Der neapolitanische Sextakkord (nicht nur) in Klavierstücken

Jetzt fragst du mich aber, als ob ich wirklich Ahnung hätte. :D Das, was ich hier poste, ist aber allenfalls das, was der Engländer als "educated guess" bezeichnen würde ...

Ich würde aber auch sagen, dass auch der As-Dur-Akkord am Anfang der Ballade erst nachträglich zum Neapolitaner wird. Dass es ein solcher ist, könnte man vor Ende der Phrase nur dadurch erraten, dass der unterste Ton neapolitanergemäß c ist, aber die erste Umkehrung eines Dur-Akkords ist ja nicht immer ein Neapolitaner. Beim Liebestraum bin ich mir nicht sicher. Mit etwas Mühe kann ich das A-Dur als Subdominante hören, aber insgesamt finde ich die Stelle als zu abweichend vom traditionellen Schema, als dass ich das als Neapolitaner empfinden würde.
 
Das ist so nicht ganz richtig: In deinem Beispiel erhöhst du nicht die Quinte sondern erniedrigst die Sexte! Und so ist es auch korrekt: Mollsubdominante mit erniedrigter Sexte statt Quinte. [Klugscheißer off!]

Klugscheißer nochmal kurz "on".

Die Mollsubdominante hat doch gar keine Sexte, die man tief alterieren könnte.
Die erste Umkehrung der verminderten zweiten Stufe (engl. "Supertonic") einer Molltonart dahingegen schon.

Mag sein, dass ich das anders gelernt habe, weil ich aus englischer Tonsatzschule komme, aber es handelt sich beim Neapolitaner nach meinem Wissen nicht um eine iv-V-i mit irgendeiner tiefalterierten Sexte, sondern um eine tiefalterierte ii(6)-V-i.

[KS-Modus "off"]
 
Pardon, dass ich das alte Thema noch einmal belebe, aber dieser hier ist zu schön:

Schubert: Impromptu op. 90/2, T. 144.
 
Wenn die Mollsubdominante als S6 auftaucht, also ohne Quinte, sondern nur mit Sexte ( alles nach der deutschen Satzlehreschule), kann man die Sexte schon tiefalterieren.

Die tiefalterierte 2.Stufe in Moll nennt de la Motte den " verselbsständigten Neapolitaner")
 

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Eine interessante Theorie für die Gründe der Wirkung des Neapolitaners habe ich hier gefunden, in dieser Arbeit auf S. 18:
http://www.willimekmusic.de/musik-und-emotionen.pdf
Dort heißt es:
"Ein neu angeschlagener Neapolitanischer Sextakkord erscheint dem Hörer zunächst als normaler Durakkord, der ihm kein außergewöhnliches Klangerlebnis bereitet. Der Hörer erkennt allenfalls - um Gustav Güldenstein zu zitieren - den aufrecht im Leben stehenden Menschen. Das weitere Erleben erklärt sich jedoch aus der auf den ersten klanglichen Eindruck folgenden Orientierung hinsichtlich der Ausgangstonart. Der Akkord erscheint zunehmend dissonant und mehr und mehr von Strebungen erfüllt. Bei Anwendung der Strebetendenz-Theorie bedeutet das: Der Hörer erlebt den Wandel vom aufrecht stehenden Menschen zum völlig verzweifelten Menschen, dem jeder Halt verloren scheint."

Und auf Seite 23 werden dem Neapolitanischen Sextakkord folgende Emotionen und Bedeutungen zugeordnet: "Verschwinden, Tod, Verlassenheit, endgültiger Schmerz, Abschied für immer."

Nun, ich würde solche Deutungen eher mit Vorsicht genießen, da die Wirkung eines Akkordes doch stark kontextabhängig ist und sich sicher nicht eindeutig fixieren lässt, erst recht nicht auf bestimmte außermusikalische Bedeutungen. Dennoch sind diese Interpretationen aufschlussreich, da sie doch eine bestimmte Tradition der Verwendung des Neapolitaners aufzeigen, die jeder Komponist, der den Neapolitaner verwendet, natürlich ebenso im Auge behalten muss wie den Kontext in seinem eigenen Werk.
 
