Künstlerischer Schaffensprozess vs Rezeption

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Gefallener

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Ich schaute mir dieser Tage ein Analysevideo der 1. Invention in C von Bach an, wo alles in Motive aufgegliedert und behinweist wurde.

Im Grunde riss das alte Wunden auf, an die ich schon lange nicht mehr gedacht.

Ich fragte mich, ob die Analyse nicht nur ein nachträglich übergestülptes Werkzeug ist, an dem man dann Vokabular wie Christbaumkugeln aufhängt, nur dass der Christbaum die Sphinx ist und die Sphinx eben jenes oben genannte Beispiel.

Und vor nunmehr vielen Jahren wohnte ich einer Vorlesung eines meiner Lieblingsdichter bei. Ich fiel aus allen Wolken. Da sezierte irgend eine aufgetakelte Henne vor der anwesenheitspflichtigen (hellwachen) Audienz an einer Strophe, wie ein obskurer, von sich höchst überzeugter Lobotomist an meinem offenen Herz. Orakelte etwas von Hebungen und Senkungen und fackelte ihren ganzen Vorrat an jahrelang mühsam zusammengeklau(b)ten Jägerlatein ab, dass es mir das Gescheide umkehrte und um ich Fassung rang.

Ja, stimmt, der mittlerweile mittellose, überworfene, verkannte, ehedeme Avangardist und Stürmer und Dränger, er würde wissen was die Pute faselt, hatte er doch nichts besseres zu tun als in seinem fiebrig enttäuschten Lebens und Liebeswahn sich über die Hebungen und Senkungen eines Versfußes Gedanken zu machen, einem Uhrmacher gleich das zu resezieren (s.o.), was die hoch dekolletierte Professorin auseinanderklamüserte.

Und ja, auch ein weinseliger, liebestrunk´ner Vornationalist, hat "einfach nur geschrieben". Sich im Eifer, Prozess der Mittel und Zwecke bedient, in die er zeitlebens hinein sozialisiert und hie und da gebrochen. ABER er hat nicht an den Fingern abgezählt wie viele Jamben noch Fehlen bis zu seiner Unsterblichkeit.


Und wenn ich nun ganz gleich welchen Künstler betrachte, wird es mir schlecht und es kommt einer Götterdämmerung gleich, jene auf die Ebene zu setzen die, um nur ein bisschen zu sehen, Knochen für Knochen freipinseln, kartographieren, abpausen, schieblehren und zu lustigen Knochengerippen zusammenbasteln an die sie glauben wollen.

Ich kann und will nach wie vor nicht glauben, dass der künstlerische Schaffensprozess nichts anderes als eine Vorwegnahme dessen ist, was die Wissenschaft daran vermessend feststellt.

Meines Erachtens nach ist "dem Künstler" das kodifizieren in künstlerisch erfahrbares innewohnend und erfolgt zum größten Teil unbewusst, so dass er sich nicht so viele Gedanken über "Huch, das ist gar nicht Teil meines Motivs. Ach herrje, Was mach ich nun, was soll die Nachwelt, was sollen all die Klavier Foristen sagen, wenn sie zwei Noten nicht beziffern können.., es könnte an der Stelle niemand den anderen ob seiner Ignoranz verachten."
 
Mann, red doch einfach mal normal.

Aber wahrscheinlich bildest Du Dir ein, dieser geschraubte Schreibstil sei "künstlerisch" und zeige, was für ein besonderer, kreativer Mensch Du bist.
 
Kann man so nen schwülstig-assoziativen Schreibstil irgendwo lernen, in der Toskana vielleicht, nach dem Töpfern?
 
Da versucht sich einer in gehobener Literatur und schon kommen auf anderem Gebiet Talentierte nicht mit der Erfahrung zurecht, dass eine bestimmte Kunstform nicht zugänglich für sie ist. Und projizieren ihre Unfähigkeit auf den Urheber, dass er sich irgendwie irgendwas einbilden würde. Mehr als ein Versuch ist das aber nicht wirklich. Ich bewundere den Mut, das in ein Klavierforum zu posten und sich geballtem Unwissen und Ignoranz auszusetzen.

Jazzpianisten haben halt auch nur gelernt, möglichst stilvoll ihr Instrument zu beackern. Nach dem Motto: Mache Murks, steh dazu und vielleicht wird irgendwann irgendwer darin Kunst sehen. Bei Jazz hab ich regelmäßig ein regelrechtes Gefühl, von Amusie befallen zu sein. Bin wohl auf ewig verdammt, TEY toll zu finden. Tja. Dafür kann ich in der Nase bohren, ohne dass es jemand sieht, und wenn doch mal, wasch ich mir einfach backstage die Hände und spiele weiter.
 
