Warum spielt ihr Klavier? Was "gibt" es Euch?

Das ist in der Tat interessant... kenne ich in der Form leider gar nicht. Heisst aber nichts, man kann ja nicht alles kennen;-)
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Ist aber doch so logisch, dass sogar ich es verstanden habe. Wenn ich die erste Note kenne und das Intervall brauchen ja nur noch die Finger auf den Tasten hüpfen :004: und nicht der Kopf über den Notenwert nachdenken.
 
Ich versuche es einmal nach dem Prinzip "In der Kürze liegt die Würze":

"Klang macht glücklich."
(Notiert unmittelbar nach der Sendung über die Orgel von Notre-Dame)

(Gut, nicht jeder Klang macht glücklich, eigentlich müsste es heißen "Klang kann glücklich machen", das wäre dann ein Wort mehr.)
 
Auf diese äußerst interessante Frage wollte ich schon lange antworten, hatte bis dato aber nie die Zeit dafür gefunden.

Die Kurzversion:
Ich habe vor knapp sieben Jahren im zarten Alter von 38 Jahren angefangen, das Klavierspiel zu erlernen. Es war mit die beste Entscheidung meines Lebens.

Die Langversion:

Prolog:
Ich erinnere mich, dass Musik seit frühester Kindheit eine große Rolle für mich spielte. Sei es im Kindergartenalter, als ich auf alle möglichen Töpfe schlug, um Geräusche zu erzeugen oder in der Grundschule (und auch noch auf dem Gymnasium in Klasse 5), als wir Blockflöte spielten mussten/ durften und ich begeistert von diversen Nationalhymnen war. Am liebsten habe ich damals tatsächlich die russische gespielt.

Auf der anderen Seite muss ich im Rückblick sagen, dass mich auch Musik diverser Hörspielreihen, Fernsehserien und Kinofilme stark geprägt hat. Allein die ganzen wunderbaren Soundtracks von Christian Bruhn haben schon in dieser frühen Zeit die unterschiedlichsten Emotionen in mir angesprochen und hervorgebracht.
Mein Vater kam eines Tages mit einer Gitarre vom Trödelmarkt an und meine Eltern boten an, mir Unterrichtsstunden zu bezahlen. Ich war aber erstens von diesem Instrument nicht wirklich fasziniert und wollte viel lieber im Park Fußball spielen und mich in diversen Sportvereinen austoben. Zudem fand ich Schlagzeug und Saxophon viel interessanter, aber insbesondere ersteres stieß nicht auf sonderlich viel Gegenliebe bei meinen Eltern. Somit war das Thema Instrument lernen für recht lange Zeit erst mal vom Tisch.

Ich habe aber immer gerne Musik gehört. Als Kind hatte ich so eine 60er Oldie Hitparade Kassette, ebenfalls von meinem Vater bekommen und habe diese rauf und runter gehört. Meine ersten Pop Bands und Künstler, die ich so mit ca. 10/ 11 Jahren bewusst gehört habe, waren Queen, Meat Loaf und Abba. Die kurzzeitige David Hasselhoff Phase in den Jahren davor klammere ich bewusst an dieser Stelle aus! :)

Mit 14/ 15 bin ich dann durch meinen Bruder zur Punk Musik gekommen, als er mir die Ärzte Single "Schrei nach Liebe" schenkte. Ein paar Jahre später habe ich durch dieselbe Band zu der Musik gefunden, die mich bis heute am stärksten geprägt hat: Ska.
Wenn es nicht schon vorher durch die wunderschönen Klavier-Arrangements von ABBA oder Queen geschah, so wurde mit der jamaikanischen Offbeat Musik meine Vorliebe für Tasteninstrumente wachgeküsst. Sei es die Orgel in den 80er Two Tone Songs oder das Piano im jazzig angehauchten 60s Ska.

Dennoch sollte das Schlagzeug zu meinem ersten richtigen Musikinstrument werden, als mich der Bassist meiner jetzigen Band, in der ich nach wie vor Schlagzeug spiele, vor gut 20 Jahren zu sich in den Proberaum und seiner damaligen Band einlud. Ich sollte eigentlich singen, aber diese Idee haben wir ganz schnell wieder verworfen! Zurecht! :)
Ich ließ mir vielmehr vom damaligen Schlagzeuger das Schlagzeugspielen erklären, so dass ich eines Tages mit viel Autodidaktik und einem halben Jahr Unterricht zum eigentlichen Schlagzeuger der Band wurde.

