Sorabji...

Hallo Gomez,
So, also zum ersten Punkt:
Ich glaube nicht, dass man diese Werke am Stück aufführen sollte (außer man hat ein
paar Stühle mit eingebautem Klo), jedenfalls nicht solche, die über 4 Stunden lang
sind. Mit "am Stück" meine ich, dass zwischen den verschiedenen Teilen eines Werkes
5 -Minuten-Pausen erlaubt sind, zum Beispiel zwischen den 3 Teilen des Opus Clavicembalisticums,
damit sich Publikum und Pianist wieder sammeln können.
Du hältst doch einen Akt Oper am Stück aus, oder?
Zum zweiten Punkt:
Die Orchesterimitation fordert Sorabji gar nicht. Ich habe ein paar seiner Werke angespielt
und ich konnte nirgendwo die vorsätzliche Orchestralisierung (gibt es so ein Wort überhaupt?)
des Klaviers erkennen. Als ich manches vom Blatt las, dachte ich auch, dass das Klavier
als Orchester behandelt wird, aber Pustekuchen, als ich die Stellen, die ich zuvor nur
gelesen hatte, ausführte (wie gesagt nur vom Blatt), da hörte es sich doch sehr nach
Klavier an.
Ich sehe seine Musik vom Spielen her so, als ob jemand Musik von Alkan mit Liszt nebenher laufen
lässt (nur vom technischen Ansatz her). Und so sehen die Noten auch aus: schwarz und polyrhytmisch :D
Außerdem habe ich gemerkt, dass meine Hände selbst nach 1-2 Stunden des Spielens
nicht überanstrengt waren. Das liegt daran, das in seiner Musik die Virtuosität nicht
die Musik selbst ist, sondern als Voraussetzung für die Aufführung dient (die von Madge und Ogdon leider nicht erfüllt wird).
Seine Musik hat eine sehr ausgeprägte Polyphonie, die nicht nur in den Fugen für Trubel sorgt.
So, für´s erste ist das genug!
 
Grenzen des Wachstums (II)

Lieber Tornado,

wie in vergleichbaren Gesprächen mit Rolf habe ich den Eindruck,
daß wir ein- und dieselbe Sache aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten
und daß der Erkenntnisgewinn vom jeweiligen Blickwinkel anhängt.
Du sprichst von dieser Musik als Pianist, ich von ihr unter ganz anderen Gesichtspunkten.

Zunächst noch einmal: Ich möchte Dir Sorabji nicht madig machen. Du schätzt ihn.
Ich kann mit ihm nichts anfangen und versuche, meine Abneigung zu begründen.

Das Hypertophe an seiner Musik stößt mich ab: die maßlose Ausdehnung seiner Werke
wie auch die für den gewählten Klangerzeuger nicht bewältigbare Materialfülle,
ganz zu schweigen von der zweifelhaften Qualität des Materials.

Zur Hypertrophie - Du sagst: Einer fünfstündigen Oper kann man doch auch folgen.
Das ist richtig, als Beispiel aber schlecht gewählt. Opernmusik ist nicht diskursiv,
sondern möchte Affekte spürbar werden lassen. Die Abhängigkeit vom Libretto
zwingt sie dabei zur Aneinanderreihung von Episoden, denen leicht zu folgen ist,
wozu der optische Reiz beiträgt. Dagegen sucht diskursive Musik die logische Entfaltung
des Materials, was Schaureize und die Aneinanderreihung von Episoden ausschließt.
Diskursive Musik kann - um die Weiterentwicklung von Motiven oder Themen
aus einer gemeinsamen Urzelle oder um Entsprechungen zwischen Formteilen
nachvollziehbar zu machen, eine gewisse Höchstdauer nicht überschreiten:
Anderthalb Stunden scheint das menschliche Gehirn zu verkraften -
die Aufführungsdauer einer Bruckner- oder Mahlersymphonie.

Ganz anders steht es um nichtdiskursive Instrumentalmusik, die endlos dauern könnte,
gäbe es nicht zwischendurch das Schlafbedürfnis von Interpreten und Publikum. Diese Musik -
Perotin, Satie, Cage, Minimal Music à la Steve Reich oder Morton Feldmans späte Kammermusik -
besteht aus einem Klangkontinuum, das gedächtnisfrei wahrgenommen werden soll,
ohne Rückbezüge auf Vorhandenes, Vorausblicke auf noch Folgendes.

