Automatismus, pro und contra

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Romantikfreak98

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Liebe Klavierfreunde,

im Spiegel-Magazin aus der Weihnachtswoche war ein Interview mit Helene Grimaud abgedruckt. Darin sagte sie, dass technische Perfektion eine Komfortzone für die Profi-Pianisten sei, auf der basierend sie dann die musikalische Interpretation gestalten (mit meinen Worten widergegeben). Zudem würde Automatismus Freiheit bieten, die nötig sei, um sich künstlerisch frei zu entfalten. Ich nehme an, Helene meinte wirklich Automatismus in der Klaviertechnik, also dass man sich vor allem bei sehr virtuosen Stücken nicht mehr unbedingt jedes Tones bewusst ist, den man spielt (z.B. bei gebrochenen Akkordpassagen oder auch Tonleitern).

Dietmar Seibert auf seiner Internetseite zum Klavierspielen hingegen propagiert, dass der Automatismus eine gefährliche Falle sei, die einen in falscher Sicherheit wiegen würde (ebenfalls meine Worte). Es wäre besser, wenn man sich so ziemlich jedes Tones bewusst wäre, den man spielt, dann hätte man bessere Gewalt über das Stück und auch mehr Sicherheit in der Gestaltung.

Wie seht Ihr diese unterschiedlichen Positionen?

Abgesehen davon, dass ein bestimmter Automatismus (z.B. bei Chopin Etüden) gar nicht zu verhindern ist, habe ich eigentlich bessere Erfahrungen mit der Position von Dietmar Seibert gemacht. Ich habe ein Stück einfach besser unter Kontrolle, wenn ich bewusst so ziemlich jeden Ton spiele und nicht einfach die Finger aus dem „Erinnerungsgefühl“ über die Tasten laufen lasse.

Gruss und frohes Neues !

Tom
 
Ich habe das irgendwann so gelesen oder erklärt bekommen, dass es zwischen reinem Fingergedächtnis (ist damit tatsächlich der Automatismus von Grimaud gemeint?) und bewusstem Spielen jeden einzelnen Tons Zwischenstufen gibt. Reines Abspulen von automatisierten Bewegungsabläufen, ohne sich diese zumindest zeitweise bewusst zu machen oder dazu in der Lage zu sein, ist jedenfalls bei mir sehr fehleranfällig.
 
Der casus cnaxus im o.a. Artikel ist die "technische Perfektion". Und da kann ich mir schon vorstellen, dass es einem Virtuosen auf diesem Niveau gewisse Freiheiten gibt.
Vergleichbar (aber wie immer hinkend) möchte ich ein Beispiel aus dem Bereich Automotive geben: Ein konventionelles Schaltgetriebe benötigt mehr Aufmerksamkeit / Konzentration auf den Schaltvorgang als ein Automatik-Getriebe. Deshalb bietet letzteres auch gewisse Freiheiten.
Allerdings glaube ich auch, dass der Königsweg irgendwo in der Mitte zu finden wäre, also eine Kombination der Postulate.
 
Dafür kommt bei Frau Grimaud aber wenig bei ein, finde sie recht langweilig. Wobei ich sie in San Diego mit Ravel Konzert sehen werde :) mal im ernst, ohne eine solche Souveränität ist ein so ein überlegenes, aber auch spontanes Spiel nicht möglich. Wenn ich an Rachmaninoff Moment Musical op.16/4 denke, so kann man gar nicht jede einzelne Note im Kopf haben! Kennt Ihr das Perpetuum mobile von Paganini? 3000 Töne in 3 Minuten.... Stilblüte hat mir mal erklärt warum man solche Stücke viel leichter auswendig lernt als beispielsweise ein Adagio von Mozart.... Unser Hirn ist faszinierend!
 
Ist ja immer Geschmackssache - ich finde sie toll und z.B. diese Version der Chaconne hier finde ich zumindst weitaus interessanter und besser als alle anderen Youtube Versionen (speziell ab Minute 6:03)


Wenn Automatismus das ermöglicht, warum nicht :)
 
Jeden einzelnen Ton bewußt spielen zu wollen, stelle ich mir bei der musikalischen Gestaltung recht hinderlich vor und dürfte ab einer gewissen Geschwindigkeit der Abläufe auch gar nicht mehr möglich sein, so zumindest meine eigene amateurhafte Erfahrung.

Bei ausschließlichem Spielen mit Fingergedächtnis kann es natürlich leicht passieren, dass man 'rausfliegt. Beschäftigt man sich aber regelmäßig mit dem Notentext, spielt das Stück oder Abschnitte des Stückes beim Üben immer wieder im ganz langsamen Tempo, erarbeitet sich möglichst viele Einstiegsstellen und fühlt sich zudem in der Tonart heimisch, in der das Stück komponiert wurde, wird man mit entsprechender Erfahrung auch in der Lage sein, sich beim Vorspiel durch eventuelle Störungen des Automatismus nicht aus dem Konzept bringen zu lassen.