Im Proberaum stand allerdings auch eine alte Heimorgel, die eine große Faszination auf mich ausübte. Und eines Tages hatte es der Bassist so leid, mein Herumgeklimpere in den Pausen zu ertragen, so dass er mir die Akkordtechnik in den Grundtönen beibrachte (4-3 Dur, 3-4 Moll). Von da an war es um mich geschehen.

[Ende Prolog]

Ein Freund verkaufte mir zu der Zeit sein altes Yamaha Keyboard und ich fühlte mich wie ein kleines Kind, das zum ersten Mal mit Lego spielen und bauen durfte. Jede freie Minute verbrachte ich an dem Teil und versuchte mich im Heraushören von Akkorden meiner Lieblings-Songs, was mit den Jahren immer besser klappte.
Allerdings stagnierte ab einem bestimmten Zeitpunkt das Spielen, denn mehr als die Grundakkorde in der rechten Hand und Ein-Finger-Begleitautomatik in der linken waren nicht drin.
Das war besonders schade für mich und wahrscheinlich leicht nervend für meine Umwelt in den Situationen, in denen ich in eine Örtlichkeit kam, in der ein Flügel oder Klavier stand - ich konnte einfach nicht widerstehen und musste meine rudimentären Kenntnisse am jeweiligen Instrument auslassen.
Und dann kam vor einigen Jahren der Moment, der alles ändern sollte und ich mich entschloss, das Klavierspielen nun endlich richtig zu lernen. So im Sinne von: "Mach das doch jetzt einfach mal - Du kannst nicht ewig nur die Playstation gut beherrschen!".
Ein befreundeter Pianist vermittelte mich an einen super Lehrer, der auf Pop und Jazz spezialisiert war und der genau auf meine Bedürfnisse und Fähigkeiten eingehen konnte. Auch wenn ich am Anfang knallhart mit Hänschen Klein und ähnlichen Sachen begann, habe ich das Üben und Lernen meistens nicht als Stress und Arbeit, sondern als Spaß und Freude, eben als Spielen empfunden.

Gerade am Anfang gab es natürlich enorme Lernfortschritte, die mich weiter motivierten. Nach zwei drei Jahren gab es hingegen auch kurze Phasen der Stagnation oder Demotivation.
Aber ich merkte, dass ich mehr oder weniger immer süchtiger nach diesem wunderschönen Instrument wurde. Schlagzeug spielen ist natürlich auch ziemlich geil, vor allem in einer Band. Aber um alleine Songs mit Melodien zu spielen doch eher ungeeignet.
Die Tatsache, dass ich viele Jahre zuvor bereits Schlagzeug spielte und Akkorde auf dem Keyboard klimperte, war fürs Klavier natürlich enorm von Vorteil.

Zudem hat auch das Klavier selbst einen großen Vorteil gegenüber den meisten anderen Instrumenten: ich muss nicht mühselig meine Finger oder meinen Mund verkrampfen, um den richtigen Ton zu treffen. Ich drücke einfach eine Taste und er ist da.

Als ich mit dem Unterricht begann, hatte ich die ersten zwei, drei Jahre ein wirklich tolles Clavinova CLP 545, was für meine damaligen Bedürfnisse vollkommen ausreichend war. Doch irgendwann reichte das nicht mehr. Der Traum eines jeden Klavierspielers ist natürlich das akustische Instrument, aber meine Wohnsituation ließ dies einfach nicht zu.
Nach langem Ausprobieren entschied ich mich für den Kauf eines AvantGrand Hybridpianos von Yamaha (N1X) und diesen Kauf habe ich bis heute nicht bereut. Wenn man für irgendwas eine Leidenschaft besitzt, dann möchte man wirklich das Bestmögliche haben.
Ich weiß nicht, wieviele schlaflose Nächte mir dieses Instrument bereitet hat. Nicht, weil ich mich über irgendwelche Fehler oder kaputte Teile aufgeregt hätte. Nein. Vielmehr, weil ich kurz vorm Schlafengehen noch mal eben kurz Stelle X und Lied Y spielen will. Und dann ist plötzlich schon wieder eine Stunde rum. Es ist wie eine Sucht.

