Profi-Klavierspiel und Lebenserfahrung

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13. Feb. 2015
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Ich habe gerade zum 4.oder 5. mal Hartmut Langes Novelle " Das Konzert" gelesen.

Sie spielt in Berlin nach dem zweiten Weltkrieg.

Frau Altenschul lädt eine illustre Gesellschaft (u.a. Max Liebermann) regelmäßig zu Soirees ein.

Alle Personen ( Juden und Nazis) in dieser Novelle sind tot.

Lewanski, ein Pianist, kommt zu dieser Gesellschaft hinzu und gibt Konzerte.

Er wurde im Alter von 28 Jahren von den Nazis hingerichtet.

Immer wieder versucht er Beethovens E-Dur Sonate Opus 109 zu spielen und verzweifelt daran, sie nicht formvollendet und nach seinen Vorstellungen spielen zu können aufgrund seiner kurzen Lebensdauer.

Zitat: " Ich bitte um Entschuldigung! Sie hören es selbst, um dies spielen zu können, sollte ich erwachsen sein. Man hat mich zu früh aus dem Leben gerissen."

In der Novelle geht es um Schuld, Sühne und Vergebung.

Aber das soll hier nicht Thema sein.

Ich stelle mir die Frage, ob Profis und sehr gute Amateure in jungen Jahren Literatur spielen können von Komponisten, die über eine längere und größere Lebensspanne und Lebenserfahrung verfügen.
 
Ich stelle mir die Frage, ob Profis und sehr gute Amateure in jungen Jahren Literatur spielen können von Komponisten, die über eine längere und größere Lebensspanne und Lebenserfahrung verfügen.
Ich würde sagen: Ja, sicher. Es ist beeindruckend, was so manche 18-Jährige technisch schon draufhaben. Bzgl. Lebenserfahrung und entsprechende Musikalität brauchen sie wahrscheinlich noch gute Anleitungen vom KL. Aber machbar ist es.
 
Meinst du, ob junge Menschen/Künstler verstehen können, was ein lebenserfahrener, älterer Komponist ausdrücken möchte?

Das ist eine gute Frage. Mir fallen da sofort die Goldberg Variationen von Glenn Gould ein. Zwei mal eingespielt - zwei ganz unterschiedliche Interpretationen. Aufgenommen im Abstand von 27 Jahren. Technische Ausgereiftheit der zweiten Aufnahme allein erklärt nicht den Kontrast zur Ersten.
 
Die darauf aufbauende Frage könnte auch lauten: Kann ein reifer, alternder Künstler Werke junger Komponisten in ihrem Sinne durchdringen?

Die 1. Symphonie von Shostakovich z.B. ist so voller jugendlicher Energie, Kreativität und Tatendrang....im Alter wird das schwierig.

Vergleicht mal die Körpersprache im klassischen Konzert der Streicher in der dem Publikum zugewandten ersten Reihe von jungen und alten Musikern....
 
Gerade habe ich mit einem Maler gesprochen, er hat einige seiner Bilder verkauft, sieht sich allerdings nicht als Profi.

Meine erste Frage bezog sich auf Munchs Schrei.

Kann ein junger Maler ohne psychische Erkrankung oder ohne sehr belastende Lebensereignisse diesen vollendeten Ausdruck von Angst, Schrecken und Entsetzen malen.

Zweitens habe ich ihn gefragt, ob dieser eine Auftragsarbeit, hier sehe ich zum Beispiel eine Parallele zur Musik, auf eine eine Weise malen, ohne s.o., nach der Vorstellung eines Kunden.

Wir diskutieren noch.
 
Es ist beeindruckend, was so manche 18-Jährige technisch schon draufhaben.
Es ist nicht minder beeindruckend, was manche 13-jährige musikalisch schon draufhaben. ;-)

Sehr ulkig finde ich so manche Einlassung, dass man beispielsweise die späten Schubert-Sonaten erst im Greisenalter in allen Facetten erfassen könne und in jungen Jahren besser die Finger davon lasse. Dabei war Schubert gerade mal 30, als er seine letzten Sonaten komponierte!

Ich halte überhaupt nichts von der These, dass es eine wie auch immer geartete Kongruenz zwischen dem Komponistenalter bei der Erschaffung und dem Interpretenalter bei der Aufführung des Werkes geben müsse. Ich habe beispielsweise Beethovens op. 109 gelernt, als ich 12 oder 13 war. Klar ist, dass ich die Sonate jetzt anders spielen würde als damals. Ob das Andere dann auch das Bessere wäre, ist damit aber noch lange nicht gesagt. Auch ein unbekümmerter, jugendlicher Zugang kann eine sehr spannende Sicht auf so ein Werk eröffnen.
 

Das Alter ist sekundär. Überschneidungen mit der Lebenswelt sind viel wichtiger.

(Lebens-)Erfahrung kann durch Fantasie ersetzt werden. Die Appassionata lässt sich auch dann überzeugend interpretieren, wenn man nicht selbst die seelischen Abgründe gesehehen hat, sich aber vorstellen kann, wie sie vom Komponisten erlebt wurden, um eine universelle Aussage zu machen.

