Kontrapunktübungen

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pianovirus

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Ein Werkstattfaden für kleine Kontrapunktübungen jeder Art. Kommentare, Anregungen, Verbesserungsvorschläge usw. sind willkommen. Falls gerade noch jemand solche Übungen macht, so könnten diese auch gerne beitragen werden.

Hier der Versuch eines kleinen Choralbiziniums im modalen KP des 16. Jh.

 

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Sehr schön, @pianovirus !
Nicht so gut gefallen mir nur die parallelen Sprünge in T. 3/4 - die sind zumindest untypisch in diesem Stil. Im Diskant c'' statt e'' in Takt 4 könnte das ein wenig entschärfen. Und die verschobenen Quintparallelen am Ende würde ich definitiv vermeiden. Hier wäre im Diskant (vorletzte Note) h statt d'' möglich.
 
Danke fürs Anschauen und die Kommentare, @mick !

Nicht so gut gefallen mir nur die parallelen Sprünge in T. 3/4 - die sind zumindest untypisch in diesem Stil. Im Diskant c'' statt e'' in Takt 4 könnte das ein wenig entschärfen.

Du meinst die parallelen Quartsprünge vom Ende von T.3 zur "1" von T.4, nehme ich an.

Ja, die sind nicht schön! Aber das c'', welches Du vorschlägst, ist mir wegen der entstehenden verdeckten Oktavparallele "verboten", ebenso wie die andere scheinbare Möglichkeit g'' (verdeckte Quintparallele). Perfekte Konsonanzen darf ich in Zweistimmigkeit nur in Gegen- oder Seitenbewegung, nicht aber in gerader Bewegung erreichen.

Bei mehr als zwei Stimmen gilt dieses "Verbot" nicht mehr, in der Praxis sowieso nicht. Hier ein Beispiel aus dem ersten Kyrie von Josquins Missa de Beata Virgine, das mir gestern durch Zufall ins Auge gesprungen ist (die gerade Bewegung von Alt und Tenor auf die Quinte in der Mitte von "Takt 9"... wobei die "Takte" natürlich ein moderner Zusatz sind):

Screenshot 2020-10-06 at 02.43.28.png

Zurück zu meiner kleinen Übung... dort sollte die Melodie der Oberstimme wohl besser schon vor Takt 4 anders verlaufen, so dass ich die "1" von Takt 4 in Gegenbewegung erreiche... ich überlege morgen nochmal frisch ausgeschlafen :)

Und die verschobenen Quintparallelen am Ende würde ich definitiv vermeiden. Hier wäre im Diskant (vorletzte Note) h statt d'' möglich.

Ja, genau da hatte ich auch auch überlegt.

Ich muss aber sagen, dass meine "Spielregeln" (nach P. Schubert "Modal Counterpoint", dort wiederum kompiliert aus historischen Traktaten [Zarlino, Morley, Diruta, Banchieri, Cerreto, ...]) einige "kaschierte" Oktav- und Quintparallelen erlauben, die gemäß mancher späterer Werke, z.B. einiger Generalbasslehren des Barock, schon wieder kritisch bzw. verboten wären. Ich meine mich zu erinnern, dass etwa Heinichen so etwas nicht erlaubt (?), während ich das in diesem Kontext darf:

1.) "Aufbrechen" von Oktav- und Quintparallelen im KP 2. Gattung:
Screenshot 2020-10-06 at 02.24.05.png

2.) "verschobene" Oktav- und Quintparallelen im KP 4. Gattung -- allerdings...
Screenshot 2020-10-06 at 02.26.58.png
...allerdings nur in der konsonanten 4. Gattung: Hier im Beispiel wird die konsonante Sexte D-H durch die Quinte E-H vorbereitet.

Hingegen wird in meinen verschobenen Quintparallelen die dissonante Quarte G-C durch die Quinte F-C vorbereitet. Und diese Dissonanz muss unbedingt abwärts, also zum H (wie von Dir angeregt) aufgelöst werden, während ich stattdessen aufwärts zum D gehe.

Das Problem ist also m.E. nicht so sehr die verschobene Quintparallele an sich, sondern die Tatsache, dass die Verschiebung hier über eine Dissonanz, welche nicht korrekt (also abwärts) aufgelöst wird, stattfindet.

...das war jetzt eine etwas weitschweifige Art, zu sagen, dass Dein Vorschlag, h statt d'' zu nehmen, genau passt! ;)

Natürlich kann man über Sinnhaftigkeit & Gültigkeit all dieser Spielregeln diskutieren, aber bei solchen Anfängerübungen geht es ja einfach in erster Linie darum, ein Bewusstsein für bestimmte Klanglichkeiten zu schaffen... und das wird nicht zuletzt schon durch das Nachdenken über die Regeln und die bei deren Beachtung verbleibenden Lösungsmöglichkeiten erreicht.

