Historische Aufführungspraxis

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St. Francois de Paola

St. Francois de Paola

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20. Apr. 2015
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Häufig frage ich mich, wieso die historische Aufführungspraxis insbesondere bei der Instrumentenwahl bei Pianisten nur eine winzige Nebenrolle spielt.

Auf 95% der Bühnen steht ein schwarz polierter, 2,74m langer Flügel aus Hamburg, auch auf CD-Aufnahmen sind fast immer Instrumente des gleichen Herstellers zu hören.
Dabei spielt es kaum eine Rolle, ob Bach, Mozart, Beethoven, Schumann, Liszt, Debussy, Rachmaninow oder Schönberg gespielt wird.
Das Instrument ist fast immer das gleiche.
Ein kleines bisschen Konkurrenz kommt vielleicht noch aus Wien.
Eigentlich sind - unabhängig von der Frage "besser oder schlechter" - diese Instrumente m.E. besser geeignet, um den zeitgenössischen Klang insbesondere von klassischer und frühromantischer Literatur nachzuahmen.
Das liegt daran, dass man bei Bösendorfer besser einzelne Töne und Stimmen raushört, die bei Steinway mehr zu einem Klang verschmelzen.

Ab und dann hört man auch hier und da mal Chopin auf einem alten Pleyel oder Beethoven auf einem alten Graf-Flügel o.ä.
Bei Mozart und Haydn werden zeitgenössische Instrumente oder Kopien davon quasi gar nicht eingesetzt.

Dagegen würde bei Aufführungen von barocker Musik kaum jemand auf die Idee kommen, das Continuo an einem modernen Flügel zu spielen.
Da werden - nicht immer - aber oft und gerne auch mal Traversflöte, Zink, Gambe, Barockoboe und Konsorten ausgegraben.
Bei CD-Aufnahmen und vielen Konzerten sind auch historische Orgeln von Schnitger, Silbermann, Trost, Hildebrandt und Konsorten, im Chorton in verschiedenen historischen Temperaturen gestimmt sehr häufig zu hören. Ganz ähnlich verhält es sich mit romantischen, insbesondere französischen Instrumenten. Auch werden moderne Instrumente mehr oder weniger stark von historischen Vorbildern inspiriert.
Bei Musik ab Mozart ist so etwas selten, ganz besonders am Klavier.

Stellt sich die Frage, warum ist das so?

Ich würde mal folgende Gründe vermuten:
- die Kosten für den Platz, die Anschaffung und die Wartung von vielen verschiedenen Instrumenten sind für Musikhochschulen, Konzerthäuser etc. sehr hoch, für Privatleute meist unbezahlbar
- Pianisten geben sich ungern die Blöße, möglicherweise nicht so hundertprozentig auf einem ungewohnten Instrument die Klänge herauskitzeln zu können, die sie haben möchten, da Klang, Anschlag etc. sich doch deutlich unterscheiden und meist keine Möglichkeit besteht, an verschiedenen historischen Instrumenten und deren Kopien viele Stunden zu üben
- das Publikum oder der Interpret mag den ungewohnten Klang nicht
- Das historische Instrument erreicht möglicherweise keine raumfüllende Lautstärke im Konzertsaal (insbesondere sehr alte Hammerklaviere, Cembali und Clavichorde)

Stellt sich die Frage, würdet ihr gern häufiger die Klänge von historischen Instrumenten hören oder lieber beim gewohnten Steinwayklang bleiben?
 
...wenn im Programm Bach, Mozart, Chopin und Debussy vorgesehen sind, müssten vier verschiedene Instrumente auf der Bühne stehen...
 
Das liegt daran, dass man bei Bösendorfer besser einzelne Töne und Stimmen raushört, die bei Steinway mehr zu einem Klang verschmelzen.
Nanu, wer sagt das...? Wer am Ende in der Hand hat, was man hört, ist doch der Pianist, nicht das Instrument.
Stellt sich die Frage, würdet ihr gern häufiger die Klänge von historischen Instrumenten hören oder lieber beim gewohnten Steinwayklang bleiben?
Lieber Steinwayklang (weil die Instrumente halt einfach phantastisch klingen). Es mag aber auch Musik geben, zu deren Charakter auch gut andere Instrumente passen würden.
 
Warum sollte man ein Instrument wählen, das eine abgeflachte Dynamik hat und immer leicht verstimmt klingt?! Leider klingen die Klaviere der Beethovenzeit nicht so, dass sie den entsprechenden Kompositionen gerecht werden.
 
Bei Mozart und Haydn werden zeitgenössische Instrumente oder Kopien davon quasi gar nicht eingesetzt.

So wie hier nicht


View: https://www.youtube.com/watch?v=3Xl5AzB9nhg


und hier nicht


View: https://www.youtube.com/watch?v=Gz_XrhRZcdM


und hier nicht


View: https://www.youtube.com/watch?v=r2B1c6QnUPI


und hier nicht


View: https://www.youtube.com/watch?v=rEa1U8z3ils


:denken:

Dass das dennoch viel seltener gemacht wird als beispielsweise auf Streichinstrumenten liegt einfach daran, dass es sich bei barocken Streichinstrumenten schon um perfekte Instrumente handelte - eine moderne Geige unterscheidet sich von einer Barockvioline nicht wesentlich. Bei Klavieren ist das anders - schon die Mechaniken historischer Hammerflügel sind viel unzuverlässiger, auch die Lautstärke ist für die heutigen, großen Säle kaum ausreichend.

