Klagepsalmen

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Gomez de Riquet

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Das Feindzitat bei Schostakowitsch

In Schostakowitschs Musik gibt es – stärker noch als bei Gustav Mahler –
einen irritierenden Wechsel der Tonfälle. Schostakowitsch hatte eine Vorliebe
für Zirkusmusik, mit deren Hilfe er das vom sozialistischen Realismus geforderte
Pathos ins Lächerliche umbog, eine Vorliebe für automatenhaft abschnurrende
Bewegungsabläufe, die ins Groteske umzukippen pflegen. Am irritierendsten
ist bei ihm die Vorliebe für bestimmte Tonsatzklischees, in denen eine völlig
abgenutzte Tonsprache im Umfeld einer ganz und gar ernstzunehmenden
(und zumeist todtraurigen) Musik steht. Musterbeispiel dafür ist der Mittelteil
des 1.Satzes der 7.Symphonie, mit dem berühmt-berüchtigten Durchführungsthema,
das den Einmarsch der Deutschen im zweiten Weltkrieg schildern soll und
laut inoffiziellem Programm den Krieg beschreibt, den Stalin gegen die eigenen Völker
in der Sowjetunion geführt hat.

Der musikalische Zusammenprall von Ernsthaftigkeit und Trivialität ist unterschiedlich
bewertet worden – abhängig von dem jeweiligen Bild, das man sich hier im Westen
von Schostakowitsch gemacht hat. Bis in die siebziger Jahre hinein hielt man ihn
für einen systemkonformen Künstler, und seine Ausflüge in die Niederungen
der Unterhaltungsmusik galten als peinliche Entgleisung bzw. als ,volksnahe'
Geschmacksverirrung eines ansonsten begabten Künstlers. Nach dem Erscheinen
der von Volkow kompilierten „Memoiren“ wurde Schostakowitsch plötzlich
als Dissident vereinnahmt und die angebliche Trivialität seiner Musik als subversiv
verstanden.

Gegenüber solchem Opportunismus hilft nur eines: Genauigkeit.
In diesem Zusammenhang ist Volkows (erschütterndes) Buch leider nicht zu
gebrauchen, da es von Schostakowitsch autorisierte Textfragmente mit fremdem
Material vermischt. Es gibt aber verläßliches Material, das Schostakowitschs Distanz
gegenüber dem Regime bezeugt, z.B. der Briefwechsel mit Isaak Glickman
oder vom Propagandatonfall abweichende Auskünfte des Komponisten
zu seinem Werk, darunter der ganz eigenartige Hinweis auf die Psalmen Davids:
Seine 7.Symphonie wollte Schostakowitsch als Klagepsalm verstanden wissen.

Die Durchführungsepisode des ersten Satzes dieser Symphonie (ab Ziffer 19
in der Partitur) fällt aus dem musikalischen Umfeld völlig heraus, nicht nur,
weil sie ein eigenes Thema hat, sondern wegen ihrer ausgesprochenen Plumpheit.
Der Gegensatz zu den Rahmenteilen des ersten Satzes ist so auffällig,
daß er Musikexegeten in Ost und West beschäftigt hat. Ergiebiger als die Frage,
ob deutsche Invasoren oder Stalins Henkersknechte damit portraitiert worden sind,
ist die Suche nach analogen Stellen in Schostakowitschs Werk. In der Durchführung
des ersten Satzes der 5.Symphonie gibt es eine ähnliche, aus dem Kontext
herausfallende Marschepisode (ab Ziffer 27, poco sostenuto), die allerdings
kein eigenes Thema hat, sondern das traurige Hauptthema des ersten Satzes
fratzenhaft verzerrt. Den Höhepunkt der Durchführung im Kopfsatz der 8.Symphonie
bildet ein grotesker Marsch (ab Ziffer 29, Allegro), der ebenfalls das Hauptthema
verzerrt und durch eingestreute 5/4- und 3/2-Takte ins Stolpern gerät –
wie in der "Geschichte vom Soldaten".