Aber Sorabji versucht diskursiv zu schreiben. Zumindest täuscht seine Musik
Diskursivität vor, und sie ist dabei in einem für die heutige Zeit kaum mehr
vorstellbaren Ausmaß gedanklich überfrachtet. Ihr Ideal ist die spätromantische Weltschauungsmusik,
allem voran Skrjabin mit dem "Poème divin", "Poème de l'extase" und dem "Poème du feu",
Musik, die nach Skrjabins Vorstellungen das Menschengeschlecht auf eine höhere
Entwicklungsstufe hieven sollte. Skrjabins orchestrale Überwältigungsstrategien mit Apotheose,
Harfengezirpe und Vokalisen-Summchor ist bei Sorabji zum Klavier zusammenzugeschrumpft.
Aber die Maßlosigkeit des inhaltichen Anspruchs bleibt erhalten, und was dem Klavier an
zu entfaltender Klangenergie fehlt, ersetzt er durch Extension: hängt halt noch'n paar Stunden dran,
bis sein Publikum weichgekocht ist.

Aber ich halte das Klavier als Instrument zur Wiedergabe dieses bombastisch-orchestralen Krachs
für untauglich. Die Wiedergabe ineinander verflochtener polyphoner Stimmkomplexe ist am Klavier
nur durch beständigen Wechsel zwischen linker und rechter Hand, durch viel Rubato,
Stimmverzögerung und Arpeggieren nebst starkem Haltepedal-Einsatz möglich.
Dasselbe gilt für das Operieren mit übereinandergetürmten separaten Klangschichten.
Für einen geübten Pianisten ist das sicherlich zu bewältigen - einem akrobatischen Auftritt im Zirkus
vergleichbar (gewissermaßen einem Salto mortale). Die Musik verleugnet aber zu keinem Zeitpunkt
ihre Herkunft vom orchestralen Denken. Sie ist nicht aus dem Klavierklang heraus
und auch nicht für diesen erfunden. Das macht sie, vorallem in dieser Länge, so unerquicklich.

Wie schonmal gesagt: Wäre diese Musik durch den Einsatz orchestraler Klangfarben
sinnvoller artikuliert, könnte ich ihr vielleicht über einen größeren Zeitraum folgen,
würde aber trotzdem vorm Doppelstrich kapitulieren - weil mir auch das Material nicht zusagt.
Die Melodik ist unplastisch. Die vielgerühmte Harmonik kann sich zwischen der Bindung an eine erweiterte Tonalität
und einer Loslöung von ebendieser nicht entscheiden. Von der angeblichen Unkonventionalität der Fugen-Komplexe
merke ich nichts - stattdessen packt mich wegen der Vorhersehbarkeit ihrer Stimmverläufe das nackte Grausen.
Du siehst, der arme Sorabji kann es mir nicht recht machen.

Herzliche Grüße!

Gomez


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Hallo Gomez,
wie in vergleichbaren Gesprächen mit Rolf habe ich den Eindruck,
daß wir ein- und dieselbe Sache aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten
und daß der Erkenntnisgewinn vom jeweiligen Blickwinkel anhängt.
Du sprichst von dieser Musik als Pianist, ich von ihr unter ganz anderen Gesichtspunkten.
Ich hatte nur davon gesprochen, dass ich es spielte und dabei hörte ich, dass
das Klavier nicht als Orchester gedacht war.

Zunächst noch einmal: Ich möchte Dir Sorabji nicht madig machen. Du schätzt ihn.
Ich kann mit ihm nichts anfangen und versuche, meine Abneigung zu begründen.
Das schaffst du auch (bis jetzt) nicht. :D
Aber deine Abneigung (und ihre Gründe) habe ich natürlich verstanden.
Das Hypertophe an seiner Musik stößt mich ab: die maßlose Ausdehnung seiner Werke
wie auch die für den gewählten Klangerzeuger nicht bewältigbare Materialfülle
(von der zweifelhaften Qualität des Materials einmal zu schweigen).
Und wie ich schon sagte, gibt es auch (relativ) leichte Stücke mit normaler Länge.
Ich glaube aus seinen über 100 Werken sind vielleicht 20 mit Überlänge (=länger als
die längste Mahler/Brucknersinfonie). Ich schlage vor, du hörst dir einige kürzere
Werke (zum Beispiel "Le jardin parfumé"), die ich oben schon als Link gepostet hatte,
einmal an.
 
Um es in der Ausdruckweise einiger meiner Klassenkameraden auszudrücken: "Ich will ja nicht pushen, aber" es wäre nett wenn du antworten würdest. :D
 
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Lieber Tornado,

leider fällt meine Antwort nicht wunschgemäß aus.

Ich habe mich jetzt längere Zeit in Sorabjis "parfümiertem Garten" aufgehalten -
und müßte lügen, wenn ich behaupten sollte, daß es ein angenehmer Aufenthalt gewesen sei.
Ich habe mir einige der für Sorabjis Verhältnisse geradezu empörend kurzen Stücke angehört,
mit dem ehrlichen Bemühen, die Musik vorurteilsfrei auf mich wirken zu lassen.
Meine Arbeitshypothese war: "Was Sorabji macht, ist richtig, und ich muß lernen,
ihn zu verstehen." Leider bin ich damit auf ganzer Linie gescheitert.

