Frage zur Entstehung der Mehrstimmigkeit.

Da frag ich dich und rolf mal ganz konkret: wieviele Musikwissenschaftler kennt ihr, die sich ernsthaft (also nicht nur als exotische Randerscheinung) mit außereuropäischer Musik befassen und auskennen?

Ich hab ja nur 5 Jahre Musik studiert (nach der bestandenen Abschlußprüfung hab ich die Musikhochschule fluchtartig verlassen), aber in der Zeit gab es keine Vorlesungen zu dem Bereich. In Musikgeschichte sowieso nicht.
Dann informiere Dich doch bitte mal unter dem Stichwort "Musikethnologie", das auf Jaap Kunsts Terminus "ethnomusicology" zurückgeht. Vormals sprach man von der "Vergleichenden Musikwissenschaft". Bei Deinen Recherchen wirst Du dann auf eine stattliche Anzahl namhafter Wissenschaftler stoßen.

Dieses Fachgebiet gehört nicht zu den traditionellen Ausbildungsinhalten für Pianisten und Klavierpädagogen - aber ein gewisses Grundlagenwissen ist hilfreich, wenn man zu entsprechenden Fragestellungen etwas postet. Dann käme man mit Sicherheit nicht mehr auf den Gedanken, irgendwelche grundfalschen "Weisheiten" zur kulturellen Vorherrschaft des Abendlandes in die Welt zu setzen... - nichts für ungut, aber ich habe mich über die vorherigen Äußerungen schon ein wenig geärgert.

LG von Rheinkultur
 
Also, in Afrika gibt es in jedem Fall Mehrstimigkeit.

Ich kann jedem nur empfehlen, mal in den Busch zu gehen, und dann das Glück zu haben, dass mehrere Schwarze singen. Da kann man von der dem Gesang innewohnenden Mehrstimmigkeit Musikalität und Ausdruck hier nur träumen.
 
Afrika ist ja bekanntermaßen groß, also etwas unübersichtlich. In welchen Busch sollte man denn gehen?

CW
 
Mehrstimmigkeit in der europäischen Musik begann schon in der Gregorianik
Haydnspaß zitiert nur diesen Teilsatz, und erklärt dann großspurig:
Das ist der Tunnelblick der Musikwissenschaftler.
vollständig lautet der Satz allerdings:
Mehrstimmigkeit in der europäischen Musik begann schon in der Gregorianik, denn da hat man halbwegs Aufzeichnungen (wie es davor war, ist nicht mit Notenmaterial überliefert) und wurde - übrigens innerhalb der so genannten Kirchentonarten - im Mittelalter dann weiter entwickelt
und nun, Haydnspaß, klär uns alle doch auf, was daran falsch ist - und viel Glück dabei! Ich bin schon sehr gespannt auf altkeltische, protogermanische, altgriechische, römische, gerne auch urslawische und alteuropäische 8womöglich gar vorindoeuropäische) Polyphonie - und ganz besonders gespannt bin ich auf das von dir präsentierte Notenmaterial :D:D und nein, keine Trompeten von Jericho und auch keine Fanfaren von Hannibal (dem Karthager bitteschön, nicht dem Menschenfresser), denn das ist irgendwie nicht so abendländisch-europäisch... :D:D also hopp, präsentiere dein hohes Wissen um die aufgezeichnete (!!) Mehrstimmigkeit von europäischer Musik im Mittelalter und davor abseits der Gregorianik

weisste, mir ist der angebliche Tunnelblick der Musikwissenschaftler lieber als irgendein möchtegernprogressives herumtuten ... man sollte meinen, dass dir Rheinkultur schon genug reinen Wein zu solchen Unsinnigkeiten eingeschenkt hat...
 
Wenn es also aus der Zeit vor der Gregorianik keine Noten, auch keine CDs oder Mp3-Files und - oh Gott! - auch keine Youtube-Videos gibt, kann man nur vermuten, dass es doch sicherlich trotz dieser bedauerlichen technischen Umstände Mehrstimmigkeit schon gegeben hat. Das allein schon deswegen, weil alleine singen keinen Spaß macht, auch nicht Anno 1106.

So vermute ich ganz stark, dass mein schlichter Satz von vorhin
Mehrstimmigkeit entsteht, wenn zwei Leute dasselbe singen wollen, es aber nicht klappt.
eine beeindruckende Richtigkeit hat. Er könnte die Forschung voran bringen...

CW
 
Wenn es also aus der Zeit vor der Gregorianik keine Noten, auch keine CDs oder Mp3-Files und - oh Gott! - auch keine Youtube-Videos gibt, kann man nur vermuten, dass es doch sicherlich trotz dieser bedauerlichen technischen Umstände Mehrstimmigkeit schon gegeben hat.
vermuten oder sich wünschen kann man sogar, dass keltische Barden auf der Lyra hochvirtuose polyphone Kadenzen zu ihren Druidengesängen zupften ;);););) ...aber wie soll man sich ne Vermutung anhören?... schwierig schwierig
 
also hopp, präsentiere dein hohes Wissen um die aufgezeichnete (!!) Mehrstimmigkeit von europäischer Musik im Mittelalter und davor abseits der Gregorianik

Das ist eben das Problem. Deshalb wird ja auch afrikanische Musik von euch nicht ernstgenommen: weil sie nicht schriftlich aufgezeichnet ist. Und was es nicht in Schriftform gibt, das gibt es für einen echten Wissenschaftler eben garnicht.