Ein kurzer neapolitanischer Gruß: ;)

Bach: Partita c-Moll, Sinfonia, T. 26, gleich auf der "1" (wir sind gerade in g-Moll)
 
Beethoven:

Mondschein-Sonate, 1. Satz -- T.3 (das sollte doch mal noch gesagt werden; einen Neapolitaner als Teil der allerersten Kadenz in einem Werk gibt es ja nicht alle Tage)

op. 110 Perdendo le forze, dolente -- T. 126

P.S. An diesen zwei Beispielen kann man finde ich noch einmal sehr gut sehen, wie unterschiedlich so ein Klang je nach Kontext wirken kann: In der Anfangskadenz der Mondscheinsonate fast ein bisschen floskelhaft als Teil einer einfachen Kadenz, während er in der Wiederkehr des schmerzerfüllten Arioso zwischen den beiden Fugenteilen, fast beiläufig inmitten eines dimininuendo gesetzt, den hier geforderten "Ermattend, klagend(en)" Ausdruck noch einmal unterstreicht, kurz bevor die Musik ganz ins Stocken gerät und die Fuge wieder anhebt.
 
Zuletzt von einem Moderator bearbeitet:

Das Stichwort "Beethoven" ist gefallen, das Stichwort "Opus 90" ebenfalls - letzteres war auf Schubert zu beziehen.
Verbindet man beide miteinander, so wird man im 1. Satz der "nur" zweisätzigen Klaviersonate e-moll fündig. Schade, dass das Stück neben den folgenden fünf gewichtigen Spätsonaten oftmals ein wenig zu kurz kommt. Wie der neapolitanische Sextakkord durch Sekundreibungen und Vorhalte im musikalischen Kontext eine ganz individuelle Schärfung erfährt, ist schon eindrucksvoll zu lesen und zu hören.
 
Schade, dass das Stück neben den folgenden fünf gewichtigen Spätsonaten oftmals ein wenig zu kurz kommt.

Da kann ich nur zustimmen. Und der 1. Satz von op. 90 steht dann vielleicht noch ein bisschen mehr im Schatten (nämlich des 2. Satzes, in dem eines der schönsten Beethovenschen Gesangsthemen gar nicht oft genug wiederholt werden kann!)

Wie der neapolitanische Sextakkord durch Sekundreibungen und Vorhalte im musikalischen Kontext eine ganz individuelle Schärfung erfährt, ist schon eindrucksvoll zu lesen und zu hören.

Danke, für die Motivation, mich gleich einmal durch den 1. Satz durchzuwühlen (hatte ich noch nie unter den Fingern). Mir ist jetzt nur ein Neapolitaner aufgefallen, und zwar am Ende der Exposition, in T. 69 (wo wir gerade in h-Moll sind...NB: Beethoven hat ja mehrfach die Seitenthemen eines Mollsatzes nicht in der tP, sondern in der Molldominante, in der Mondscheinsonate 3. Satz ja auch) und wörtliche Wdhlg. in T. 73; entsprechende Parallelstelle in der Reprise (dort Moll-Tonika) in T. 212/216 (dort im Ggsatz zur Exposition um eine Oktave verschoben wiederholt).

Wenn ich noch andere übersehen habe, bitte Bescheid sagen. Ist ja eigentlich egal, ob man Neapolitaner jagt oder etwas anderes...Hauptsache man beschäftigt sich mit den Werken!
 
Zuletzt von einem Moderator bearbeitet:
Beethoven:

Mondschein-Sonate, 1. Satz -- T.3 (das sollte doch mal noch gesagt werden; einen Neapolitaner als Teil der allerersten Kadenz in einem Werk gibt es ja nicht alle Tage)
guckst du #4 ;)

In der Anfangskadenz der Mondscheinsonate fast ein bisschen floskelhaft als Teil einer einfachen Kadenz,
und wo findest du eine solche Floskel vorher? ;) nur weil wir den geradezu paradigmatisch gewordenen Beginn der Mondscheinsonate in-und-auswendig-zu-kennen-glauben wird er nicht zur Floskel - im Gegenteil ist da eine erstaunliche Verkürzung, Komprimierung zu erkennen (bzgl. der Dauer der Akkorde) und im Anschluß ist Beethoven sehr erfinderisch mit der Verwendung des Neapolitaners.

ob wir im Analysefaden op.27,2 nehmen sollten? :)
 