Im ersten Satz der (direkt nach der 7.Symphonie komponierten) 2.Klaviersonate h-Moll op.61
besteht die zweite Themengruppe aus einem solchen trivialen Marsch. Der erste Satz
ist formal sehr komplex: ein Sonatenhauptsatz mit einer Reprise (ab Takt 168 ), die das
Material so stark verwandelt, daß man von einer zweiten Durchführung sprechen kann,
und einer abschließenden zweite Reprise der ersten Themengruppe, die das Ganze
als Überlagerung von Sonatensatz und Sonatenrondo erscheinen läßt. Die Themen sind
kunstvoll auseinander abgeleitet, was nichts daran ändert, daß die zweite Themengruppe
(Exposition: Takt 55, Reprise: Takt 188 ) aus dem Rahmen zu fallen scheint.

Worin besteht dieser Rahmen? In den Klagepsalmen des Alten Testaments
ist der Betende in extremer Notsituation: Krankheit, Ausgrenzung, Verfolgung.
Der Psalmist beschreibt seine Not (Lutherbibel 1912):

Zitat aus Psalm 6, 7+8:

Ich bin so müde vom Seufzen; ich schwemme mein Bett die ganze Nacht
und netze mit meinen Tränen mein Lager.
Meine Gestalt ist verfallen vor Trauern und alt ist geworden;
denn ich werde allenthalben geängstet.

Bestandteil jedes Klagepsalms ist die ,Feindklage': Klage über reale oder im übertragenen Sinn
zu verstehende Feinde, denen sich der Betende wehrlos ausgeliefert sieht:

Zitat aus Psalm 31, 12-14:

Es geht mir so übel, daß ich bin eine große Schmach geworden meinen Nachbarn
und eine Scheu meinen Verwandten; die mich sehen auf der Gasse, fliehen vor mir.
Mein ist vergessen im Herzen wie eines Toten; ich bin geworden wie ein zerbrochenes Gefäß.
Denn ich höre, wie mich viele schelten, Schrecken ist um und um;
sie ratschlagen miteinander über mich und denken, mir das Leben zu nehmen.

Die äußerste Steigerung dieser Feindklage ist das Feindzitat,
die Wiedergabe des originalen Wortlauts:

Zitat aus Psalm 42, 11:

Es ist als ein Mord in meinen Gebeinen,
daß mich meine Feinde schmähen, wenn sie täglich zu mir sagen:
Wo ist nun dein Gott?

Zitat aus Psalm 22, 8+9:

Alle, die mich sehen, spotten mein, sperren das Maul auf und schütteln den Kopf:
"Er klage es dem HERRN; der helfe ihm aus und errette ihn, hat er Lust zu ihm."

Die grausamen Marschepisoden in Schostakowitschs Musik sind Feindzitate:
originalgetreue oder verzerrte Abbilder jener Propagandamusik, mit der
die Menschen in der Sowjetunion auf Plätzen und Bahnhöfen beschallt wurden,
zu der sie marschieren und die sie zu allen möglichen Anlässen singen mußten –
eine Verhöhnung ihrer Lebenssituation. Denn die in Psalm 31, 12-14 beschriebene Not
war für einen Sowjetbürger in den 30er und 40er Jahren ganz unmetaphorisch real.
In Schostakowitschs Musik (ab der 4.Symphonie) findet diese Not ihren Ausdruck:
abgründige Trauer, Vereinsamung, unterbrochen von hektischer Betriebsamkeit,
überdrehter Fröhlichkeit, und beendet von Apotheosen, deren strahlendes Dur wie im
Finale der 5.Symphonie jeden Moment ins katastrophische Moll umzukippen droht.
Wer sich die Situation des Beters in den Klagepsalmen vor Augen führt,
den leitet Schostakowitschs Hinweis zum richtigen Verständnis dieser Musik –
jenseits der offiziellen Programme („Antwort eines Sowjetbürgers auf gerechte Kritik“),
die der Komponist seinen Werken angedichtet hat oder darüber verfassen ließ.

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Der Psalmist beschreibt seine Not (Lutherbibel 1912):
Jetzt ist es viel zu früh am Morgen, um diesen interessanten Text verstehend zu lesen. Das mache ich später nochmal en détail.