Zur Zeit habe ich leider keinen Klavierunterricht, weil mein Klavierlehrer sich beruflich teilweise umorientiert hat. Aber ich bin jetzt schon auf einem Level, dass ich mir bestimmte Dinge selbst heraushören oder beibringen kann. Zumindest für das, was ich mache oder vorhabe.
Ich finde es jeden Tag von neuem faszinierend, dass ich mich ohne Noten ans Klavier setzen und einfach drauf losspielen kann. Ich muss nicht mehr darüber nachdenken, wie noch mal die zweite Umkehrung von G Moll geht oder wie ich ein C7 greifen muss, es fließt einfach so.
Es ist so ungemein befriedigend, zum einen überhaupt Musik aus diesem Instrument zu befördern. Aber auch für mich selbst die Erkenntnis, dass ich in der Lage bin, nur aus den vorliegenden Akkorden die Melodie herauszuarbeiten und eine Klavieradaption nach meinen Interessen und Bedürfnissen zu spielen.
Dann kann es vor lauter Euphorie auch schon mal passieren, dass ich eine Stunde lang nur an einem einzigen Stück sitze.

Gerade in unserer hektischen und aufgewühlten, manchmal auch komplett überfordernden Welt, ist das Klavierspiel eine Wohlfühl- und Regenerationsoase, aus der ich Kraft und Motivation schöpfe. Quasi ein sehr spirituelles Ritual. Was natürlich manchmal dazu führt, dass ich andere lästige Dinge wie Hausarbeit oder Aufräumen einfach mal liegen lasse oder bis zum geht nicht mehr aufschiebe. Ist wohl das Beethoven Gen.

Apropos: beim Klavier finde ich die Vorstellung total faszinierend, dass rein theoretisch ein Beethoven, Chopin oder Brahms mit ihren damaligen Instrumenten eine Bohemian Rhapsody, ein Hotel California oder ein Autumn Leaves als Solo Piano Stück hätten spielen oder komponieren können. Also rein theoretisch. Ich frage mich ja z.B. oft, ob klassische Komponisten damals in derselben Jazz- und Quintenzirkeltheorie gedacht und komponiert haben, wie wir sie heute kennen.

Epilog:
Ich liebe das Klavier als Instrument jedenfalls über alles und müsste ich mich zwischen Klavier und Schlagzeug entscheiden, würde ich mich tatsächlich für das Klavier entscheiden.
Wenn ich irgendwo in eine neue Wohnung oder in ein neues Haus komme, gucke ich stets zuerst, ob es ein Klavier oder einen Flügel dort gibt. Falls nicht, bin ich zunächst immer ein bisschen traurig, aber gucke gleichzeitig, wo ich denn eins hinstellen würde (siehe auch Thread "Ich kann keine Wurstzipfel essen - Klavieredition"). Vielleicht schon eine Art Obsession, keine Ahnung. Dass man mit gefühlvollem Spiel auch durchaus beim anderen Geschlecht punkten kann, ist dabei ein sehr nettes Add-On! ;-)

Ich hoffe in jedem Falle, dass ich mich noch viele Jahre und Jahrzehnte dieser Obsession hingeben kann.

In diesem Sinne:
Danke für Eure Aufmerksamkeit und Respekt an alle, die tatsächlich den ganzen Text gelesen haben! :)
 
Zuletzt bearbeitet:
In erster Linie passiert folgendes, wenn ich beginne, das Klavier zu spielen: Eintauchen in eine andere Welt, die mich komplett vergessen lässt dass der schwierige Alltag im zunehmenden Alter nicht leicht zu meistern ist. Sofort stellt sich ein sehr feines Gefühl des Wohlbehagens ein. Alles ist plötzlich leicht und schön. Bis es dann an die Details des Übens geht.

Ich habe das mal so beschrieben: Sobald der Klang der angeschlagenen Saiten auf mich trifft fühlt es sich an, also ob ich innerlich mit warmen, wohltuenden Öl aufgefüllt werde. Es macht mich ruhig und zufrieden.

Danach kann man süchtig werden wenn man nicht aufpasst.
 
