Lieber Niko87,
die meisten Schüler können mit den Begriffen "mit Gefühl spielen" oder auch "ausdrucksvoll spielen" nichts anfangen. Ich benutze diese Worte so gut wie nicht im Unterricht.
Sehr wohl können sie aber etwas mit Begriffen anfangen wie "das klingt traurig", "das klingt lustig", das hört sich melancholisch an", u.v.a.. Fragen "wie soll das denn klingen?" oder "was möchtest du damit ausdrücken?" oder "was meint der Komponist damit?" können Anstöße geben, sich mit dem musikalischen und emotionalen Gehalt von Musik zu beschäftigen.
Wie schafft man es, dass Musik lebendig erklingt? Dass die Töne nicht, wie hier im Faden beschrieben, in roboterhafter Weise unzusammenhängend erklingen?
Indem man versucht, zu hören! Welche Töne gehören zusammen? Welche musikalischen Bausteine sind zu erkennen? Welche Töne bilden die Melodie, welche die Begleitung? Was bedeutet das für die musikalische Gestaltung? Aha, die Musik ist wichtiger, also werde ich sie wohl lauter spielen und die Begleitung leiser, damit sie den Verlauf der Melodie nicht stört. Hm, wie hört sich überhaupt die Melodie an. Aha, sie hat Richtungen, geht mal nach oben, mal nach unten, hat einen Anfang und ein Ende. Wo ist das Ziel dieser Melodie, wo spiele ich hin, wo spannt sie sich (wird lauter) und entspannt sich( wird leiser). Die Töne einer Melodie haben auch bestimmte Abstände zueinander, Intervalle genannt. Wo sind Tonschritte, wo Tonsprünge? Gibt es einen Tonsprung, der eine besondere Spannung hat? Kann ich die Melodie auch von anderen Tönen aus spielen? Lerne ich Intervalle zu hören und zu singen, später auch Tonleitern, Akkorde etc.? Variiere ich meine Stücke, spiele sie mal lauter, mal leiser, mal gebunden oder kurz (legato, staccato) und höre, was sie dann für eine unterschiedliche Wirkung haben? Vielleicht komme ich auf die Idee, das auch mal mit meiner Stimme zu versuchen: was für eine Wirkung entsteht, wenn ich flüstere, wenn ich laut rede, wenn ich bestimmte Wörter akzentuiere, wenn ich einen Satz mal anders betone. Wie redet ein guter Redner (Obama anhören), was macht er, damit seine Rede ankommt bei den Hörern und fesselnd ist?
Auf Musik übertragen: wie differenziere ich die Klänge, die ich spiele so, dass daraus eine fesselnde Rede wird, eine spannende Geschichte?
All diese Fragen helfen, sich mit der Musik, die man spielt, zu beschäftigen und Gestaltungsmöglichkeiten zu entdecken, als da sind Phrasierung, Dynamik, Artikulation, Tempo u.a.. All diese Fragen schulen das Gehör und dieser Punkt ist die wichtigste Antwort auf deine Frage. Schule dein Gehör und dein Musikverständnis in den verschiedensten Formen und Möglichkeiten (auch mit Improvisation) und du wirst fühlen. Du wirst hören, dass hart gespielte, gleichförmige und unzusammenhängende Töne bei dir ein Gefühl von Brechreiz auslösen werden und dass ein einziger, warmer, runder und voller Ton ein wahres Glück sein kann. Es wird dir eine herrliche Welt aufgehen aus Klängen und Tönen, die dich berühren werden. Und dann wirst du automatisch "mit Gefühl" spielen, ohne dass man dir das sagen muss.
Viele Freude dabei wünscht
chiarina