Welcher Ausgabe vertrauen?

Gibt es da eine vertrauenswürdige "Urtextausgabe"?
Nein! Fast jede Urtext-Ausgabe ist nur als Kompromiß denkbar.

Da gibt es zum einen (hoffentlich) ein Manuskript des Komponisten, evtl. schon das in mehreren Fassungen und Bearbeitungsstadien.

Im Falle Bach oder Chopin sind z.B. Abschriften von Freunden und Schülern überliefert. Was in der Regel nicht überliefert ist, inwieweit Abweichungen die Billigung des Komponisten hatten.

Für die Veröffentlichung werden Korrekturfahnen erstellt. Im Falle Beethoven wissen wir, daß er an manchen Tagen um jeden Staccato-Punkt gefeilscht hat, an anderen Tagen scheint es ihm egal gewesen zu sein, was der Notenstecher auf die Druckplatte gebannt hat. Und nicht alle Vorgänge und Änderungswünsche wurden schriftlich dokumentiert. Durchaus denkbar, daß die Frage "f oder fis" abends beim Heurigen abgehandelt wurde. Basiert eine Zweitauflage auf Wünschen des Kompnisten oder ist es nur ein unautorisierter, fehlerhafter Raubdruck?

Des weiteren muß der Herausgeber einer Urtext-Ausgabe entscheiden, ob z.B. fehlende Vorzeichen der Schlampigkeit des Komponisten zuzurechnen oder aus einer tollkühnen Laune entsprungen sind. Sind Abweichungen in Wiederholungsteilen oder in der Reprise beabsichtigt oder Flüchtigkeitsfehler? ar es dem Komponisten vielleicht egal, ob da ein einfacher Sextakkord oder ein Quintsextakkord steht?

Den einen und einzig korrekten "Urtext" gibt es also nicht, auch wenn natürlich jeder Verlag so tut, als ob er den Stein der Weisen gefunden hätte. Zudem muß ein Herausgeber immer auch auf die Lesbarkeit des Notentextes achten. Viele Informationen finden sich deshalb in den kritischen Anmerkungen oder gar in separaten Bänden. (Badura-Skoda hat bei der Wiener Urtext-Edition einen Band mit Chopin-Etüden herausgegeben, wo die wichtigsten Aweichungen und Varianten in Klein- und Kursivdruck im Notentext integriert sind - hochinteressant zum Studieren, aber wenn ich mit den Fingern und den Noten zu kämpfen habe, äußerst mühsam zu lesen.)
 

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