Mea culpa, rolf! Und sogar exzessiv...muss ich nachher gleich nochmal reingucken!

und wo findest du eine solche Floskel vorher? ;) nur weil wir den geradezu paradigmatisch gewordenen Beginn der Mondscheinsonate in-und-auswendig-zu-kennen-glauben wird er nicht zur Floskel - im Gegenteil ist da eine erstaunliche Verkürzung, Komprimierung zu erkennen (bzgl. der Dauer der Akkorde)

Ich hatte beim Schreiben schon ein bisschen gezögert, das Wörtchen "floskelhaft" zu verwenden...eine Anmaßung gegenüber Beethoven. Was ich versucht hatte, auszudrücken: Dem Neapolitaner haftet der Affekt-Ausdruck von Leid, Schmerz oder Trauer ja gewissermaßen "institutionalisiert", aus Tradition, an. Schon damit hat er an sich etwas floskelhaftes (nicht abwertend, sondern so neutral wie möglich gemeint!)

Ein Komponist kann an jeder Stelle in einem Stück, in jeder Kadenz, einen Neapolitaner setzen, aber wie genau der "institutionalisierte" Affekt beim Hörer ankommt, hängt ganz vom Kontext, in dem er steht, ab (und natürlich von jedem einzelnen Hörer).

Mir fällt dazu gerade ein Satz von Kaiser über die Pathétique ein: "Doch die Welt dieser Pathétique ist ebenso leidenschaftlich wie heil, ebenso gestaltenreich wie überschaubar, zugleich ekstatisch und wirkungssicher theatralisch." Jaja, ich weiß, nicht alles, was der geschrieben hat, ist toll...aber diesen Satz finde ich nicht ganz schlecht als Charakterisierung.

Ganz ähnlich meinte ich, dass der Neapolitaner in der Eingangskadenz der Mondscheinsonate bei mir als sehr "wirkungssicher theatralisch" platziert ankommt -- hier kann es wirklich keiner überhören, dass uns nun ein tragischer Gesang erwartet....

Aber ich stimme ich Dir absolut zu, wenn Du auf die Gefahr hinweist:
nur weil wir den geradezu paradigmatisch gewordenen Beginn der Mondscheinsonate in-und-auswendig-zu-kennen-glauben wird er nicht zur Floskel

Jetzt aber im Vergleich op. 110, Finale: Als Hörer ist man schon einmal durch das Arioso Dolente durch (und zwar ohne Neapolitaner), dann den ersten Teil der Fuge, und erst dann, in der Wiederkehr des Arioso ("perdendo le forze, dolente") wird der Neapolitaner einmal kurz und beiläufig tangiert, bevor nach ein paar letzten Seufzermotiven G-Dur Stillstand und dann die Rückkehr der Fuge eingeläutet wird. Das ist also schon ein ganz besonderer, markierter Moment in einem langem Satz, dessen Klage viel "undramatischer", introvertierter ist als in der Mondscheinsonate...

und im Anschluß ist Beethoven sehr erfinderisch mit der Verwendung des Neapolitaners.

Bevor ich jetzt weiter fabuliere, schaue ich mir das gleich noch einmal an!

ob wir im Analysefaden op.27,2 nehmen sollten? :)

Ich fände das eine tolle Wahl! Mal sehen, ob es überhaupt Interesse an aktiver Beteiligung gibt. Analyseversuche in Monologform wären mir dann doch auch zu theatralisch... wie ein Neapolitaner in der Eingangskadenz :p
 
wir sind gar nicht so weit entfernt, Pianovirus, und mir war auch klar, dass du "fast floskelhaft" eher im übertragenen Sinn gemeint hast - aber indem das angesprochen wird, kann das Gespräch ja weiter gehen und präzisieren :)

aus diesem Grund ein paar kleine Korrekturvorschläge:
Ganz ähnlich meinte ich, dass der Neapolitaner in der Eingangskadenz der Mondscheinsonate bei mir als sehr "wirkungssicher theatralisch" platziert ankommt -- hier kann es wirklich keiner überhören, dass uns nun ein tragischer Gesang erwartet....
wirklich tragisch, was ja auch einiges an Pathos enthalten müsste -- oder eher tieftraurig, beinahe resigniert, todtraurig? (tragisch ist, um es mal krass auszudrücken, eher der Kopfsatz der 5. Sinfonie :) )

