Liebe Anna,
wenn ein Schüler zum dritten oder vierten Mal hintereinander nicht geübt hat, besteht aus meiner Sicht Handlungsbedarf. Für mich sind die Gründe durchaus entscheidend für meine Reaktion darauf - wenn der Schüler gerade im Abi oder einer Klausurenphase steckt, in der Zeit gesundheitliche Probleme hatte oder mit einem Stück einfach Zeit braucht, habe ich überhaupt kein Problem.
Wenn der Schüler aber sagt, "er hätte keine Zeit gehabt" und kann mir entsprechende Gründe nicht nennen, ist dieses "keine Zeit" oft ein Code für "keine Lust" oder "ich habe ein Problem (mit dem Stück, mit der Motivation, mit ......)".
Dann bedeutet das "Nicht-Üben" für mich eine Störung in der gemeinsamen Arbeit. Diese ist nur möglich, wenn mein Schüler und ich an einem Strang ziehen, wenn wir das gleiche Ziel haben und als Team zusammen arbeiten.
Meine Reaktion hängt also sehr davon ab, wie ich die Situation einschätze, wie die Körpersprache des Schülers ist, was er sagt und wie ich seine verbalen und nonverbalen Äußerungen empfinde.
Wenn ich kein Problem habe wie im ersten o.g. Fall werde ich die "Hausaufgaben" mehr oder weniger kurz je nach den Fähigkeiten des Schülers wiederholen und darauf achten, dass er sich das alles selbst erarbeitet, als wäre er allein zu Hause. Ich helfe ihm dadurch,wieder Tritt zu fassen und sich in die Materie einzuarbeiten (
und so zu Hause für den Einstieg eine Hilfe zu bekommen), nehme ihm aber nichts ab, was er selbst herausfinden kann. Daneben werde ich die Zeit für Neues nutzen - da gibt es immer jede Menge. Die Zeit ist in jeder Unterrichtsstunde begrenzt und so kann man mal wieder Intervalle hören, Harmonielehre/Gehörbildung machen, Repertoirestücke hören, vierhändig vom Blatt spielen, Liedbegleitung machen, improvisieren u.v.a.m..
Wenn ich allerdings ein Problem habe und das Gefühl, dass beim Schüler irgendetwas nicht stimmt, werde ich ein Gespräch führen. Wie ich das führe, hängt von der Gesamtsituation ab: habe ich mit dem Schüler schon einmal so ein Gespräch geführt, habe ich insgesamt den Eindruck, dass der Schüler nicht wirklich motiviert ist, Klavier zu spielen oder ist das momentane Nicht-Üben eine Phase, habe ich schon einmal mit ihm Abmachungen getroffen, wie sind die Eltern miteinbezogen ..... . Die Art des Gesprächs hängt auch davon ab, was ICH empfinde: bin ich verwundert oder schon verärgert, habe ICH vorrangig ein Problem oder sehe ich das Problem eher beim Schüler und will rauskriegen, was mit ihm los ist ..... .
All das bestimmt den Einstieg in das Gespräch, in dem es in erster Linie um die Klärung der verschiedenen Bedürfnisse von Schüler und Lehrer gehen muss! Meine Bedürfnisse kenne ich, aber vielleicht der Schüler nicht. Was will der Schüler? Gerade kleinen Kindern, aber auch Jugendlichen (und Erwachsenen :D) ist oft nicht klar, was sie eigentlich wollen und ihre Verhaltensweisen stellen einen Code dar, den es zu entschlüsseln gilt. Mit der Entschlüsselung wird die ganze Situation glasklar und Abmachungen und Problemlösungen können gut gefunden werden, weil sie auf die Bedürfnisse zugeschnitten sind. Wenn man die Bedürfnisse nicht klärt, bringen Abmachungen wenig, weil sie an den eigentlichen Bedürfnissen vorbei gehen.
Im vorliegenden Fall (ich als Lehrerin habe ein Problem mit dem Nicht-Üben des Schülers) würde ich vermutlich eine konfrontierende Ich-Botschaft wählen wie z.B.: "Ich ärgere mich gerade/bin sehr verwundert, dass du das Stück nun schon zum vierten Mal hintereinander nicht flüssig spielen kannst, so wie wir es in der letzten Stunde vereinbart hatten. Ich kann nun nicht mit dir das machen, worauf ich mich vorbereitet und gefreut hatte. Ich muss immer das Gleiche machen und immer wieder mit dir in der Stunde das Stück üben und das frustriert und langweilt mich."
Je nachdem, wie ich mich als Lehrerin fühle, werde ich so eine konfrontierende, dreiteilige Ich-Botschaft anders sagen - das ist nur ein Beispiel. Dreiteilig sollte sie immer sein: sie beinhaltet eine möglichst wertfreie Beschreibung des Verhaltens des Schülers ("er kann zum vierten Mal hintereinander das Stück nicht flüssig spielen"), mein Gefühl ("verwundert, verärgert...") und die Folgen, die das Verhalten des Schülers für MICH hat ("Ich muss dann immer das Gleiche machen und immer wieder mit dir in der Stunde das Stück üben und das frustriert und langweilt mich.").
Der Schüler wird etwas darauf antworten. Da ich vermute, dass auch er ein Problem hat und ich rauskriegen möchte, was das ist (weil es der gemeinsamen Arbeit im Weg steht), werde ich ihm aktiv zuhören (spiegeln, was ich verstanden habe). Dadurch können sich die Bedürfnisse des Schülers klären.
In solchen Gesprächen, die ich hier nur äußerst rudimentär wiedergeben kann, können beide Gesprächspartner, Schüler wie Lehrer, vollkommen authentisch sein. Die Bedürfnisse werden geklärt und daraus ergeben sich Handlungsmöglichkeiten, die genau den Punkt treffen.
Wie sich viele denken können, rede ich vom
Gordon-Modell, das auf der humanistischen Psychologie nach Carl Rogers aufbaut. Ich komme immer wieder darauf zurück, weil sich eben in der pädagogischen Arbeit immer wieder Konflikte und Kommunikationsprobleme ergeben, die sich auf den Lernfortschritt negativ auswirken. Meine Erfahrungen mit diesem Modell sind hervorragend und es überrascht mich immer wieder, was hinter einem "Nicht Üben" stecken kann. Es ist für Schüler und Lehrer gleichermaßen wichtig, dass man hinter die Dinge schaut, die eigenen Bedürfnisse erkennt und sich nicht mit einem Nicht-Üben zufrieden gibt. Das lohnt sich ungemein!
Liebe Grüße
chiarina