Mentale Lernfortschritte eines absoluten Anfängers

Hi Tonsee,

ich bin bei allem ganz deiner Meinung. Witzig ist, dass wir uns in unserem "Klavierlernen" total ähneln. Ich bin 27 Jahre alt. Ich spiele seit ca. 2 Jahren Klavier (nur für mich) und seit 8 Monaten nehme ich Unterricht. Ich spiele derzeit auch Burgmüller ( La Candour, Arabesque, jetzt bin ich bei La petite reunion), dann spiele ich auch das Menuett von Bach, wobei ich da noch die Verzierungen lernen muss.

Vor ein paar Wochen noch, habe ich 2 oder 3 Stücke aus der Russischen Klavierschule Band 1 innerhalb einer Woche gelernt. Das klappt mittlerweile nicht mehr. Jetzt bin ich schon mit einem Stück für eine Woche total überfordert. Ich denke, dass es an der Komplexität der Stücke liegt.

Dass Kinder die Stücke schon mit jungen Jahren spielen können, demotiviert mich auch. Allerdings sagte mir meine KL, dass sie eine Schülerin hat (ca. 9 oder 10 Jahre alt, spielt seit 4 Jahren) die genau das selbe jetzt übt. Also ca. so weit ist wie ich. Das finde ich sehr motivierend, da das Kind schon länger lernt als ich!
 
Zuletzt bearbeitet:
@Anna123 ...
„Dass Kinder die Stücke schon mit jungen Jahren spielen können, demotiviert mich auch.“ ...
Und auf YT kann man massenweise die kleinen Wunderkinder bestaunen, die total cool die Standardliteratur runterspielen.
Da ist aber oft ein strenges Elternregime im Spiel.
Man hört ja immer wieder von der Mutti, die im Nebenzimmer bügelt und dabei die Tonleitern des Nachwuchses streng überwacht.
Hat eben alles seinen Preis.
:-)
 
Ich habe vor 9 Monaten mit 42 mit Klavierspielen angefangen, als totaler Anfänger mit Null musikalischen Vorkenntnissen. Neben der Musik hat mich auch die mentale Herausforderung gereizt, etwas komplett Neues zu lernen.

Ich möchte in diesem Thread für mich selbst und andere Anfänger etwas meine mentalen Lernfortschritte und Erkenntnisse dokumentieren. Und vielleicht ist es auch für den einen oder anderen Klavierlehrer interessant. Bei meinem ersten KL hatte ich ja sehr den Eindruck, dass er sich überhaupt nicht mehr in das Hirn eines Anfängers hineinversetzen kann.

Erkenntnisse nach 9 Monaten mit täglich 30-60 Minuten üben und 1x wöchentlich Klavierunterricht:

1. Der See ist viel tiefer, aber es geht schneller voran als gedacht
Um mal beim Bild zu bleiben: Als Totalanfänger habe ich gedacht, der See des Klavierspiels ist rund 100 Meter tief und es wird natürlich progressiv immer schwieriger, weiter hinab zu tauchen. Ich dachte ausserdem, nach einem Jahr ist man so auf Level 5 und nach zehn Jahren auf Level 30... Jetzt bin ich zu meiner Überraschung nach neun Monaten viel weiter gekommen, als ursprünglich gedacht, auf Level 15 oder so. Ich spiele schon wirklich schöne kleine Stücke. Dafür habe ich auch realisiert, dass der See tatsächlich eher 1000 Meter bzw. Level tief ist. Das ist manchmal abschreckend und frustrierend, es überwiegt derzeit aber ganz klar die Freude, über das bisher schon Erreichte.

2. Die Schwierigkeiten sind vor allem mental
Zu Beginn habe ich gedacht, dass Klavierspielen vielleicht zu 50% eine mentale Herausforderung ist und zu 50% eine der Fingerfertigkeit. Derzeit denke ich, dass es zu 95% eine mentale Sache ist. Auf meinem Anfängerniveau bin ich in Sachen Fingerfertigkeit noch nie an ernsthafte Grenzen gestossen. Das mit der Unabhängigkeit der Hände klappte so nach 3 Monaten auch schon recht gut. Mental stehe ich dagegen ständig an.