Also:

"Die Harfe gehört zu den Chordophonen, genauer zu den Zupfinstrumenten. Sie ist eines der ältesten Musikinstrumente der Menschheit und kam bereits um etwa 3000 v. Chr. in Mesopotamien und Ägypten vor."
Harfe

Außerdem wurde damals auch zur Harfenmusik gesungen und Flöte, Schalmei etc. gespielt.
Ganz egal, welche Tonleitern damals benutzt wurden, das Resultat muß mehrstimmig gewesen sein.

Wenn du mir jetzt natürlich beweisen kannst, daß es in Athen oder Rom so um Christi Geburt keine Harfen gab - na, dann ist es natürlich etwas anderes.

Und mehrstimmigen Gesang gabs bestimmt auch schon immer, man kann es aber schwer beweisen.

Die Menschheit muß nicht auf irgendwelche komischen Mönche warten, die Regeln für die Stimmführung zweistimmiger Gesänge aufstellen, damit sie mehrstimmig singen kann.
 
Zuletzt von einem Moderator bearbeitet:
Deshalb wird ja auch afrikanische Musik von euch nicht ernstgenommen: weil sie nicht schriftlich aufgezeichnet ist.
Genau. Keine Noten, keine Musik, keine Anerkennung, keine GEMA-Auszahlungen.

Man sollte also Bartok II. in den Busch - am besten in den von Zimbabwe - schicken. Das würde uns neue Mikrokosmen und dann so eine Menge Geld in den schwarzen Kontinent bringen.

CW
 
Die Wahrscheinlichkeit, dass wir alleine im All sind, geht gegen 0. Ihr versteht?
 

Das ist eben das Problem. Deshalb wird ja auch afrikanische Musik von euch nicht ernstgenommen: weil sie nicht schriftlich aufgezeichnet ist.(...)

Haydnspaß,
du tutest schlimmen und bösartigen Unsinn! Und das ist nicht sehr schön...

erstens hast du absolut gar keinen Grund, irgendjemandem hier zu unterstellen, er/sie würde afrikanische Musik nicht ernstnehmen!!

zweitens: Vermutungen kann niemand anhören - ein "es muss dies und das gegeben haben" ist lediglich eine worthülse, deren Wahrheitsgehalt auf dem Heiligen Sankt Spekulatius beruht

drittens: niemand kann Auskunft darüber geben, wie alt diese oder jene afrikanische Musik ist

informiere dich bitte, bevor du andere belehren willst - mit lächerlichen und unbeweisbaren Spekulationen trägst du nichts zur Beantwortung der in diesem Faden gestellten Frage(n) bei.
 
Es ist wirklich faszinierend zu lesen. Eine ernsthafte Frage... und die sachlichen Antworten zum Thema muss man mit der Lupe suchen, aber es gibt sie: an der Stelle einen großen Dank ausdrücklich an Rheinkultur für die Beiträge.


Konstantin
 
@ Haydnspaß:
Afrikanische Musik wird von mir vor allem dann ernst genommen, wenn sie in domestizierter Form von Jazz daherkommt. In reiner, ursprünglicher Form ist sie mir schlicht zu rustikal, auch wenn sie mehrstimmig ist.

CW
 
"Der georgische Gesang

Der georgische Gesang zählt zu den kostbarsten Schöpfungen der Menschheit. Volkslieder und georgische Choräle weisen einen hohen Grad an Harmonienkomplexität auf mit drei bis vier eigenständigen Stimmen. Die archaischen Tonfolgen sind schlicht und entfalten in der Mehrstimmigkeit eine außergewöhnliche Spannung und Intensität.

Ursprung und Entstehung der Musik liegen im Dunkeln. Der griechische Historiker Strabon beschreibt im 1. Jh. v. Chr. die mehrstimmigen Gesänge der in den Kampf reitenden georgischen Krieger und nannte die Georgier ein "singendes Volk".

Historische Quellen aus dem 8. Jh. v. Chr. enthalten bereits Verweise auf die weite Verbreitung ritueller Lieder. Archäologische Funde von Musikinstrumenten in Georgien weisen bis in das 15. Jh. v. Chr. zurück."