Danach kann man süchtig werden wenn man nicht aufpasst.
Ich kenne kaum einen Musiker, der nicht auf diese Weise schwer abhängig wäre.
Für Musik gibts auch kein Substitut ... aber ich finde diese Sucht nicht schlimm ... ganz im Gegenteil. Während ich Klavier spiele, treiben mich meine anderen Süchte nicht so sehr vor sich her. Wenn ich Klavier spiele, dann dauert es manchmal Stunden, bis ich wieder schmacht auf Kaffee oder eine Kippe kriege.

Ich vergese dabei die Welt um mich herum und bin dann ganz mit mir, dem Instrument und der Musik alleine. Das hört bei mir auch nicht auf, wenn ich übe. Das ist dann Musik ... und Musik ist halt "was anderes".
 
In erster Linie passiert folgendes, wenn ich beginne, das Klavier zu spielen: Eintauchen in eine andere Welt, die mich komplett vergessen lässt dass der schwierige Alltag im zunehmenden Alter nicht leicht zu meistern ist. Sofort stellt sich ein sehr feines Gefühl des Wohlbehagens ein. Alles ist plötzlich leicht und schön. Bis es dann an die Details des Übens geht.

Ich habe das mal so beschrieben: Sobald der Klang der angeschlagenen Saiten auf mich trifft fühlt es sich an, also ob ich innerlich mit warmen, wohltuenden Öl aufgefüllt werde. Es macht mich ruhig und zufrieden.

Dieses Gefühl hatte ich vor einigen Monaten mal ziemlich intensiv, als ich in der Berliner Bechstein Zentrale an einem A190 saß. Ich hatte bis dato schon viele Klaviere und Flügel unter meinen Fingern. Aber der Sound dieses Instruments hat mich einfach umgehauen. Ähnlich wie Du es beschreibst, fühlte es sich so an, als würde mich beim Spielen eine wohltuende warme Klangwolke umgeben, aus der ich mich nicht mehr herausbewegen wollte.

Dieses Instrumet war bis jetzt das schönste, das ich spielen durfte. Da konnte selbst ein 150.000 Euro Steinway Flügel nicht mithalten.
 
Niemals! Aber auch niemals den berauschenden Wert kundtun! Sonst hagelts Steuern drauf 🤪
Stimmt, wenn Arbeit Spaß macht, ist‘s für das Finanzamt keine Arbeit mehr - mit der Konsequenz, daß Du auf Deine Einkünfte zwar Steuern zahlen mußt, aber keine absetzbaren Kosten gegenrechnen darfst. - Die Kommunen entscheiden dann, ob Du darüber hinaus vergnügungssteuerpflichtig bist …
 
Niemals! Aber auch niemals den berauschenden Wert kundtun! Sonst hagelts Steuern drauf 🤪
Am 26. Dezember des vergangenenen Jahres spielte Sir Andras in seinem Konzert eingangs (nicht auf dem Programm stehend) die 4 Duette aus dem 3. Theil der Clavier-Übung, anschließend alle 6 Englischen Suiten und als Zugabe die Chromatische Fantasie und Fuge.
Als er mir nach Ende des Konzerts (3h40min!) ein Autogramm in mein Exemplar der CF gab, war er immer noch "high". Die anfallende Vergnügungssteuer sollte sein Honorar bei weitem übersteigen!
 

dass der schwierige Alltag im zunehmenden Alter nicht leicht zu meistern ist.
Welche Schwierigkeiten und welches Alter meinst du?


...aber ich finde diese Sucht nicht schlimm ... Während ich Klavier spiele, treiben mich meine anderen Süchte nicht so sehr vor sich her. Wenn ich Klavier spiele, dann dauert es manchmal Stunden, bis ich wieder schmacht auf Kaffee oder eine Kippe kriege.
Kenn ich. Bei mir wird auch gerne mal der Kaffee kalt.
 
Welche Schwierigkeiten und welches Alter meinst du?



Kenn ich. Bei mir wird auch gerne mal der Kaffee kalt.
Der ständige Kampf um die Existenz eines kleinen mittelständigen Betriebes. Haifischbecken sage ich Dir! Überall Schwierigkeiten. Glücklicherweise bin ich an anderer Stelle, Privatbereich, sehr gut aufgestellt und kann dort regenerieren, auch durch das Hobby Klavierspiel.
Zu meinem Alter: Zu jung um zu sterben, zu alt um nochmal neu anzufangen.

Das muss reichen für dich.
 
@Stegull
Dann wünsche ich dir viele kraftspendende Momente am Instrument
 

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