Es gibt einfach zu viel aufs Mal zu tun: Taste treffen, richtiger Rhythmus, schönen Ton erzeugen, Melodie und Begleitstimme richtig hervorheben, Betonung im Takt, Pedaleinsatz, was kommt als nächstes/wo stehe ich im Stück... Meine mentale Überforderung als Anfänger besteht darin, dass ich nie all dem zusammen Aufmerksamkeit schenken kann. Lenke ich meine Aufmerksamkeit auf das Eine, vermurkse ich das andere. Mehr als 1-2 Dinge aufs Mal kann ich nicht im Ohr und Auge behalten. Am meisten Übersicht/Kontrolle habe ich, wenn ein Stück zu 100% im Muskelgedächtnis der Finger drin ist, dann hab ich mental Kapazität für mehr andere Aspekte frei - doch ich weiss auch, dass Spielen nur mit Muskelgedächtnis auch nicht das Ziel ist bzw. wenn ich dann wieder zu sehr versuche, Dinge zu variieren, fliege ich auch aus dem Stück raus. Und dann bin ich jeweils völlig raus, weil's ja nur aus den Fingern kam.

Diese mentale Überforderung ist wohl auch ein für KL manchmal schwer nachzuvollziehen: Weil für sich allein kann es der Schüler ja, wenn man ihn immer nur einen Aspekt davon üben lässt. Doch alles Zusammen klappt dann doch nicht zuverlässig.

Meine Erkenntnis daraus ist momentan, lieber wieder etwas einfachere Stücke zu wählen, wo man mehr mentale Aufmerksamkeit auf einzelne Aspekte richten kann. Fortschritte gibt es natürlich schon im Vergleich zum Anfang, was die mentale Übersicht angeht. Anfangs ist der Kopf ja zu 100% absorbiert mit: Welcher Finger muss auf welche Taste... aber es geht langsam voran. Jetzt nach 9 Monaten schaffe ich es zumindest, meine Aufmerksamkeit auf 1-2 Dinge aufs Mal zu lenken und diese einigermassen zu steuern, auch wenn dann anderes oft wieder falsch kommt. Das Kontrollgefühl über das, was am Schluss aus dem Kasten an Musik rauskommt, ist jedenfalls noch am wachsen.

3. Notenlesen ist nicht das Problem
Ich konnte keine Noten lesen als Totalanfänger. Finde das System aber völlig logisch, leicht nachvollziehbar und verstehe nicht, wieso sich viele Schüler offenbar dagegen sträuben. Anfangs zählt man alles vom Mittel-C ab oder spielt sogar mehr nach Fingernummern. Das ist vielleicht eine Fallgrube, aus der man rauskommen muss. Aber es ist jetzt nach 9 Monaten der Punkt schon da, wo es eine direkte Verbindung gibt zwischen einer Notenhöhe und einer Taste. Also nicht wie als Totalanfänger: "Diese Note steht einen Schritt unter dem c2", oder "Diese Note ist ein h, wo steht das h?", sondern gleich direkt ohne zu überlegen "Diese Note auf der Mittellinie des Violinschlüssels ist die weisse Taste da am oberen Ende der drei schwarzen". Zumindest so von G bis a2 klappt das jetzt schon auf einen Blick, mit den Noten auf den Linien etwas besser als mit denen in den Zwischenräumen. Mehr Mühe hab ich mit den rhythmischen Figuren, viele davon muss ich mir erst Mal noch abzählen und erkenne ich noch nicht auf einen Blick. Aber ich nehme mal an, dass kommt genauso wie mit der Tonhöhe über die Zeit.