Sprich: Im Idealfall erfolgt der Vortrag mit automatisierter Technik, im Falle der Störung weiß man aber genau, wo man sich im Notentext befindet und findet dann mit bewußter Steuerung schnell wieder hinein. So meine persönliche Theorie.
 
Hi Tom, und Frohes Neues auch Dir!!

Das "bewusste" Erfassen findet vor dem Spielen statt ( Thema des "ohne-Instrument-Erfassens" wurde schon andernorts dargelegt. ) . Danach geht's ans Instrument, zum umsetzen und a ) freu oder b ) korrigier.

Wir benötigen aber in jedem Fall automatisierte und die optimiertesten Bewegungen und Bewegungsfolgen, sonst sind manche Stücke nicht schaffbar.

Diese automatisierten Bewegungen sind sog. "acquired reflexes", erworbene Reflexe. Wie erwirbt man Reflexe, die nicht angeboren sind?

Durch ständiges BEWUSSTES Wiederholen. Auch der Tastsinn ist dafür hilfreich. Denkt dran: Eine Berührung zieht eine beliebig kürzere oder beliebig längere Kette von Aktionen unweigerlich nach sich.

LG, Olli!
 
Hey leuts...lang nicht mehr geschrieben :D

Also ich bin da auch Klimperlines Meinung. Hab auch mal ein Buch gelesen von Renate Klöppel (hat viel über Mentales Training, Üben etc. geschrieben), wo sie meinte, es sei bei schnellen Stücken fast nicht möglich, jeden Ton bewusst zu spielen. Dennoch sollte man das bewusste Spielen beim langsamen Üben anwenden, um sich sicherer zu fühlen und um in Konzertauftritten, wo man eher automatisiert spielt, ein Einstieg wiederzufinden.


Lg PG
 
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Wenn @Stilblüte dazu einen Verweis hat, den sie hier verlinken kann oder selber Lust und Muse hat es hier niederzuschreiben, warum das so ist, wäre das sicher interessant :super:

Verweis habe ich keinen, ich erinnere mich nur dunkel, das mal beschrieben zu haben.
Ich weiß grad auch nicht genau, worum es geht - warum schnelle Stücke manchmal einfacher auswendig zu spielen sind als langsame?

Das kann man an sich selbst testen, in dem man sehr automatisierte Bewegungen mal genau betrachtet und / oder ganz langsam ausführt. Schonmal eine Minute darauf verwendet, die Schuhe zu binden? Oder genau überlegt, wann welcher Fuß im Auto wo hintritt? Und wie geht nochmal der Scheibenwischer vom Heckfenster an?
Das ist alles automatisiert. Um zu automatisieren braucht es viel Wiederholung und ein gewisses Tempo. Einen Faden durch ein Nadelöhr kriegt man nicht automatisiert. Man kann das zwar üben, so dass es schneller geht, konzentriert sich aber jedes Mal.

So auch beim Spielen. Wenn pro "Zeiteinheit" nur wenige Töne gespielt werden, ist der Effekt des Automatisierens nicht ganz so stark wie wenn ich, vereinfacht gesagt, die ganze Zeit Tonleitern spiele. Paradoxerweise muss ich dann nämlich bei weniger Tönen mehr denken, weil ich die wenigen Bewegungsabläufe alle bewusst wahrnehme.
Spiele ich 10 Töne pro Sekunde, merke ich mir einfach "D-Dur-Tonleiter" oder auch "diese Figur, die ich geübt habe und die jetzt dran ist". Das ist dann unter Umständen nur ein gedanklicher Anstoß, der Rest läuft selbst weiter.

Vereinfacht gesagt ;-) Die Wahrheit ist natürlich noch etwas komplexer.

Und apropos komplex: Je mehrstimmiger bzw. kontrapunktischer und vielschichtiger die Stücke sind, desto schwieriger sind sie unter Umständen zu merken. Die oben verlinkte Chaconne wäre sicher einige Arbeit beim Auswendiglernen.
Ein leichter Sonatenkopfsatz von Mozart ist dagegen weniger kompliziert, Melodie + Begleitung (es gibt auch komplexere Sonaten mit mehrstimmigkeit oder fugatoartigen Teilen).

