Hälfte des 18. Jhds., die vermutlich direkt auf die verschollene Originalpartitur der Solofassung zurückgeht und einige ursprüngliche Lesarten überliefert, die vor (1) zurückreichen.
 
Ich bin mir übrigens nicht so sicher, dass die Orchesterfassung von Bach selbst ist. Ich kann mir irgendwie nicht vorstellen, dass Bach diese für ihn kaum typischen, unselbstständigen Orchesterstimmen einfach so hinzugefügt hätte, ohne den Klaviersatz anzupassen. Wenn er älteres Material weiterverwendet hat, ging das bei ihm in aller Regel mit einer größeren Umarbeitung einher.

Aber mehr als eine Vermutung ist das natürlich nicht.
 
Ja, auch das ist eine interessante Frage: stammt der später hinzugefügte Orchestersatz von Bach oder nicht?

Nun, die Frage wird eingehend untersucht in einem Aufsatz des Mitherausgebers des C-dur-Konzerts im Rahmen der NBA, Karl Heller: Zur Stellung des Concerto C-Dur für zwei Cembali BWV 1061 in Bachs Konzert-Oevre, Bericht über die wiss. Konferenz zum V. Intern. Bachfest der DDR etc. 1985, Leipzig 1988, S. 214-252.

Heller kommt aufgrund seiner Analyse der kompositorischen Faktur des Orchestereinbaus, die durchaus nicht so simpel ist, wie es prima vista erscheint, zu der eindeutigen Aussage, keiner als der Komponist selbst könne der Urheber des Orchestersatzes sein.

Ich selbst habe dazu keinen eigenen Untersuchungen angestellt und beschränke mich auf biographische Aspekte, indem ich die Orchesterfassung am ehesten mit einer Aufführung im Rahmen der Konzerte des Bachischen Collegium Musicum in Verbindung bringe.

"Warum aber schuf Bach zuvor ein Doppelkonzert für zwei Cembali ohne Begleitung? Die
entsprechenden werkgenetischen Mutmaßungen von Heller und Schulze haben auch in
diesem Fall einen biographischen Hintergrund: BWV 1061a könnte im Hinblick auf die Reise
Bachs nach Dresden Ende Juli 1733 in der Absicht entstanden sein, sich dort gemeinsam mit
seinem Sohn, dem frischgebackenen Sophienorganisten Wilhelm Friedemann öffentlich an
zwei Cembali hören zu lassen. Dies klingt umso einleuchtender, als wir ein Schwesterwerk
des ältesten Bach-Sohnes aus dem gleichen Zeitraum besitzen: das Concerto a duoi Cembali
concertati F-dur (Fk 10), von dem wiederum eine Stimmenkopie des Vaters aus den Jahren
1734-36 existiert."

Der letzte Absatz ist ein Zitat aus meiner Einleitung zur Edition.
 
Ja, auch das ist eine interessante Frage: stammt der später hinzugefügte Orchestersatz von Bach oder nicht?

Nun, die Frage wird eingehend untersucht in einem Aufsatz des Mitherausgebers des C-dur-Konzerts im Rahmen der NBA, Karl Heller: Zur Stellung des Concerto C-Dur für zwei Cembali BWV 1061 in Bachs Konzert-Oevre, Bericht über die wiss. Konferenz zum V. Intern. Bachfest der DDR etc. 1985, Leipzig 1988, S. 214-252.

Heller kommt aufgrund seiner Analyse der kompositorischen Faktur des Orchestereinbaus, die durchaus nicht so simpel ist, wie es prima vista erscheint, zu der eindeutigen Aussage, keiner als der Komponist selbst könne der Urheber des Orchestersatzes sein.

Ich selbst habe dazu keinen eigenen Untersuchungen angestellt und beschränke mich auf biographische Aspekte, indem ich die Orchesterfassung am ehesten mit einer Aufführung im Rahmen der Konzerte des Bachischen Collegium Musicum in Verbindung bringe.

"Warum aber schuf Bach zuvor ein Doppelkonzert für zwei Cembali ohne Begleitung? Die
entsprechenden werkgenetischen Mutmaßungen von Heller und Schulze haben auch in
diesem Fall einen biographischen Hintergrund: BWV 1061a könnte im Hinblick auf die Reise
Bachs nach Dresden Ende Juli 1733 in der Absicht entstanden sein, sich dort gemeinsam mit
seinem Sohn, dem frischgebackenen Sophienorganisten Wilhelm Friedemann öffentlich an
zwei Cembali hören zu lassen. Dies klingt umso einleuchtender, als wir ein Schwesterwerk
des ältesten Bach-Sohnes aus dem gleichen Zeitraum besitzen: das Concerto a duoi Cembali
concertati F-dur (Fk 10), von dem wiederum eine Stimmenkopie des Vaters aus den Jahren
1734-36 existiert."

Der letzte Absatz ist ein Zitat aus meiner Einleitung zur Edition.

Danke für die Information! Den erwähnten Aufsatz werde ich auch mit großem Interesse lesen.

Mir ist bisher kein Fall bekannt, dass man Bach auch nur eine Oktav- oder Quintparallele nachweisen konnte, zumindest bei Werken, von denen ein Bach-Autograph vorliegt, das ist es ja, was mich so wundert!

Zum Thema Satzfehler: die Quintparallele im 4. Takt des Chorals "Bin ich gleich von dir gewichen" in der Matthäus-Passion empfinde ich als richtig unschön und störend. Leider nicht so leicht zu vermeiden!
 

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