Sollen Klavierlehrer Erziehen?

Stilblüte

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Eine Überlegung meinerseits:

Wir haben bei uns an der Musikhochschule einen Klavierstudenten, der folgendermaßen aussieht:
- Schuhe: extrem kaputte, dreckige, löchrige, ausgelatschte Chucks
- Kleidung oft sehr kaputt, ausgeleiert, nicht wirklich sauber
- Klischeehaft kommt dazu, dass er sehr lange Dreadlocks hat, die aber nicht gut gepflegt aussehen (der Ansatz sieht aus wie Kraut und Rüben).
Besonders engagiert ist er auch nicht und scheint sich um wichtige Dinge (Prüfungsangelegenheiten, Antworten auf Fragen etc.) nicht immer ausreichend zu kümmern.

Ich versuche möglichst Abstand zu ihm zu halten, weil ich ihn leider durch und durch unsympatisch finde und den Eindruck habe, mir die Hände waschen zu müssen wenn wir uns (z.B. beim 4-Händig spielen in Prima Vista) berührt haben.

Da das schon eine ganze Weile so ist, frage ich mich - sollte nicht der Professor mit diesem Studenten darüber mal sprechen (falls nicht schon erfolglos getan - das weiß ich natürlich nicht) ?
Man kann natürlich gewisse Lebenshaltungen auch im Kleidungsstil ausdrücken, aber wenn man derart ungepflegt aussieht, fällt es doch negativ auf einen selbst zurück. Wie soll das auf der Bühne werden?

Ich könnte mir jetzt "alte Meister" als Professoren vorstellen, die dann Sätze sagen wie "komm nächstes Mal ordentlich angezogen, sonst unterrichte ich dich nicht."
Oder den Gutmenschen, der vorsichtig und behutsam mal ein Gespräch entwickelt.
Oder den Geht-mich-nichts-an, der einfach Klavierunterricht macht.

Studenten sind ja nun erwachsene Menschen, die gewisse Verhaltensregeln im Leben gelernt haben sollten. Andererseits zeigt sich immer wieder, dass einige davon offensichtlich noch nicht verstanden oder angewendet werden...
 
What you say is what you get. ;-)

Saubere (nichtstinkende) Klamotten kann man verlangen. Einen frischgeduschten Eleven nicht - aber einen, der in den letzten 48 Stunden mal geduscht hat. Das ist legitim.
 
Hallo @Stilblüte
Du hast jetzt viel über sein Äußeres geschrieben, aber nichts über seine Leistungen und ebenfalls nichts über den Menschen hinter der "vergammelten" Fassade. Aber auch das gehört zum Gesamteindruck eines Menschen. Natürlich empfinde ich es nicht unbedingt als super sympathisch, wenn jemand ein Krähennest auf dem Kopf trägt oder aussieht, als wäre der Fön explodiert.
Aber so lange es keinen konkreten dresscode in der Schule gibt oder eine Richtlinie der professional attitude bzw. behaviors, so lange wird sich jeder Student geben können, wie er es als persönlich o.k. erachtet.
Unabhängig von likes oder dislikes der Kommilitonen / Lehrkräfte etc.
 
Erziehung funktioniert nur über Beziehung. Abgesehen davon, dass mir das Wort "Erziehung" bei einem Erwachsenen etwas deplatziert erscheint. Die möglichen Verhaltensweisen zu einem solchen Menschen hängen natürlich immer davon ab, wie man zu ihm in Beziehung steht. Wenn ein Lehrer stinkt - auch das solls geben - ist das für den Schüler doppelt unangenehm, weil er ihn oft nicht loswerden kann. Für den Lehrer sollte es normalerweise einfacher sein, solche Schüler auf Distanz zu halten, die Sache anzusprechen bzw. den Schüler ev. auch abzugeben.
Ich persönlich würd ihm wenn möglich aus dem Weg gehen. Alternativ, bzw. wenn der Leidensdruck zu groß wird, würd ich ihn darauf ansprechen.
 