GEORGISCHE MUSIK Gesang Polyphonie Mittelalterliche Musik


http://youtu.be/Zu47Sa3IC_g
 
Zuletzt von einem Moderator bearbeitet:
Der griechische Historiker Strabon beschreibt im 1. Jh. v. Chr. die mehrstimmigen Gesänge der in den Kampf reitenden georgischen Krieger und nannte die Georgier ein "singendes Volk".
(...)
boah... Strabon - der hat auch ganz ganz viele Noten überliefert ;);););) und deshalb wissen wir ja auch ganz ganz ganz viel über antike Musik...

vom hörensagen hat man heuer nicht viel - evtl. hat der Neandertaler in mehrstimmigen Chören gejodelt - aber davon haben wir nichts. ...und so kommt es, dass wir keinerlei Vorstellungen davon haben, wie Mehrstimmigkeit vor den ersten Aufzeichnungen klang bzw. wie sie gemacht war

...sooo schwierig ist das doch nicht
 
boah... Strabon - der hat auch ganz ganz viele Noten überliefert ;);););) und deshalb wissen wir ja auch ganz ganz ganz viel über antike Musik...

vom hörensagen hat man heuer nicht viel - evtl. hat der Neandertaler in mehrstimmigen Chören gejodelt - aber davon haben wir nichts. ...und so kommt es, dass wir keinerlei Vorstellungen davon haben, wie Mehrstimmigkeit vor den ersten Aufzeichnungen klang bzw. wie sie gemacht war

...sooo schwierig ist das doch nicht
Wissenschaftliches Arbeiten macht es nun mal erforderlich, präsentierte Erkenntnisse und Folgerungen greifbar zu dokumentieren - und das ist bei ungünstiger Quellenlage (kaum schriftliche Überlieferungen) eben nicht so ohne weiteres möglich. Wenn keine schriftlichen Dokumente zu einer mehrstimmigen Musizierpraxis überliefert sind, heißt das selbstverständlich nicht, dass es im Umkehrschluss eine solche nicht gegeben haben kann. Aber Mutmaßungen zum Thema finden irgendwo im luftleeren Raum statt, wenn einfach keine Belege greifbar sind. Da mag ein Anicius Manlius Severinus Boethius an der Schwelle zum 6. nachchristlichen Jahrhundert in seiner Schrift "De institutione musica" eine philosophische Annäherung an spätantike Musizierpraktiken vollzogen haben - ohne die Existenz einer heute nachvollziehbaren Notationsform, wie sie sich ab dem 11. Jahrhundert (Guido von Arezzo) allmählich entwickelte, kann niemand mit Bestimmtheit sagen, wie diese ausgesehen haben mag. Daran ändern auch Dokumente wie dieses nichts: Seikilos-Stele

Aus heutiger Sichtweise würde ich folgende Vermutung anstellen: Mehrstimmigkeit in einer gewissermaßen kontrapunktischen Beziehung der Stimmen zueinander macht die schriftliche Fixierung letztlich unverzichtbar, da ein gewisser Grad an Komplexität nicht mehr durch schlichtes Vorspielen/Vorsingen und Nachspielen/Nachsingen vermittelbar sein dürfte. Eine reine "mündliche" Überlieferung wird sich auf bestimmte musikalische Grundmuster beschränken müssen; einen umso größeren Raum nehmen improvisatorische Praktiken ein. Die Komplexität der Bach'schen "Kunst der Fuge" ohne Existenz einer Notenschrift mündlich entwickeln und weiterverbreiten zu können - das dürfte wahrlich nicht realistisch sein. Es erscheint plausibel, dass elementare Formen von Heterophonie, Hoquetus-Technik, responsoriale Praktiken mitunter über liegenden Tönen (der Ison-Praxis in der traditionellen byzantinischen Musik vergleichbar) zum Einsatz gelangt sein mögen. Was für das äußerst reichhaltig gehandhabte Melos im vorderasiatischen Raum gelten mag, ist mit der enormen Vielfalt und Komplexität (poly-)rhythmischer Abläufe in afrikanischen Musiktraditionen vergleichbar, die eine respektvolle Betrachtung aus europäischer Sicht verdient. Ich möchte vor diesem Hintergrund die schäbige Unterstellung, aufgrund eines eurozentrischen Weltbildes andere großen Musikkulturen nicht mit Achtung und Respekt behandeln zu können, hier nicht noch weitere Male vernehmen müssen - egal, ob sich entsprechende Vorwürfe an meine Adresse, oder an wen auch immer richten.

Ich gebe zu, dass ich eine Reihe von Fachbegriffen verwendet habe - die dazugehörigen Wikipedia-Artikel gehören zu den besser recherchierten Dokumenten im Netz, falls noch Unklarheiten ausgeräumt werden müssen.

Zur unlängst gestellten Frage nach musikethnologischen Forschungsbestrebungen liefere ich noch folgenden Link nach:
Phonogramm Archiv Berlin - YouTube

Erich Moritz von Hornbostel, Curt Sachs und Jaap Kunst haben durch die wissenschaftliche Auswertung von Audiodokumenten ab 1889/90 die musikethnologische Forschung in maßgeblicher Weise vorangebracht - und zwar, indem sie nicht im Notenbild fixierte (respektive fixierbare) Dokumente präzisen Betrachtungen unterzogen haben, deren Ergebnisse über wissenschaftliche Sphären hinaus Spuren hinterlassen haben. Viele Komponisten hatten Kenntnis entsprechender Aufnahmen und entsprechende Anregungsmomente für ihr künstlerisches Schaffen (selbst vor der Wende zum 20. Jahrhundert) dankbar angenommen. Debussy, Puccini, Ravel u.v.a. kannten solche Aufnahmen in Form von Wachszylindern und Grammophonplatten.
 

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