Die Schlaflosigkeit in diesem Forum ist mir bereits mehrfach aufgefallen. Ich muss auch leider konstatieren, dass Schlaflosigkeit ein größeres Problem zu werden scheint, je älter man wird. Jedenfalls trifft man immer wieder auf Menschen, die von eigenen Erfahrungen damit berichten, wenn man irgendwie auf das Thema kommt.

Hirn braucht jedoch Phasen der Ruhe und der Körper sowieso; die "Fenster" hierfür werden vom Biorhythmus vorgegeben. Wer die Musik liebt, sollte auf den eigenen Biorhythmus achten, damit er nicht ausbrennt. Gute Erholung an alle Schlaflosen!

PS: Es werden zunehmend auch Männer davon betroffen. Hat aber was mit Hormonen zu tun!
 
Lieber Gomez,

ein sehr interessanter und informativer Text über Schostakowitschs Werk. Herzlichen Dank dafür.

Ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen ersterem und den alttestamentarischen Klageliedern erschließt sich mir allerdings nicht:

Worin besteht dieser Rahmen? In den Klagepsalmen des Alten Testaments ist der Betende in extremer Notsituation: Krankheit, Ausgrenzung, Verfolgung. Der Psalmist beschreibt seine Not (Lutherbibel 1912):

Bestandteil jedes Klagepsalms ist die ,Feindklage': Klage über reale oder im übertragenen Sinn zu verstehende Feinde, denen sich der Betende wehrlos ausgeliefert sieht: .

Die Feindklage in dem von dir genanntem Sinne ist ja mitnichten etwas bibelspezifisches.

Worin besteht dieser Rahmen? In den Klagepsalmen des Alten Testaments
ist der Betende in extremer Notsituation: Krankheit, Ausgrenzung, Verfolgung.
Der Psalmist beschreibt seine Not .

Die stark subjektive Prägung ist dem Klagepsalm möglicherweise immanent. Wobei ich eine objektivierte Betrachtungsweise des Feindes im Grunde vorziehe …

Zitat von Psalm 2:
Warum toben die Heiden, und die Leute reden so vergeblich?

Die Könige im Lande lehnen sich auf, und die Herren ratschlagen miteinander wider den Herrn und seinen Gesalbten: .

… und zu Klagepsalmen insofern keinen rechten Zugang habe, ebenso wenig zu religiös geprägter Betrachtungsweise, wie du ja weißt. Muss man bei letzterer nicht am Ende zu dem fatalen Schluss kommen:

Zitat von Psalm 127:
Ein Lied Salomos im höhern Chor. Wo der Herr nicht das Haus bauet, so arbeiten umsonst, die dran bauen.

Ratlose, herzlichste, atheistische Grüße,
Nuri
 
Ratlose, herzlichste, atheistische Grüße,
Liebe Nuri,
wenn wir uns beide vielleicht auf den Konsens einigen könnten, dass das offensichtliche Raushängenlassen von Religiösität auf der Welt auch in der Gegenwart viel Schaden anrichtet... dann könntest Du vielleicht auch meinem Gedankengang folgen, dass das BEWUSSTE, kokettierende Heraushängen von Atheismus ebenso unnütz ist. Man sollte es, auch als Atheist, unterlassen. Ich persönlich habe sehr spät im Leben "zu Gott gefunden", was im übrigens ein äußerst fragiler Grat ist, da Glauben täglich neu erarbeitet werden muss! Ja, ich gehe soweit zu behaupten: IMMER dann, wenn sich Gott "tatsächlich zeigt", dann ÜBERFALLEN mich, als sei ich blind und verblendet,
UMSO größere Zweifel... JEDENFALLS: Es darf WIRKLICH jeder Mensch Atheist sein, aber es sollte sich niemals jemand für einen "überzeugten" Atheisten halten. Ich halte das, aufgrund eigener Lebenserfahrung, einfach nur für unreif.

Ich finde es gut, wenn Menschen von Zweifeln geplagt sind. Die Lektüre der Psalmen wird Dir zeigen können, dass genau dies das Thema ist: Der zweifelnde und auch durch Zweifel leidende Mensch.