Gibts noch Fragen?
Achja, das ist natürlich nur mein Empfinden. Kann sein, dass es hier Fugen-Könige gibt, die nichts lieber tun als Fugen auswendig zu lernen... ;-)
 
Um zu automatisieren braucht es viel Wiederholung und ein gewisses Tempo.
ja
wo es um notwendigerweise verautomatisierte Bewegungsgruppen geht (es wäre völliger Unsinn, in einem Tremolo 32stel Nr. 87 laut zu benennen und darauf stolz zu sein, weil man es "bewußt" gemacht hätte...)

und nein:
es gibt auch ein anderes "automatisieren", es besteht z.B. darin, ohne nachdenken zu müssen, ohne es einzuplanen z.B. Akkorde ordentlich anzuschlagen, nie Begleitfiguren zu laut zu spielen, immer die Klangbalance zu treffen, immer mit kantablem bzw. sinnvollem Klang zu spielen (das z.B. unterscheidet durchaus den Profi vom Amateur, auch wenn beide mal gleichviele Fehler machen)
 
Und apropos komplex: Je mehrstimmiger bzw. kontrapunktischer und vielschichtiger die Stücke sind, desto schwieriger sind sie unter Umständen zu merken.
oder wenn es Sachen sind, die 1. schwierig und 2. völlig ungewohnt (keine halbwegs "regulären" Griffmuster) sind
((ich hab lange gebraucht und viel geflucht, bis ich Schönbergs "heil´ge Kreuze" aus dem Pierrot für ein Konzert spielen konnte... sehr viel geflucht...)) :-)
 
Klar, zu Komplexität zählt z.B. auch Unbekanntes, quasi "Weißes Rauschen" aus der Neuen Musik :D
Man kann ja auch mal versuchen, 1000 Wörter ohne Sinnzusammenhang auswendig zu lernen. So ungefähr gehts einem dann vielleicht bei manchem von Stockhausen *duckundweg*
(Ich sah kürzlich Noten, da hat es keiner der anwesenden Klavierstudenten, inklusive Professor, überhaupt geschafft mitzulesen beim anhören)
 
Oh @rolf, ich sehe dass du bald die 20.000 erreichst... für den 20.000sten Beitrag musst du dir aber was spezielles einfallen lassen ;-)
 
Dafür kommt bei Frau Grimaud aber wenig bei ein, finde sie recht langweilig

Hallo??? Ich finde Sie spielt sehr ausdrucksstark und vor allem NIE oberflächlich.
Mich würde mal OT interessieren, was genau du langweilig findest?


oder wenn es Sachen sind, die 1. schwierig und 2. völlig ungewohnt (keine halbwegs "regulären" Griffmuster) sind
((ich hab lange gebraucht und viel geflucht, bis ich Schönbergs "heil´ge Kreuze" aus dem Pierrot für ein Konzert spielen konnte... sehr viel geflucht...)) :-)

mich würde interessieren: was heißt bei dir lange?
Wenn ich mal von mir ausgehe, dauern unangenehme und schwierige Stellen teilweise bis zu 4 Monate, bis diese halbwegs sitzen, d.h. ich diese öffentich im Konzert spielen kann. Und viele muss ich trotzdem alle paar Tage immer und immer wieder durchgehen - FLUCH!!!
 
Hallo??? Ich finde Sie spielt sehr ausdrucksstark und vor allem NIE oberflächlich.
Mich würde mal OT interessieren, was genau du langweilig findest?

Sie sagt mir nichts. Vieles bei ihr was ich gehört habe wird vernebelt mit Pedal, es fehlt das Besondere, das Feine, ein besonderer Klang. Einzig ihre Duo CD mit Sol Gabetta gefällt mir richtig gut. habe sie vor 1,5 Jahren mit Schumann Konzert gehört. Klar, absolut souverän, aber Martha Argerich zum Beispiel vor Weihnachten war so spannend, so unerwartet. Bei Grimaud ist alles vorhersehbar... ich höre sie in 4 Wochen in San Diego mit Ravel Konzert, vielleicht kann sie mich ja diesmal überzeugen ;)
 
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ich höre sie in 4 Wochen in San Diego mit Ravel Konzert, vielleicht kann sie mich ja diesmal überzeugen ;)

Dieses so faszinierende Konzert hat sie auch bei der Eröffnung der neuen Pariser Philharmonie gespielt, wurde am Sonntag auf Arte gesendet. Ich fand das sehr gut gespielt und weder langweilig noch mit Pedal vernebelt. Das sage ich, obwohl ich gerade bei diesem Konzert von Arturo Benedetti Michelangeli positiv versaut bin;-).
 
mich würde interessieren: was heißt bei dir lange?
@Joh
für Schönbergs "Kreuze" aus dem Pierrot hatte knapp zwei Wochen gebraucht, bis ich das zuverlässig in höherem Tempo als gefordert konnte (es musste für eine Probe sicher sitzen, gewohnheitsgemäß fühlt man sich sicherer, wenn man schwierige Abschnitte schneller als benötigt kann) - wenn du dir die Noten anschaust, wirst du sehen, dass das nur zwei (freilich heikle) Seiten sind... ich fand das sehr widerborstig und musste mir das einpauken. (bei diesem speziellen Stück hatte ich tatsächlich tagelang gebraucht, bis ich nicht mehr in die Noten schauen musste - das fand ich besonders ärgerlich, da ich ansonsten z.B. Schumann-Lieder nach dreimal ab Blatt durchspielen auswendig kann)
Aber was nützt dir diese Frage?
 

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