Meines Erachtens nach ist "dem Künstler" das kodifizieren in künstlerisch erfahrbares innewohnend und erfolgt zum größten Teil unbewusst, so dass er sich nicht so viele Gedanken über "Huch, das ist gar nicht Teil meines Motivs.

Wenn ich dich recht verstehe, rekonstruierst du innerhalb deines eigenen Erfahrungshorizonts den alten Gegensatz zwischen Regel- und Geniepoetik. Dazu ist schon so unübersehbar viel gesagt, dass du vielleicht gut daran tätest, nach einer kurzen Einführung zu diesem Gegensatzpaar zu suchen, der dir helfen könnte, deine eigenen Vorstellungen besser auf Begriffe zu bringen. Am Ende wirst du vermutlich doch da herauskommen, wo solche Diskusionen praktisch immer, auch schon in der Antike geendet haben. Man kommt weder mit Genie noch mit poetischem Regelwerk alleine aus, sondern, um es auf die Formel von Horaz' Poetik zu bringen, ars und ingenium, Beherrschung des Handwerkszeugs und Genie zusammen, machen gute Dichtung aus und begründen den Unterschied gegenüber den Reimen aus dem Computer hier und denen aus der Seele der heißblütigen Postsparkassenbeamtin dort.
 
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Bach ohne Anneliese (und allzeit bewusstes Handeln - das seine Zeitgenossen sowieso viel einfacher als wir verstanden..)? Undenkbar. Da wird's erst kritisch, wenn mit vierstelligen Zahlenkolonnen (am offenen Her(t)zen) operiert wird. Auch das wird ja gemacht.
"Gewiss rechnete Bach gern, und Musik war für ihn Mathematik. Aber die Wurzel liebte er eher auf dem Mittagstisch, gedünstet, nicht zu stark gesalzen und heiss serviert."
https://www.eurozine.com/der-geometrische-komponist/
 

Es gibt in diesem Zusammenhang eine sehr instruktive Anekdote, die recht gut belegt ist und so oder ähnlich wohl auch stimmen mag:

Stadlen erinnerte sich später: »Als Webern dabei sang und brüllte, mit den Armen wedelte und den Füßen stampfte, um den Inhalt der Musik zu verdeutlichen, war ich verblüfft darüber, ihn diese wenigen, fragmentarischen Noten wie Kaskaden von Klängen behandeln zu sehen.«

Viele jedoch begriffen den Komponisten als Spinnweberknecht, der auf dem Weg in die toten Winkel des Serialismus war. Das stimmte Webern furchtsam. Er wandte sich an Adorno und schrieb dem »lieben Dr. Wiesengrund« einen flehenden Brief, er möge statt einer theoretischen Analyse lieber den leibhaftigen Pianisten Stadlen zur Kenntnis nehmen: »Lassen Sie sich von ihm meine Variationen vorspielen!« Stadlen hätte Adorno mit aufschlussreichen Details versorgen können; er hätte ihm flüstern können, dass Webern beim ersten Satz (»Sehr mäßig«) an Brahms’ späte Intermezzi und beim zweiten (»Sehr schnell«) an die Badinerie aus Bachs h-Moll-Ouvertüre gedacht hatte.

Webern soll dann auch gesagt haben, dass den Intrpreten das Analytische weniger angehe!
Bis heute ist es - zurecht!! - üblich, die Konstruktion dieses Stückes in Analyse-Seminaren aufzudröseln. Aber dabei darf es bei einer Interpretation - verbal oder am Klavier - nicht sein Bewenden haben.
Der Aberglaube, es sei für eine beseelte Darbietung schädlich, wenn man kapiert, wie es gemacht ist, ist offenbar schwer auszurotten.
Das Schönberg Webern und J. S. Bach da immer wieder als Beispiel dienen liegt nahe. Aber auch Beethoven, Chopin und Scriabin profitieren vom doppelten Interpretationsansatz: Analyse UND Empfindung!
 
Warum sollten alle Künstler gleich sein? Es gibt sicher welche, die eher intuitiv arbeiten, und welche, die sich dem Komponieren von was-auch-immer (Musik, Malerei, Text,...) eher analytisch nähern. Das eine ist nicht besser als das andere, genausowenig, wie ein Mensch besser ist als ein anderer. Überhaupt finde ich es unnötig, gar schädlich (!) ständig eine äußere Referenz finden zu müssen, die das eigene So-Sein erklärt oder rechtfertigt. Am Ende ist zumindest in diesem Fall die Frage, welche Werke mehr berühren, verwundern, Klang schaffen, zum Nachdenken anregen, Spaß machen etc.