Zur Dokumentation dieses Scheiterns: Abgesehen von "Djami" (dem Anfangsteil) und einigen
der "Transzendentalen Etüden" hatte ich keine Noten vor Augen, sondern mußte mich ganz
auf meinen Höreindruck verlassen. Du weißt, daß ich mich auch um Musik bemühe,
gegen die meine Geschmacksnerven rebellieren.

Es kommen also drei Möglichkeiten in Betracht, um das Scheitern zu erklären:
  • Die Stücke sind wunderschön, aber so hundmiserabel interpretiert, daß ich es nicht hören kann.
  • Die Stücke sind so wunderschön, daß auch die miserabelste Interpretation
    ihnen nichts anhaben kann, nur höre ich es nicht.
  • Die Stücke sind so hundmiserabel, daß auch die schönste Interpretation
    sie nicht retten kann, und ich höre es.

Einigen wir uns auf Möglichkeit Nr.2: Ich gebe mir die Schuld, und was ich Dir darüberhinaus
schuldig bin, ist eine plausible Erklärung für mein Unvermögen, diese Musik zu verstehen.
Es ist wirklich eigenartig, daß mir keine Note von diesem Mann gefällt. Musikalisch verhalten
er und ich uns zueinander wie Feuer und Wasser. Ein so hundertprozentiges Unvermögen,
mit der Musik eines anderen umzugehen, kenne ich von mir sonst nicht.

Was macht Sorabji aus meiner Perspektive falsch? Ich gebe ihm Mengenrabatt,
was die Hypertrophie und die als Orchester-Ersatz empfundene Klavierbehandlung betrifft,
und beschränke mich auf die Materialberge, mit denen er aufwartet. Es ist unsinnig,
von einem Komponisten etwas anderes einzufordern als das, was er zu bieten hat,
im Falle Sorabjis also eine "musique dépouillée" zu erwarten, wenn er doch durch Materialfülle
wirken möchte: durch Klangflächen, Tremoli, Unisoni, irrwitzige Läufe, skrjabineske Triller.
Gegen die Materialfülle ist nichts zu sagen - außer daß mich nichts von der Notwendigkeit
dieser Fülle überzeugt. Ich höre den rhetorischen Furor, die Grandezza, den Willen zur Monumentalität,
aber keine Aussage. Wie schon früher gesagt: Die Musik hört sich an wie ein endloser Monolog
aus vertrauten, aber sinnlos aneinandergereihten Textbausteinen.

Rolf hat den Vergleich zu Messiaen und Ligeti gezogen; als dritter im Bunde wäre Skrjabin zu nennen.
Was die mir bekannten Werke Sorabjis von der Musik dieser drei unterscheidet, ist ein Mangel
an Strukturierung - umgekehrt formuliert: Unabhängig vom Ausdrucksbedürfnis, der (quasi-)religiösen
Ekstatik beschäftigen sich z.B. Skrjabin und Messiaen immer mit rein musikalischen Problemen.
Die Melodik und Harmonik in Skrjabins später und Messiaens früher Schaffensperiode erwächst
sogar aus demselben Material; Messiaens Modus II ist mit Skrjabins oktatonischer Skala identisch.
Wahrscheinlich kann man das Ausdrucksbedürfnis und die Beschäftigung mit musikalischer Logik
gar nicht voneinander trennen. Die beiden Bereiche sind nicht unabhängig, sondern bedingen sich.
Es ist auffällig, daß die beiden großen Ekstatiker der Neuen Musik - eben Messiaen und Skrjabin -
zugleich ausgesprochene Rationalisten sind. Begrenzung und Entgrenzung sind aufeinander angewiesen.
Dieses Wissen fehlt Sorabji, und sollte mir nach jemand nachweisen, daß seine endlose musikalische
Berg- und Talfahrt auch irgendeiner geheimnisvollen Logik folgt, müßte ich's ihm glauben,
würde aber entgegnen, daß sie dann Sorabji leider nix genützt hat.

Du siehst, lieber Tornado, er kann es mir nicht recht machen. Ich bewundere Dich in jeder Hinsicht,
daß Du ihn spielen kannst, und halte das Spielen seiner Musik für die beste Art, sie auszuhalten.

Herzliche Grüße,

Gomez

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Außerdem plane ich ein Projekt zu starten, bei dem ich die Sequentia cyclica nach und nach einspielen werde (wird wohl in meinem Leben nicht mehr fertig :D )

Lieber Anton!

Wenn einer, dann Du - da bin ich mir ziemlich sicher!

Gestatte mir allerdings eine Bitte:

Mach beides: diesen Zyklus, und gleichzeitig Deine eigne Musik.
Das geht: andre habens vor Dir auch getan - schau mal hier.

ok. andre Welt, meinetwegen. Allerdings wünschte ich mir, daß Du Deine Welt baust.

Ganz und gar Herzliche Grüße!

stephan
 

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