4. Gut Hören können dagegen schon
Sicherlich eine banale Erkenntnis für gestandene Musiker, aber als Anfänger unterschätzt man wohl trotzdem immer, wie wichtig das ist. Die Schwierigkeit besteht für mich vor allem darin, die Begleitstimmen zu hören. Bald merkt man ja, dass man bekannte und eingängige Melodien mit der rechten Hand schneller lernt bzw. oft jenseits des Fingersatzes nicht gross üben muss. Aber die Begleitstimmen der Linken? Höre ich oft noch nicht richtig, kann sie nicht aus dem Gedächtnis spielen usw. Die Schwierigkeit beim Spiel der linken Hand ist für mich nicht manuell, sondern sie besteht im Hören der Stimme(n). Da hilft wohl nur hören, hören, hören und ich versuche nun bei allen Stücken, die ich mir anhöre, vor allem auf die Begleitstimmen zu achten. Ich vermute mal, dass sich dies als eines meiner grössten Defizite als Späteinsteiger herausstellen könnte, wo es viel Nachholbedarf gibt.

Das wären meine wichtigsten Erkenntnisse bis jetzt. Ich bin trotz allen Schwierigkeiten weiter voll motiviert dabei und habe Spass am üben, so dass es noch nie ein "Müssen" war. Der Plan ist, in 6-12 Monaten ein Update zu meiner "mentalen Entwicklung" zu geben. Und ich freue mich natürlich über andere Erkenntnisse und Beobachtungen von Anfängern.
Und wie läuft es mittlerweile? 🙂
 
Danke, es läuft ganz gut und ich bin noch immer praktisch täglich 20-30 Minuten dabei.

Wie schon an anderer Stelle beschrieben, habe ich aber vor rund eineinhalb Jahren oder so einen grossen Reset in Sachen Lernstrategie gemacht: Mehrere Schwierigkeitsgrade nach unten, dafür Fokus auf Blattspiel/Blindes Spiel. Statt wie vorher immer 8-12 Wochen an schwierigen Stücken an den Grenzen meiner Leistungsfähigkeit rumzukauen, spiele ich nun massenhaft einfachere Musik in Serie: Stücke, dich ich nach wenigen Tagen oder maximal zwei Wochen ordentlich spielen kann.

Ich glaube, ich habe damit im letzten Jahr grosse Fortschritte gemacht und in einem Jahr so viel gelernt wie zuvor in drei. Denn auch wenn es einfachere Musik ist, so spiele ich netto doch viel mehr und lerne es anders bzw. verstehe mehr, was ich mache, als wenn ich schwierige Sachen letztlich einfach durch pure Repetition reinhaue - und dann auch rasch wieder aus dem Muskelgedächtnis verliere.
 
Täglich ist super, aber superlang ist das nicht.

Mehrere Schwierigkeitsgrade nach unten, dafür Fokus auf Blattspiel/Blindes Spiel. Statt wie vorher immer 8-12 Wochen an schwierigen Stücken an den Grenzen meiner Leistungsfähigkeit rumzukauen, spiele ich nun massenhaft einfachere Musik in Serie: Stücke, dich ich nach wenigen Tagen oder maximal zwei Wochen ordentlich spielen kann.
Zu schwer ist sicher nicht gut, und spielen, ohne dauernd auf die Finger zu sehen, ist ein guter Weg. Aber: erwartest Du nicht zu viel in zu kurzer Zeit? Wenn ein Stück für mich eher leicht ist, brauche ich ca. 2 Monate. Ist es an meiner Obergrenze, können es auch 12 werden (da ziehe ich dann mal eine Grenze 😉). Ist es für Dich nicht befriedigend, nach 8-12 Wochen harter Übearbeit wirklich was in der Hand zu haben? Wie befriedigend ist es wirklich, nach wenigen Tagen bis 2 Wochen schon „fertig“ zu sein?