Das ist also schon ein ganz besonderer, markierter Moment in einem langem Satz, dessen Klage viel "undramatischer", introvertierter ist als in der Mondscheinsonate...
...unterschätz den langsamen Satz aus op.110 nicht... da passiert, auch in der Interpolation in g-Moll in der Fuge, noch einiges mehr -- nur so als Anregung: was sucht da ein Zitat aus der Matthäus-Passion? warum die Stilisierung als Arie (quasi ein Klavierauszug einer unsingbaren imaginären Klage-Arie)? ...nein, "undramatischer" ist das Arioso dolente ganz und gar nicht - es ist sogar viel dramatischer, zerfurchter, affektgeladener als der erste Satz der Mondscheinsonate.
 
Das sind gute Einwände, rolf! Tragisch ist ein absolut unpassendes Adjektiv für den 1. Satz der Monscheinsonate; Deine Vorschläge passen auch meiner Empfindung nach viel besser.

Einig sind wir uns, wenn ich richtig verstehe, beim offenkundigen Wirkungsunterschied des Neapolitaners, op. 27/2 vs. op. 110, je nach Kontext (ok, eigentlich eine Binsenweisheit).

was sucht da ein Zitat aus der Matthäus-Passion?

Wow, kannst Du mir verraten, wo das zu finden ist?!

warum die Stilisierung als Arie (quasi ein Klavierauszug einer unsingbaren imaginären Klage-Arie)?

Auch ein gutes Argument! Allerdings liegt denke ich trotz Rezitativ und Arioso-Überschriften diesem Satz nichts ferner als eine klassische Opernszene.
Uhde schreibt zum Rezitativ "[...]hier gibt die Musik ihre Kontinuität auf und beginnt zu stammeln, ehe sie sich, mühsam genug, wieder zusammenhängend zu äußern vermag".

Eine ähnliche Verbindung aus vorbereitendem Rezitativ als quasi spontane Äußerung, tiefst subjektiver Klage, unterbrochen von der konstruiertesten Gattungsform überhaupt (in die dann doch irgendwann das Subjektive einbricht), mit einem schlichten, ruhigen, einfach gebauten Fugenthema, also ein Satz, scheinbar gebaut aus ganz widersprüchlichen Elementen, so etwas gab es wohl vorher in dieser Form einfach nicht...

Spannend, darüber nachzudenken und zu diskutieren. Das ist ja schon fast wieder ein Einstieg in einen Analysefaden...aber ich denke, die Mondscheinsonate wäre für den Anfang überschaubarer...
 
Rolf meint mit dem Bach-Zitat wohl das Arioso dolente (T. 9). Hier wird wohl die Arie "Es ist vollbracht" aus der Johannespassion zitiert. Wenn Rolf auch ein Zitat aus der Matthäuspassion kennt, nur her damit.
 
Danke für die Aufklärung, kristian! (und rolf für den Hinweis)

Das war mir völlig neu...ich denke mal, solch ein Zitat in diesem Kontext ist keine Laune, sondern eher Bekenntnis....
 
Wow, kannst Du mir verraten, wo das zu finden ist?!
(Rezitativ und Arioso darf man sich natürlich nicht getrennt denken (und freilich ist das Arioso keine stilisierte "Opernarie", aber es enthält - nomen est omen - typische affektgeladene Elemente der Arie, und das durchaus auch "opernhaft": Kaiser beschreibt in seinem Beethovenbuch voller Sympathie eine Interpretation, die speziell dieses "opernhafte" ungeniert herausarbeitet (stilisierter barocker affetuoso-Gesang))

das Notenbeispiel, Übergang vom Rezitativ zum Arioso :)

Rezitativ und Arioso, wiewohl perfekt klaviergemäß (das klingt ja alles unerträglich expressiv!), können problemlos als "Orchester und Gesang" aufgefasst werden, wobei - Beethoven konnte sowas! - das imaginäre Orchester nicht nur begleitet, sondern genügend individuelle eigene Stimmen etc. bringt --- manche Dirigierauszüge sehen diesem Klaviersatz verblüffend ähnlich aus.

@Kristian:
ob Johannes oder Matthäus weiß ich nicht mehr - aber auf jeden Fall liegt ein bewußtes Zitat von Bachscher Passionsmusi vor.
 

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