1. ) "Realitätsflucht" ist meiner Ansicht nach ganz und gar unangemessen. Was bedeutet es denn in der "Realität" zu stehen? Ist das Wirkliche das, was ein Mensch für die Gesellschaft leistet? Wird der Mensch (wie bei Marx) über seine Produktivität definiert? Auch in unserer kapitalistischen Leistungsgesellschaft, bei der es um "Wertzuwachs" geht (nicht umsonst ist beinahe das ganze Wort auf unseren Tastauren nebeneinander geordnet) besteht die Gefahr, Leistungsfähigkeit und Nutzen zu überbetonen.
2. ) Stehen wir da nicht bei einer Mentalität, die den Menschen als Mittel zum Zweck degradiert? Künstlerisches Schaffen ist zunächst einmal zweckfrei, und doch nicht sinn-los. In der Kunst erfährt der Mensch seinen Wert außerhalb aller Zweckdienlichkeiten. Er darf etwas für sich tun.
3. ) Er darf Freude finden. Er kann in der Kunst seine ureigene Würde erfahren. Er kann sich zum Ausdruck bringen und realisieren. In einem weiteren Sinn findet man in dieser Bestimmung einen "intrinsischen" Zweck: zu erfahren, nicht verzweckt zu werden.
4. ) Und dies impliziert selbstverständlich auch das Streben nach Verbesserung und Vollendung. "Realität" ist ein nur scheinbar objektiver Begriff, denn die Wirklichkeit bildet sich im (und nach den Erkenntnissen der Quantenphysik sogar durch) den Betrachter ab. So ist die subjektive "Realität" stets exklusiv, und kann höchstens durch Kommunikation, Empathie und Beobachtung vermittelt oder von anderen eingeschätzt werden.
5. ) Selbstverständlich gibt es dabei intersubjektive Vereinbarungen, die als "objektive Realität" bezeichnet werden: in Anführungsstrichen...
6. ) Kurz: Kunst hat eine zunächst einmal unverzweckte Dimension, die den Menschen auf sein ureigenstes Wesen, den Wert und die Würde seines Menschseins außerhalb aller Zweckbestimmungen aufmerksam macht. Und das hat sie sogar mit der Religion gemeinsam, ohne jedoch transzendieren zu müssen.
Hallo Stephan,
ich kann in einigen Punkten nicht gänzlich zustimmen, bzw. sehe ich einige Punkte anders. Ich habe sie numeriert, und möchte folgendes zu den einzelnen sagen:
1. ) Die Realität ist das, was der Mensch erfährt. Ist sie manchmal nicht schön, oder ist sie manchmal zu langweilig, möchte der Mensch aus ihr für eine gewisse Zeit fliehen, und das ist Realitätsflucht. Was der Mensch für die Gesellschaft " leistet", das gehört da eigtl. nicht so wirklich hin, denk ich, denn seine Leistungen für die Gesellschaft beruhen auf a ) seinen durch seine Fähigkeiten ihm durch gesellschaftliche Konventionen ( Arbeit in jeder Form, körperlich, wie geistig, und auch "schaffe schaffe" , Beruf ) zugesprochenen individuellen Anteilen am Einbringen dessen, was alle auf Basis dieser Konvention auch tun müssen oder sollten. b ) Doch auch für Hobbies gilt ein gewisser Nutzwert für die Gesamtgesellschaft, denn auch Hobbies müssen finanziert werden, man benötigt Material zu ihrer Ausübung, und das muss man käuflich erwerben. Außerdem braucht man auch für Hobbies ein Maß an Können, Intuition und Begabung, dessen Amplitude, vergleicht man einzelne Individuen, zwar ein großes Spektrum abdeckt ( von "fast kein Können vorhanden" bis zu "savant-ähnlichen Begabungen" ), aber dennoch notwendig ist.
Zur Tastatur: Das gilt nicht für amerikanische Tastaturen ;) Dort hieße es "Wertyuwachs" ... vielleicht sind also wegen den Tastaturen die Deutschen so strebsam ?