Diese Fantasie zu entwickeln, ist jedoch nicht in jedem Alter möglich.
 
Das Alter ist sekundär. Überschneidungen mit der Lebenswelt sind viel wichtiger.

(Lebens-)Erfahrung kann durch Fantasie ersetzt werden. Die Appassionata lässt sich auch dann überzeugend interpretieren, wenn man nicht selbst die seelischen Abgründe gesehehen hat, sich aber vorstellen kann, wie sie vom Komponisten erlebt wurden, um eine universelle Aussage zu machen.

Diese Fantasie zu entwickeln, ist jedoch nicht in jedem Alter möglich.

Was genau meinst du mit "Überschneidungen mit der Lebenswelt"?
 
Mir geht es so:

Als Zuhörerin:
Ich genieße verschiedene Stadien eines vorgespielten Stückes auf verschiedene Weise. Wenn Amateure spielen, ist das oft sehr ungeschliffen in positiver Weise - es ist noch nicht der Standardschliff der Vereinheitlichung drübergefahren, Eigenheiten, Persönliches, auch Situatives tritt sehr stark zutage und ist auch ein sehr deutliches Abbild des Raumes, des Flügels, der Stimmung, des Moments.
Wenn sehr gute Profis (jeden Alters) spielen und mir der Stil und die Interpretation gefällt, kann mich das packen und mitreißen, u.U. auch tief bewegen. Das ist vom Alter dann unabhängig.
Wenn sehr begabte Kinder spielen, kann sich eine Mischung aus den ersten beiden ergeben: Es spielt dort eine Unbedarftheit und Direktheit mit, die ich sehr genieße, aber die professionellen Einflüsse geben dem Spiel bereits einen sehr guten Klang und eine besondere Art Informiertheit.

Als Spielerin:
Ich bilde mir durchaus ein, dass ich jetzt anders spiele als vor 10 oder 15 Jahren, und in weiteren 10 oder 25 Jahren wird es sich nochmals verändern. Das hängt nicht nur mit der musikalischen Entwicklung zusammen, sondern auch mit der psychologischen. Ich werde zum Beispiel gelassener, je älter ich werde; es ist mir egaler, wie andere mich oder mein Spiel finden, ich muss weniger beweisen (weder für mich persönlich, noch für meine Karriere, Prüfungen o.ä.), und das schenkt wieder eine Freiheit, die man im Studium nicht immer hat.
Vermutlich spielt auch eine Rolle, welche Erlebnisse und emotionalen Zustände man im Leben bereits erfahren hat. Sicher genauso wichtig ist aber die musikalische Entwicklung, das strukturelle verständnis und die psychologische und körperliche Verfassung (s.o.)
 
Was genau meinst du mit "Überschneidungen mit der Lebenswelt"?
Damit meine ich, dass man in der Lage ist, in etwas, das künstlerisch abstrahiert ist, etwas selbst Erfahrenes wiederzufinden. Man hört z.B. ein Musikstück und denkt sinngemäß: „Das hat etwas mit mir und meinem Leben, meinen Erfahrungen zu tun, deshalb möchte ich es spielen (oder genauer kennenlernen).“ Der Zugang zum Werk ist dann - unabhängig vom Alter - durch diese besondere Form der Verbindung gegeben. Genau dies ist auch der Ansatz der aktuellen Musikdidaktik.
 
Ich denke dass Lebensalter und damit -erfahrung schon eine Rolle spielen bei der Interpretation von Musik. Ich finde die emotionale Identifikation als Interpret mit dem Stück - unabhängig vom Alter des Komponisten oder Interpreten - aber entscheidender, ob ein Stück auch ergreifend rüberkommt. Also wie Flieger schon gesagt hat eher eine Charakterfrage. Dabei lernen Profis, auch Musik darzubieten die ihnen vielleicht nicht 100% liegt oder gefällt, während Amateure da möglicherweise Schwierigkeiten haben.
Außerdem ist die Frage, ob jemand Zugang zu bestimmter Literatur hat, zwischen 15 und 30 - wie in anderen Lebensbereichen auch - vermutlich mit einer größeren Entwicklung versehen als z.B. zwischen 30 und 45.
 
Damit meine ich, dass man in der Lage ist, in etwas, das künstlerisch abstrahiert ist, etwas selbst Erfahrenes wiederzufinden.
Mephistowalzer, Suggestion diabolique, "schwarze Messe", "Gang zum Richtplatz & Hexensabbat" müsste man demzufolge nur dann überzeugend darbieten können, wenn man mit dem Teufel, mit Hinrichtungen und mit Okkultismus Erfahrungen hat? ...das überzeugt mich nicht.
 
wenn man mit dem Teufel, mit Hinrichtungen und mit Okkultismus Erfahrungen hat? ...das überzeugt mich nicht.
Echt nicht? Ich finde mich da als Student bestens vorbereitet….. ich musste Vorlesungen beim Teufel besuchen, wurde in Prüfungen hingerichtet und hab es beim zweiten Antritt mit magischen Ritualen versucht.
 
Da gibt es auch Paradoxa, zB je älter David Garrett wird, desto unreifer klingt sein Spiel.
 

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