Es gibt zahlreiche Situationen im Leben, da kann man sagen: "Jetzt auch noch ohne Gott sein, wäre fatal!"
(Sorry für das Off-Topic)
 
Lieber Gomez,

ein satten Artikel hast Du geschrieben!!!!

Gestern abend hörte ich wieder einmal die Ballett- und Jazz-Suiten. Immer kreisen meine allumfassenden russischen Erfahrungen wie persönliche, literarische, poetische, musikalische ... in meinem Kopf. Schostakowitsch hat diese Zeit wahrlich auf den Punkt gebracht oder hast Du es geschafft, diese durch Deine Worte mir so wiederzugeben. Ich war ja noch dicht dran durch meinen Vater, der im 1. und 2. Weltkrieg mit den Russen gekämpft hat (u.a. in Wladiwostok gegen die Japaner) und dann die Kontakte zur russischen Garnision .... Was ist nicht alles rausgekommen mit der Zeit.

Klagepsalmen - das Wort meiner Empfindung hat mir gefehlt.

"In Schostakowitschs Musik (ab der 4.Symphonie) findet diese Not ihren Ausdruck:

abgründige Trauer,

Vereinsamung,

unterbrochen von hektischer Betriebsamkeit,

überdrehter Fröhlichkeit,

und beendet von Apotheosen, deren strahlendes Dur

wie im Finale der 5.Symphonie
jeden Moment ins katastrophische Moll umzukippen droht."

Das ist alles wahr.

Ich bin sehr dankbar für diesen Artikel.

Liebe Grüße
Kulimanauke
 
Zuletzt von einem Moderator bearbeitet:
Liebe Kulimanauke,

vielen Dank. Ich bin froh, wenn Du mir bestätigst,
den richtigen Ton getroffen zu haben.

Liebe Nuri,

Ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen ersterem und den
alttestamentarischen Klageliedern erschließt sich mir allerdings nicht [...]

Die Feindklage in dem von dir genanntem Sinne
ist ja mitnichten etwas bibelspezifisches.

zweifellos nicht - aber Schostakowitsch rekurriert nun mal auf die Klagepsalmen.

Was liegt näher, als eine so ungewöhnliche Äußerung, aus dem Munde eines Agnostikers,
ausgesprochen in einem betont religionsfeindlichen Umfeld, ernstzunehmen?

In einer Diktatur, zu deren Wesensmerkmalen die Beschränkung der Redefreiheit gehört
und in der künstlerische Arbeit einer strengen Zensur unterliegt, reichen Anspielungen aus,
um sich verständlich zu machen. Der Rekurs auf die Klagepsalmen hat die Zensur passiert,
weil Klage ab dem Jahr 1941, nach dem Einmarsch der Hitlerfaschisten, geduldet wurde.
Wer bibelfest war oder die Psalmen wenigstens als ein Stück Weltliteratur zu schätzen wußte
(und das galt für die Zensoren offensichtlich nicht), verstand den Subtext.

Herzliche Grüße,

Gomez
 
Lieber Gomez!

Ich muss sagen, dass bei den von dir genannten Eigenschaften, die Vierte
von den 15 nicht fehlen darf! Dieser Eingangsmarsch, das depressive Ende...! Eine
meiner Lieblingssinfonien (von der ich mir übrigens gestern die Studienpartitur gekauft
habe :D ).
Es wäre schön, wenn du auch etwas über diese schreiben könntest, Gomez, denn ich
kenne mich leider doch zu wenig in dieser Sinfonie aus. Ich kann nur sagen, dass mich
das Ende, welches einen so stark runterzieht (mit der Celesta und dem Trompetensolo...)
auf die Sinfonie erst aufmerksam gemacht hat! Es ist einfach zu gut!

Liebe Grüße,
Anton
 
Wäre schön, wenn du antworten würdest... :D :D :D :D
 
Lieber Anton,

auch für mich ist Schostakowitschs vierte Symphonie eines der ungeheuerlichsten Werke,
das ich kenne, und ich nehme gern die Gelegenheit wahr, darüber zu sprechen.