Du hast jetzt viel über sein Äußeres geschrieben, aber nichts über seine Leistungen und ebenfalls nichts über den Menschen hinter der "vergammelten" Fassade. Aber auch das gehört zum Gesamteindruck eines Menschen.
Nun, ich habe geschrieben, dass er mir unsympatisch ist. Das liegt nicht nur an seiner äußeren Erscheinung. Auch habe ich geschrieben, dass er sich wenig um wichtige Angelegenheiten kümmert, was nicht direkt damit zu tun hat, aber irgendwie dazu passt.
Was die Leistungen angeht - meinem Eindruck nach ist er kein besonders "starker" Student, aber das wiederum würde ich nun nicht so direkt in Zusammenhang mit der Erscheinung bringen und auch nur bedingt mit dem Charakter, obwohl Nachlässigkeit, Leistungsbereitschaft und Erfolge natürlich schon Hand in Hand gehen.
 
wenn man in der Geschichte der Musik ein wenig herum kramt, so findet man oft skurrile Persönlichkeiten. Vielleicht ist er ja eine solche und Du wirst einmal stolz sagen können, mit ihm studiert zu haben. ;-)

Allerdings kann ich zumindest teilweise Deine Antipathie nachempfinden. Ich selbst schätze eine gewisse innere Einstellung zum Beruf, nicht übertriebenen Ehrgeiz und auch Umgangsformen. Falls jemand nicht in diese Wunschvorstellung passt, muss ich leider zu meiner Schande gestehen, wirkt er auf mich nicht unbedingt als idealer Kollege, Geschäftspartner etc.. Es liegt dann an uns beiden, die bestehenden Vorurteile entweder zu bestätigen oder zu revidieren.
 
Da das schon eine ganze Weile so ist, frage ich mich - sollte nicht der Professor mit diesem Studenten darüber mal sprechen (falls nicht schon erfolglos getan - das weiß ich natürlich nicht) ?

Wenn Du so große Probleme mit ihm hast stellt sich mir die Frage, ob Du ihn selber schon mal drauf angesprochen hast. Das wäre nach meinem Empfinden der richtige Weg.
 
Da das schon eine ganze Weile so ist, frage ich mich - sollte nicht der Professor mit diesem Studenten darüber mal sprechen

Anders als etwa die Schulordnungen sieht das Bayr. Hochschulgesetz keinen expliziten Erziehungsauftrag vor; es geht halt davon aus, daß die Leute einigermaßen "erzogen" an die Uni kommen, wenngleich sich das immer öfter als Illusion erweist. Also hat der Dozent da keine rechtliche Handhabe, es sei denn, der Dreckbär beeinträchtigt den Unterricht. Aber auch da kann man am schnellsten informell etwas erreichen, nämlich durch Druck der beeinträchtigten Mitstudenten; denn bis man auf offiziellem Weg, etwa mit dem Argument, der Mensch sei eine Gefahr für die allgemeine Hygiene, einen Ausschluß von den Lehrveranstaltungen erreichen könnte, ist nicht nur ein Semester rum. Natürlich kann man so jemanden in die Sprechstunde bitten und ihm das Problem nahebringen. Aber wenn er sich stur stellt und darauf beharrt, daß das nun mal sein revolutionäres Outfit sei, hast Du Dein Pulver verschossen.
 
Bezüglich der Klamotten- und Schuhwahl wäre ich vorsichtig mit Zuschreibungen. Möglicherweise steckt nicht eine Ideologie, sondern ein schlichtes Geldproblem dahinter.

Natürlich ist es angenehmer, mit Leuten zusammenzuarbeiten, die ähnliche Standards haben, und wenn ein tatsächliches Hygieneproblem vorliegt, würde ich das auch bei der Person ansprechen. Nicht im Sinne von "Du stinkst, wasch dich mal", sondern als Botschaft, wie ich mich diesbezüglich fühle. An einen Prof delegieren würde ich das nicht.

Ob derjenige sein Studium packt oder nicht, ob er unzuverlässig ist oder nicht, ist eine andere Geschichte. Wenn mich das direkt beträfe, z.B. weil wir gemeinsam eine Arbeit schreiben müssen und nicht vorankommen, würde ich es auch konkret thematisieren.