Garantiert hat allerdingss Bach gewusst, was er tut, da bin ich mir sicher. Genauso wie auch Escher nicht rein zufällig optische Täuschungen gemalt haben kann. Man kann nicht "aus Versehen" eine vierstimmige Fuge schreiben, das ist unmöglich. Man kann mit viel Begabung, Übung und Wissen sicher eine Art "Intuition" entwickeln, die es einem erlaubt, Fugen sehr gut zu improvisieren, ohne ständig darüber nachdenken zu müssen, ob der Comes nun real oder tonal gespielt wird, oder welche Vorzeichen in der Quintfallsequenz dazukommen müssen, um von x nach y zu modulieren.

Vor allem schadet es in keinster Weise, zu wissen, was man tut. Ich habe auch ziemlich lange ignorieren wollen, dass die Musiktheorie (die nichts anderes ist als die Grammatik der Musik) mir beim Spielen helfen kann. Inzwischen ist mein Theorieverständnis umfangreich genug, um mir das Gegenteil zu beweisen (auch wenn ich noch längst, längst nicht alles weiß, was es da zu wissen gibt... Gefühlt habe ich vielleicht Sprachniveau B1...)

Ich würde das eher andersherum formulieren. Ein musikalisch empfindsamer Mensch spürt intuitiv das, was er sich selbst mit entsprechendem Tonsatzwissen begründen und erklären könnte (ähnlich einem Kind, das nach und nach Worte und Begriffe für diffus empfundene Gefühle kennenlernt). Auch aus dieser Intuition heraus kann man bereits sehr gut musizieren! Aber das Musikverständnis wird auf eine höhere Ebene gehoben, wenn man die Struktur versteht. Es kommt dann ein neuer Blickwinkel hinzu, der einen sowohl noch näher heran als auch weiter zurücktreten lässt, noch feinere Abstufungen möglich macht und die Gesamtheit des Stückes begreiflicher macht. Klingt etwas merkwürdig, aber ich finde das nicht leicht in Worte zu fassen.
Ich kann mir vorstellen, dass wenige Musiker mit fast nur dieser Intuition sehr gut spielen, hochbegabte Kinder zum Beispiel. Aber auch bei denen wird es selten dabei bleiben, wenn sie älter werden.
 
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Das mit den heißen Postbeamtinnen habe ich verstanden.

CW
 
Und wenn ich nun ganz gleich welchen Künstler betrachte, wird es mir schlecht und es kommt einer Götterdämmerung gleich, jene auf die Ebene zu setzen die, um nur ein bisschen zu sehen, Knochen für Knochen freipinseln, kartographieren, abpausen, schieblehren und zu lustigen Knochengerippen zusammenbasteln an die sie glauben wollen.

Ich hab den Beitrag von @Gefallener, der mit "künstlerischer Schaffensprozess vs. Rezeption" betitelt ist, nicht so verstanden, dass es ihm darum ging "Handwerk" als wichtiger Teil eines künstlerischen Schaffensprozesses in Abrede zu stellen.
Es schien mir eher darum zu gehen, sezierende Sekundärliteratur in die Schranken zu verweisen. In diesem Bereich agieren eben oft Persönlichkeiten, die sich mit ihrem Tun ungerechtfertigterweise allzu sehr in den Mittelpunkt stellen, wirklich kulturschaffend sind diese dagegen nur bedingt.
 
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@Felix Hack
Das ist eine gewagte These. Kannst du Beispiele nennen für Persönlichkeiten, die sich in den Mittelpunkt drängen? Diese Formulierung impliziert ja auch, dass andere, die es verdient hätten, aus dem Mittelpunkt verdrängt werden. Wer wäre das dann bzw. in welcher Situation ist so etwas vorgekommen?
 
Dazu gibt es in jedem Fall auch Gegenbeispiele. Oder weiß die breite Masse hier, wer Wolfgang Schmieder ist? Nein? Wusste ich auch lange nicht. Es ist der Begründer und Ersteller des BWV, Bachwerkeverzeichnis. Er hätte es auch Schmieder-Verzeichnis nennen können, schließlich gibt es auch kein MWV, Mozart-Verzeichnis... Oder Schubert verzeichnis SWV...
Am einfachsten wäre natürlich, alle Komponisten verwendeten Opuszahlen.
 

Das wäre wohl eine Frage, die man an die Zentralverwaltung der Deutschen Postschnecke richten müsste. Ich kannte jedenfalls vor Olims Zeiten eine dichtende solche, die nicht zu ihrem Schaden "Hebungen und Senkungen" ernster nahm als der OP und im Vergleich zu manchem Versifex unter den Clavioten auch größeres Glück mit ihrer Poeterei hatte, weil weniger Leute von ihren Reimkünsten erfahren haben. ;)
 

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