Denn auch wenn es einfachere Musik ist, so spiele ich netto doch viel mehr und lerne es anders bzw. verstehe mehr, was ich mache, als wenn ich schwierige Sachen letztlich einfach durch pure Repetition reinhaue - und dann auch rasch wieder aus dem Muskelgedächtnis verliere.
Aha, da liegt das Problem… Du repetierst Dir größere Stücke ins Muskelgedächtnis, lernst aber mit Köpfchen die kurzen und leichten. Versuch doch mal, den neuen Ansatz an was schwererem einzusetzen?
 
Täglich ist super, aber superlang ist das nicht.


Zu schwer ist sicher nicht gut, und spielen, ohne dauernd auf die Finger zu sehen, ist ein guter Weg. Aber: erwartest Du nicht zu viel in zu kurzer Zeit? Wenn ein Stück für mich eher leicht ist, brauche ich ca. 2 Monate. Ist es an meiner Obergrenze, können es auch 12 werden (da ziehe ich dann mal eine Grenze 😉). Ist es für Dich nicht befriedigend, nach 8-12 Wochen harter Übearbeit wirklich was in der Hand zu haben? Wie befriedigend ist es wirklich, nach wenigen Tagen bis 2 Wochen schon „fertig“ zu sein?


Aha, da liegt das Problem… Du repetierst Dir größere Stücke ins Muskelgedächtnis, lernst aber mit Köpfchen die kurzen und leichten. Versuch doch mal, den neuen Ansatz an was schwererem einzusetzen?
Das Problem der schwierigen Stücke an der Leistungsgrenze ist, dass sie nach 8-12 Wochen harter Übearbeit nicht in der Hand bleiben, sondern ohne Repetition in kürzester Zeit verschwinden. Ein Problem des Lernens aus Repetition, wie wenn du ein chinesisches Gedicht rezitieren lernst, ohne chinesisch zu verstehen. Extrem aufwendig und nicht bleibend. Daraus entstand meine Frustphase vor 2-3 Jahren: Ich spiele und übe jahrelang, kann aber doch nichts richtig spielen - nur das halbfertige aktuelle Stück und noch bruchstückhaft vielleicht das letzte zuvor.

Jetzt spiele ich in derselben Zeit eine Handvoll einfachere Stücke oder setze mich einfach hin und übe Blattspiel an simpel arrangierten Popsongs und Klassikern. Das macht mir mehr Spass und ich merke nach eineinhalb Jahren auch, dass ich so definitiv mehr verstehe und lerne als zuvor. Denn die Grenze dessen, was einfach ist und schon im ersten Anlauf einigermassen gespielt werden kann, hat sich schon merklich nach oben verschoben. Damit wird es auch einfacher, sich einfach mal hinzusetzten und etwas zu spielen oder in kurzer Zeit (30-60min) wieder aufzufrischen als zuvor, wo ich eigentlich immer "nichts" konnte - ausser das "fertige" Stück in den letzten 1-2 Wochen des Lernprozesses, bis ich dann ernsthaft ein neues anfing und das alte verschwand.

Ich kann nur jedem gefrusteten Anfänger/Forgeschrittenen in dieser Falle empfehlen, es auch einmal zu versuchen. Es geht wirklich darum, die Sprache und Notation der Musik zu lernen plus die technische Umsetzung auf dem Instrument - das geht wie Fremdsprachenlernen nicht mit grosser Literatur, sondern man fängt mich einfachen Texten aus kurzen Wörtern und Sätzen an und wird dann langsam aber sicher besser.
 
Das Problem der schwierigen Stücke an der Leistungsgrenze ist, dass sie nach 8-12 Wochen harter Übearbeit nicht in der Hand bleiben, sondern ohne Repetition in kürzester Zeit verschwinden.
Da hat mir mal jemand gesagt, das sei beim Klavierspiel wegen der hohen Komplexität normal. Wenn man ein Stück nicht „warm hält“, wächst sozusagen Gras drüber, und auf Anhieb kann man es dann nicht mehr spielen. Wärmt man es aber in Ruhe auf, wenn man es wieder braucht, kommt es schnell zurück und wird teilweise besser als vorher (bedingt durch das Weglegen und wieder neu Lernen).
 

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