Die Symphonie wurde 1936 beendet, nach dem Erscheinen der Artikel „Chaos statt Musik“
und „Ballettverfälschung“, mit denen die ,Prawda' die Hatz auf Schostakowitsch eröffnet hatte.
In ihr äußert sich der Komponist zum letzten Mal in einer völlig unangepaßten Tonsprache –
ohne Rücksicht auf die Zensur. Es hat sogar noch erste Proben unter Fritz Stiedry gegeben,
ehe Schostakowitsch das Werk zurückzog. Die Partitur ging verloren. Der Komponist hatte
aber eine Bearbeitung des Werks für zwei Klaviere angefertigt, deren Manuskript zumindest
in Kollegenkreisen bekannt gewesen sein muß, denn 1948, nach dem zweiten Scherbengericht,
wurde die Symphonie als weiterer Beleg für Schostakowitschs formalistische Verirrungen angeführt.
Später hat Schostakowitsch aus den Orchesterstimmen die Partitur rekonstruiert, und 1961
wurde das Werk – mit fünfundzwanzigjähriger Verspätung – uraufgeführt.

Es paßt zu ihrer Entstehungsgeschichte und auch zu ihrer Nicht-Rezeption, daß diese Symphonie
aus dem Kontext der Arbeiten Schostakowitschs völlig herausfällt: Sie ist weder Agitationsmusik,
wie es die zweite und dritte Symphonie ungeachtet ihrer modernen Tonsprache gewesen sind,
noch Bekenntnismusik, wie Schostakowitsch sie ab der fünften Symphonie schreiben wird.

Die Tonfälle der Agitationsmusik hallen in der vierten Symphonie zwar nach (das den ersten Satz
eröffnende Signalmotiv läßt an eine Fabrikssirene denken; der darauffolgende Marsch kippt
aber schon nach wenigen Takten um ins Höhnisch-Äffende, über weite Strecken sekundiert
vom Xylophongeklapper, das an den Aufmarsch einer Totenarmee denken läßt). Und es gibt
hochdramatische Passagen, Aufschreie (ganz extrem: Ziffer 30), Abstürze – nur auf
merkwürdige Art und Weise objektiviert. Man hat den Eindruck von grauenhaften Ereignissen,
die mit der Teilnahmslosigkeit eines Zeugen berichtet werden, der unter Schock steht.

Daneben stehen Abschnitte völlig emotionsloser Musik (wie im rätselhaften dritten Satz ab
Ziffer 167, Allegro), gefolgt von einem nicht minder verstörenden Unterhaltungsmusik-Potpurri
(ab Ziffer 191). Nur an den Morendo-Satzschlüssen wird die Musik persönlich: in der Melancholie,
mit der der erste Satz endet, und im dritten Satz (nach der pervertierten Apotheose
ab Ziffer 238 ) in der Coda ab Ziffer 246, einem Abbild trostloser Einsamkeit –
eines Menschen in völliger Erstarrung.

Man kann viel über die Zeitumstände in diese Musik hineinlesen. Am 1. Dezember 1934
wurde Kirow, der Leningrader Parteisekretär, (vermutlich im Auftrage Stalins) ermordet,
und 1935 wurde Leningrad von Verhaftungswellen heimgesucht – noch vor dem „Großen Terror“,
der erst 1936 begann. Schostakowitsch bekam die Verhaftungs- und Hinrichtungswellen
aus nächster Nähe mit. Aber das wäre alles nur in die Musik hineingelesen.

Viel interessanter ist, was Schostakowitsch aus dieser Musik herausgelesen, wie er
das unbekannte Werk genutzt hat, um Themen- oder Klangzitate aus ihm in anderen Werken
wiederauferstehen zu lassen. So ist gleich der Abschluß des ersten Satzes der fünften
Symphonie an der Klangidee der Final-Coda aus seiner vierten Symphonie orientiert:
mit dem Celesta-Ostinato über einem Orgelpunkt. In einem von Verfolgung, Zensur
und erzwungener Selbstverleugung geprägten Umfeld lag es für Schostakowitsch nahe,
an den Ideenvorrat, an Themen- und Klangzitate als semantischem Material
aus seinem wichtigsten und zugleich unbekanntesten Werk anzuknüpfen –
zur Hintergehung der Zensur und zur Selbstvergewisserung.

Herzliche Grüße,

Gomez

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