LG & Danke,
pianovirus
 
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Aber das c'', welches Du vorschlägst, ist mir wegen der entstehenden verdeckten Oktavparallele "verboten"
In der "reinen" Lehre - ja. Aber solche verdeckten Parallelen kommen hin und wieder vor, wenn die Oberstimme linear fortschreitet. Und sogar recht häufig, wenn die Linearität nur einen Halbtonschritt ausmacht. Letzteres wäre hier der Fall, und es trifft auch auf das von dir angeführte Josquin-Beispiel zu.

Aber eine Lösung ohne verdeckte Parallelen ist auch möglich - mir fallen da spontan ein paar Möglichkeiten ein. Wenn du es umbauen willst, könntest du auch noch einmal über das Wort/Ton-Verhältnis bei "Christ" nachdenken - für ein Zeilenende ist der Aufstieg mit nachfolgender Pause nach meinem Geschmack reichlich spektakulär. Und die Quintparallele zwischen "Takt" 8 und 9 lässt sich vermeiden, wenn man die Figur c''--d''-e''zu e''--d''-c'' umdreht. Wobei auch das wegen der Akzentparallelen nicht optimal ist, aber im frühen 16. Jahrhundert zumindest nicht gänzlich verpönt.
 
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Ein Mini-Bizinium als Übung in freier (also nicht cantus firmus-gebundener) Imitation. Fehler oder Verbesserungsvorschläge können gerne angemerkt werden...

 
Ich bin leider noch nicht so weit, aber ich verfolge diesen Faden mit größter Aufmerksamkeit!
 
Ich bin leider noch nicht so weit, aber ich verfolge diesen Faden mit größter Aufmerksamkeit!

Wenn Dich das Thema interessiert, ist das hier eines der praktischsten modernen Lehrbücher (das aber letztlich nur eine gut lesbare Aufbereitung der historischen Methoden darstellt) zum Einstieg:

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Vielen Dank, das schaue ich mir mal an. Habe bisher nur das Buch von de la Motte (also das Buch über Kontrapunkt), aber das ist glaub ich nicht besonders praktisch... Wollte mich aber vorher auch eh noch etwas mehr mit Harmonielehre beschäftigen.
 
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Habe bisher nur das Buch von de la Motte (also das Buch über Kontrapunkt), aber das ist glaub ich nicht besonders praktisch... Wollte mich aber vorher auch eh noch etwas mehr mit Harmonielehre beschäftigen.

Das Kontrapunkt-Buch von de la Motte, 1981 erstmals erschienen, hat wohl dazu beigetragen, auch im deutschen Sprachraum die Einsicht zu verbreiten, dass Kontrapunkt als Technik der Kombination gleichzeitig erklingender Linien keine abstrakt-überzeitliche Lehre eines "strengen Satzes" ist, sondern historisch gewachsen und historischem Wandel unterworfen ist. Als "Arbeitsbuch" zum Einstieg finde ich es nicht so geeignet. Die einzelnen Kapitel sind ziemlich unsystematisch, anekdotisch und skizzenhaft. Außerdem geht er bewusst einen anderen Weg als so gut wie alle historischen Traktate, indem er das Vorgehen nach "Gattungen" (ein nachträglich von Fux 1725 eingeführter Begriff für eine aber schon früh gepflegte Folge von Satzübungen, üblicherweise 1:1, 2:1, 4:1, Synkopen, gemischte Werte) aufgibt. Als Grund gibt er an, dass er den barocken Kontrapunkt als "melodisch gestaltete Harmonienfolge" versteht, wo die Gattungen fehl am Platze wären.

Man muss sich den grundlegenden Unterschied des Renaissance-KP (also vereinfacht gesagt vor 1600) im Vergleich zum "harmonischen" KP der Barockzeit bewusst machen: Das Konzept des "Akkords" spielt in ersterem keine Rolle, sondern es geht um Zusammenklänge von Intervallen. Eine Terz-Quart-Schichtung ist keine "Umkehrung" eines Akkordes, sondern allenfalls können Stimmen nach dem Prinzip des invertierbaren ("doppelten") Kontrapunkts vertauscht ("verwechselt") werden. Die Verwendung einer "Harmonielehre", die mit Begriffen hantiert, die sich erst seit dem Spätbarock entwickelten, wäre für diese Musik ein Anachronismus. Übrigens, auch wenn dann in manchen Ausprägungen der Spätrenaissance und vor allem ab 1600 das Konzept der Harmonie immer stärker ins Zentrum rückt, so handelt es sich auch dabei erst einmal nicht um "funktionales" Harmoniedenken (mit Begriffen wie Tonika, Dominante usw.) im modernen Sinn, sondern eben um die Generalbasslehre. Auch hier ist ein Sextakkord noch keine "Umkehrung". Die moderne funktionale Denkweise etabliert sich erst im Lauf des 18. Jh., seit Rameaus Harmonielehre um 1725. Ebenfalls bis weit hinein in den Barock hat das Prinzip der betonten Dissonanz mit obligatorischer konsonanter Einführung und schrittweiser Auflösung abwärts Gültigkeit – eben die weiterhin gültige "4. Gattung" im Renaissance-Kontrapunkt.