Das Thema an sich ist auch in Unternehmen sehr "beliebt". Es gibt aber keinen Königsweg, wie man damit umgeht. Man kann nur aus der Situation heraus schauen, mit wem man es zu tun hat, und dann individuelle Lösungen finden.
 
Wenn er lieber übt anstatt sich zu waschen, ist es doch nicht unbedingt verkehrt. Die größten Cracks haben nur sich und ihre Passion. Partnerwahl und deren Ambitionen sich dem Standard zu fügen ist bei denen wahrscheinlich eher unterdurchschnittlich entwickelt.:-D

LG lustknabe
 

Schlimmer als diesen relativ harmlosen Fall finde ich, wenn (wie ich seinerzeit mehrfach erlebt habe) Studenten in richtige psychische Krisen und Erkrankungen geraten und/oder ein regelrecht lebensunfähiges Verhalten an den Tag legen (so dass der Rest der Hochschule schon ständig tuschelt und spottet...), der Professor jedoch den Studenten einfach so weiterunterrichtet (weil, er ist ja "so ein Talent" und gewinnt ja auch durchaus Wettbewerbe), statt zu sagen: "Pass mal auf, bitte krieg mal erstmal Dein Leben auf die Reihe, begib Dich in Behandlung etc., und dann können wir irgendwann mal weitergucken mit dem Studium!"

Denn gerade das Klavierstudium ist durch die Vereinzelung, die das viele Üben mit sich bringt, nicht förderlich für Menschen mit psychosozialen Problemen.
 
Interessante Antworten, vielen Dank.
Wenn Du so große Probleme mit ihm hast stellt sich mir die Frage, ob Du ihn selber schon mal drauf angesprochen hast.
Nein, habe ich nicht, denn das sehe ich nicht als meine Aufgabe. Ehrlich gesagt ist es mir persönlich egal, ob er wie ein Obdachloser aussieht oder nicht, die wenigen Male wo ich mit ihm zu tun habe, überlebe ich schon.
Es ging in meiner Frage eher um die generelle Überlegung, welche "Macht" oder "Verantwortung" ein Professor gegenüber seinem Schüler hat, und dieser diente als Beispiel.
Ich muss das nochmal deutlich sagen: Es liegt (hoffentlich) kein Hygieneproblem vor (abgesehen von den ungepflegten Haaren), sondern das Aussehen ist ungepflegt. Da gibt es zum Glück noch einen Unterschied.
Bezüglich der Klamotten- und Schuhwahl wäre ich vorsichtig mit Zuschreibungen. Möglicherweise steckt nicht eine Ideologie, sondern ein schlichtes Geldproblem dahinter.
Nein, dahinter kann kein Geldproblem stecken. Es gibt heutzutage so unendlich günstige Kleidung und Schuhe - wenn man sich in Würzburg eine Wohnung leisten und Essen kann, kann man sich die kaufen. Dafür spricht auch die Marke, die die Schuhe mal hatten.
Vielleicht ist er ja eine solche und Du wirst einmal stolz sagen können, mit ihm studiert zu haben. ;-)
Das würde mich extrem überraschen. Ungefähr so extrem, wie es mich überraschen würde, wenn Till Schweiger Bundeskanzler werden würde.

@hasenbein
Wir hatten (übrigens bei derselben Professorin...) tatsächlich mal einen psychisch gestörten Studenten. Er hat tatsächlich seinen Abschluss geschafft. Als Pianist / Lehrer arbeiten wird er aber (in dem Zustand) nicht können.
 
Ich will nicht besserwisserisch klingen, aber vielleicht reicht sein Geld tatsächlich nur für Wohnung und Essen, wer weiß. Ich habe aber keine Ahnung vom Preisniveau in Würzburg oder von seinen persönlichen Verhältnissen.

Ich erlebe es in meinem Job häufig, dass Leute gar nicht wissen, an wen sie sich bei (Finanz-)Problemen wenden können, und je länger man mit der Hilfesuche wartet, desto unangenehmer kommt es einem vor, und so rutscht man in eine Art Teufelskreis.

Damit will ich aber nicht sagen, dass Du den Sozialdienst für die Person spielen solltest. Den Anknüpfungspunkt für Dich sehe ich tatsächlich im persönlichen Gespräch mit ihm.
 