2. ) Künstlerisches Schaffen ist m.E. keineswegs zweckfrei , sondern erhebt zunächst einmal den Menschen aus der Gruppe derjenigen heraus, die NUR Gesellschaftliche Pflichtkonventionen erfüllen. Und damit hat es bereits einen Zweck. Der Zweck ist aber weiterhin auch individuell vom Menschen gesteuert, jedoch nur dann, wenn der Künstler auch etwas mit seiner Kunst ERREICHEN will, hat sie wirklichen Zweck. Andere Kunst ist planlos und zwecklos. Der "Erreichungs"- Zweck kann von sehr hehren Vorstellungen ( "ich will die und die Misstände durch meine gezeigten künstlerischen Leistungen anprangern" ( wobei ich hier nicht zwischen Hobby und Beruf unterscheide ) - das wäre zum Beispiel eine positive Basiskonfiguration der Gedanken eines Künstlers.
Aber der Mensch kann Kunst auch als Waffe verwenden, zur Beeinflussung anderer nach seinem Willen.
Und, Stephan in genau diesem Zusammenhang gibt es, und da gehts weiter mit Deinem
Punkt 3. ) , Menschen, die auf ihre "ureigene Würde" pfeifen, - allerdings sehr GROßE Freude dennoch an ihrer Verwendung der Kunst ( als INSTRUMENT, und Waffe ) finden. Da können wir ganz sicher sein.
Punkt 4. ) : Erster Satz: jaa, allerdings. Besonders unter den in Punkt 3 genannten Aspekten. ;) . Und natürlich bildet sich die Realität im Betrachter ab, sie wird zum Spiegel, auch auf einem Forum, wie hier, ist das jederzeit ersichtlich, und kommuniziert werden kann sie sicher. Aber zum empathieren UND zum Einschätzen genügt es nicht, lediglich einen BLICK auf diesen Spiegel zu werfen. Das genügt nicht. Man muss, um Realitäten innerhalb eines größeren Kontinuums, das ich "Leben" nenne, erstmal genügend "Realitäten" angesammelt haben, um "einzuschätzen" oder "zu empathieren". Und dazu gehören wiederum ganz bestimmte Eigenschaften, die nicht in gleicher Weise bei jedem Menschen vorhanden sind. -- Doch das führt an dieser Stelle zu weit, denke ich. Daher lasse ich das aus.
Punkt 5. ) : Diese Vereinbarungen ( non-verbal meist, und durch weitere Konventionen "stillschweigend" Einzug gehalten habend in der Menschheitsentwicklung ) gelten aber nicht für alle Menschen. Es gibt welche, die sie modifizieren können, und es gibt welche, denen sie egal sind. Und es gibt welche, die beides tun. Sie entziehen sich somit den bisherigen Vereinbarungen, und gestalten neue, nach ihrem eigenen Willen.
Das gilt für "Verhalten" allgemein, aber in allerhöchstem Maße für das, was wir "Kunst" und deren Verwirklichung nennen! Und das ist ein ganz wichtiger Punkt, den wir insgesamt "Individualität" nennen. Mit all seinen GEFAHREN, STÄRKEN und SCHWÄCHEN.
Gäbe es diesen Punkt nicht: Wie langweilig wäre die Welt!
Zum Punkt 6. ) : Da bin ich nicht Deiner Meinung, denn Kunst ist von Anbeginn der Zeiten zweckbestimmt, der Urmensch schnitzte aus dem Horn einer Höhlenziege ein kleines Pferd, oder eine Fruchtbarkeitsfigur, und schenkte das dann seiner Angebeteten,
DAMIT sie bestimmte Aktivitäten vollführte, und ihn als Gefährten in Gefahren für ein Leben lang akzeptierte. Der Pianist spielt, DAMIT er vermittelt und klarmacht, dass er Dinge kann, die andere nicht können. ( Als Neben-Produkt ist dann die Sache mit "das Publikum erfreuen mit toller Klang - ( wie nennt Ihr das ? "Gestaltung" ) beiläufig zu erwähnen. Aber auch nicht mehr.
Und das "Menschsein", wie Du es hehr formulierst, hat zunächst mal keinen Deut Würde, und diese ist auch nicht sein ureigenstes Wesen, denn der Mensch ist ein Vernichter, Jäger und Killer, wie bereits andernorts erwähnt. ABER die Kunst ( und damit die Musik ) kann ihn teils zu einem sanften, lieben Schaf werden lassen, und das finde ich toll, denn genau dadurch ist dem Menschen ein Instrumentarium zugänglich, wodurch er sich seine EIGENE Würde selbstständig und alleine, GANZ alleine, und immer alleine, zu schaffen in der Lage ist. Und
DAS ist, nach meiner Ansicht und bisherigen Erfahrung, seine ureigene Zweckbestimmung.
Mja.
LG, - LMG -