Insgesamt ist es aber wenig sinnvoll, zu versuchen, mit einem irgendwie einheitlichen Zugang sowohl auf den modalen KP der Renaissance als auch auf den tonalen ("harmonischen") KP des Barock die Unterschiede in der Denkweise zu überbrücken, da sich diese um 1600 (beginnend ab ca. 1550) zu stark gewandelt hat.

Wenn man einmal in die historischen Traktate hineinschaut, sieht man, wie eminent didaktisch diese gehalten sind und auch heute noch sehr gut lesbar (teilweise in unterhaltsamer Dialogform). Ein gutes modernes Lehrbuch wie das von Peter Schubert muss eigentlich in erster Linie diese alten Werke für heutige Leser, die es etwas eiliger haben, durch geeignete Auswahl und Kommentierung erschließen.
 
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Eine Frage zu Bachs Kontrapunkt in Takt 92 im Prelude seiner Englischen Suite Nr. 2: An der angekreuzten Stelle war ich durch den Klang etwas irritiert. Der Grund liegt in der verdeckten Quintparallelle zwischen c und g, die noch dazu in die leer klingende Oktave a-a‘ führt. Warum hat Bach das gemacht?
 

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Ich habe natürlich keine Ahnung, warum Bach das gemacht hat :-) ...kann nur kurz über die satztechnischen Gegebenheiten spekulieren. Vielleicht kann ja mick oder jemand anderes etwas hinzufügen.

Von einer Quinte c-g in die Oktave a-a in Gegenbewegung -- das war zu keiner Zeit ein Problem.
Bach hätte die Stelle klanglich "abmildern" können z.B. durch Fis statt A auf dem 4. Sechzehntel der Oberstimme – aber offenbar wollte er es hier eben anders.

Zur verdeckten Parallelen hat Mick weiter oben schon etwas geschrieben. Der Umgang damit ist uneinheitlicher. In der Barockzeit in den Mittelstimmen sicher kein Problem. In einem zweistimmigen Satz schon eher, wobei hier aber die Oberstimme schrittweise geht (sogar im Halbton), was die verdeckte Parallele auch unter strengeren Kriterien akzeptabel macht.

Das Wichtigste ist aber m.E. die rhythmische-metrische und stilistische Betrachtung. Wir haben hier keinen strengen Kirchenstil, sondern einen toccatenartigen Instrumentalsatz im Kammerstil, in welchem es grundsätzlich schon einmal weniger "streng" zugeht.

Dazu kommt, dass sich das Geschehen, auf das Du Dich beziehst, inmitten einer Figuration beider Stimmen abspielt. Das ist aber noch einmal zusätzlich von untergeordneter Bedeutung, im Vergleich dazu, was sich jeweils (1) zwischen den jeweils ersten Noten jeder Vierergruppe und (2) zwischen letzter Note einer Vierergruppe und erster Note der nächsten Vierergruppe abspielt.

In klassischen Renaissancestil wären die Satzregeln sowohl zwischen (1) und (2) streng zu beachten gewesen.

Im Barock aber, ich nehme jetzt einmal Heinichen, ist der Übergang von einer Diminution zum nächsten Viertel (also (2)) im Gegensatz zur Renaissancezeit schon weniger streng (wobei zwischen Außenstimmen, wie hier im zweistimmigen Satz auch eher noch gültig).

Eine verdeckte Parallele mitten in einer Figuration, noch dazu mit schrittweise gehender Oberstimme, ist also insgesamt wohl eine recht geringe "Lizenz".

Wie gesagt, das ist jetzt nur mein persönlicher, spekulativer Erklärungsversuch.
 
Die verdeckte Quinte ist völlig unproblematisch, wie @pianovirus bereits erklärt hat. Wollte man diese Stelle an den Regeln des strengen Renaissance-Kontrapunktes messen (ein sinnloses Unterfangen), dann wäre die unvorbereitete Einführung der Septimen-Dissonanz g-fis' auf dem zweiten Sechzehntel von ZZ. 2 der weitaus gewichtigere Fauxpas.

Bach hätte die Stelle klanglich "abmildern" können z.B. durch Fis statt A auf dem 4. Sechzehntel der Oberstimme – aber offenbar wollte er es hier eben anders.
Aus harmonischen und melodischen Gründen. Ein zentrales Motiv des Préludes ist der absteigende Tetrachord, der mit verschiedenen Wechselnoten-Konstellationen vorkommt. In den beiden vorhergehenden Takten wird er aus den Tönen c''-h'-a'-g' gebildet, im Nachfolgetakt aus g'-fis'-e'-dis'. Deshalb ist das a' an dieser Stelle erforderlich, ein fis' würde die melodische Symmetrie empfindlich stören. Harmonisch hätte es zudem den Nachteil, dass man eine G-Dur-Kadenz hören würde - das ergäbe aber keinen Sinn, weil man im Nachhinein feststellen müsste, dass ZZ. 3 von T. 92 ohne Frage e-Moll ist.

Es gibt in den Englischen Suiten übrigens eine ganze Menge Stellen, die man durchaus als etwas grob empfinden kann. Die vollendete Meisterschaft, die Bach später in den Französischen Suiten erreicht hat, stand ihm da eben noch nicht zur Verfügung.
 
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