@Stilblüte, läßt sich nicht noch irgendwo bei euch ein Student mit Glatze, Bomberjacke und Springerstiefeln auftreiben? Dann sollen die doch gemeinsam 4 händig spielen.... :teufel:

Viele Grüße

Styx
 
Ne, solche gibts bei uns nicht. Viel zu viele Ausländer unter den Studenten, Dozenten und Komponisten :lol:
 
Studenten sind ja nun erwachsene Menschen, die gewisse Verhaltensregeln im Leben gelernt haben sollten. Andererseits zeigt sich immer wieder, dass einige davon offensichtlich noch nicht verstanden oder angewendet werden...
Je älter ein Mensch ist, desto nachhaltiger haben sich seine Persönlichkeitsstrukturen verfestigt - sowohl in positiver als auch in negativer Hinsicht. Auch wenn sich nicht die Aufgabe stellt, erwachsene Menschen noch zu erziehen: Gewisse Mindeststandards werden im Geschäftsleben und im zwischenmenschlichen Umgang offiziell (Dress-Code) oder inoffiziell (ungeschriebenes Gesetz) allseitig erwartet. Es nützt keinem etwas, seine Individualität zu verteidigen und dadurch zum Sozialfall abzurutschen. Wenn man durch inakzeptables Auftreten beispielsweise Aufträge verliert und bei Bewerbungen auf Ablehnung stößt, besteht unbedingt Veränderungsbedarf.

Allerdings ist der eigene Handlungsspielraum individuell begrenzt: In diesem Falle kann der Professor naturgemäß stärker auf die Korrektur eines nicht annehmbaren Verhaltens drängen als ein Mitstudent. Es führt kein Weg daran vorbei, die Person höflich, aber mit Verbindlichkeit darauf anzusprechen, dass man sich durch ein derartig abstoßendes Erscheinungsbild (an dem man mit überschaubarem Aufwand etwas ändern kann) gestört fühlt. Und dann kann man nur hoffen, dass auf der Gegenseite Bereitschaft zu Einsicht und Veränderung besteht. Wenn Persönlichkeitsstörungen oder gar ein psychisches Krankheitsbild vorliegen sollten, könnten Nachlässigkeiten und Verwahrlosung ein Krankheitssymptom sein - da kann man durch gutes Zureden als medizinischer Laie kaum etwas bewirken.

Zur Ausgangsfrage, ob Klavierlehrer erzieherisch tätig sein sollten: Es gibt eine gewisse Interaktion zwischen Erziehung und künstlerischer Tätigkeit. Denn ein künstlerischer Fortschritt stellt sich nur ein, wenn Disziplin, Verlässlichkeit, Durchhaltevermögen, Fähigkeit zur selbstkritischen Reflexion und dergleichen mehr gegeben sind - und das sind zweifellos erzieherische Voraussetzungen, die bei der Erziehung eines Kindes vermittelt und bei der von Jugendlichen gefestigt werden müssen. Bei (jungen) Erwachsenen, die selbst schon Unterricht erteilen (könnten), gehört das aber schon zu den Voraussetzungen, den Beruf überhaupt ausüben zu können. Wie kann jemand persönlichkeitsbildend tätig sein, wenn er nicht einmal sein eigenes Leben zu bewältigen vermag?

LG von Rheinkultur
 
Mein erster Lehrer war so einer, der die erziehung mit in die Hand genommen hat... nicht nur dass er uns auch allgemein geprägt hat, insbesondere was Auftreten etc. anging, hatte er sehr genaue Vorstellungen wie seine Schüler dies praktizieren sollten. Wenn einer bei den ab und zu aber regelmäßig stattfindenden Konzerten in Jeans kam, so wurde er direkt nach Hause geschickt! Zwei Jungs mussten einmal zwei Stunden wieder auf die Eltern draußen in der Kälte warten, da kannte er nichts...
 
Wenn ich das alles so lese, muss das nächste Konzert einfach in total unkonventionellen Trachten stattfinden, @Styx hatte den perfekten Vorschlag:bomb::-D

LG lustknabe
 

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