In der Oper werden Hammerfügel dennoch oft als Continuo-Instrument eingesetzt, vor allem bei Mozart und Rossini. Allerdings verwendet man dort moderne Nachbauten, die über eine zuverlässigere Mechanik und eine bessere Stimmhaltung verfügen.
 
Lieber St. Francois de Paola,

ich sehe hier vor allem einen Grund (der noch andere Folgen hat, die mich ziemlich traurig stimmen): Die Engstirnigkeit der instrumentalen Musikausbildung an Musik(hoch)schulen.

Es ist für die meisten Klavierstudenten ohne Probleme möglich, sich in ihrem gesamten Musikstudium nur einem "Standardrepetoire" aus knapp 200 Jahren Musikgeschichte zu widmen und hierbei die Musikgeschichte nicht einmal korrekt abzubilden: "Barock" ist de facto gleichbedeutend mit Bach, "Klassik" gleichbedeutend mit Mozart, Haydn, Beethoven usw. usf. Die Existenz von empfindsamem Stil, galantem Stil, "frühbarocken" Meisterwerken (wie die Toccaten von Frohberger), englische Virginalisten, französische Cembalisten, Orgeltraktate (wie das - wie ich finde - extrem spannende Buxheimer Orgelbuch oder das Lochhamer Orgelbuch) werden ebenso unter den Teppich gekehrt wie eine differenzierte (!) Auseinandersetzung mit zeitgenösischer Musik und den ästhetischen Strömungen seit 1900.

Diese "Vereinfachung" der verschieden stilistischen Strömungen und ihrer Bedeutung für die Klaviermusik ist nach meiner Erfahrung die vorherrschende "Ideologie" an Musikhochschulen. Oft erlebe ich, dass Stücke, welche nicht in dieses "Standardmuster" passen ohne wirkliche Begründung als schlecht oder nicht spielenswert dargestellt werden. Eine Einstellung, welche eine differenzierte Auseinandersetzung mit dieser Musik leider inhärent verhindert.

Eng hiermit ist auch die die Rolle des Konzertflügels in der Pianistenausbildung verknüpft: Die vorherrschende Einstellung hier ist nach meiner Erfahrung, dass der moderne Konzertflügel einerseits allen historischen Instrumenten "überlegen" ist und andererseits die Entwicklung dieses Instruments auch abgeschlossen ist. Würden sich mehr Pianisten intensiv mit verschiedenen Stilepochen auseinandersetzen würde allerdings klar werden, dass diese Einstellung ein fataler Irrtum ist!

Ich erinnere mich hier ganz persönlich an einen Moment in meiner Klavierausbildung, als ich die g-Moll Sonate von Schumann sowie einiges aus op. 116 von Brahms auf einem zeitgenössischen Instrument spielen konnte und auf einmal vieles im Notensatz viel mehr Sinn ergab. Der Anfang des 4. Satzes klang auf diesem historischen Instrument beispielsweise fahrig und nervös, während er auf modernen Instrumenten schnell an Massivität gewinnt.

Eine differenzierte Auseinandersetzung mit verschiedenen Silepochen würde auch eine differenzierte Auseinandersetzung mit den Instrumenten dieser Epochen implizieren. Und ich bin mir sicher, dass eine solche Auseinandersetzung oft tiefgreifende Auswirkungen auf das eigene Spiel - auch auf einem modernen Konzertflügel - hätte. Außerdem würde eine solche Beschäftigung auch offenbaren, dass viele "unbekannte" Stücke überhaupt nicht schlecht, sondern einfach nur ungewohnt sind. Und sie würde auch offenbaren, dass der moderne Konzertflügel dem Hammerflügel in manchen Aspekten auch "unterlegen" ist, um es so zu formulieren. Aber vor allem würde sie offenbaren, dass Hammerflügel, Cembali, "romantische" Flügel und moderne Konzertflügel alles Tasteninstrumente mit eigenen Stärken und Schwächen sind. Aber wenn man sich mit etwas nicht beschäftigt, ist man halt schnell versucht es "doof" und "abgeflacht" oder "leicht verstimmt" zu finden.

Ich denke, dass man wirklich hier ansetzen müsste: Würden sich mehr Pianisten differenzierter mit der Tastenmusik beschäftigen, würden die Konzertprogramme abwechslungsreicher, die Bühnen und die Klavierhersteller würden sich anpassen und das Publikum sowieso...

Liebe Grüße,

Daniel

P.S. Noch ein kleiner Nachtrag meinerseits, der für mich
erwähnenswert ist, auch wenn er zeitlich in die andere Richtung geht. Letztens beschäftigte ich mich mit dem wirklich sehr tollen Stückezyklus "Miniature estrose" von Marco Stroppa. Der Notenband dieses Klavierzyklus umfasst auch sehr viele lesenswerte Erläuterungen. Unter anderem auch eine Liste an wünschenswerten "Verbesserungen" des modernen Konzertflügels. Hierbei finden sich unter anderem:
- Ein fixierbares mittleres Pedal (dass es das nicht gibt finde ich schon ziemlich peinlich, da es ja quasi kaum Aufwand bedeuten würde)
- Ein programmierbares mittleres Pedal mitsamt Registerzug.
Solche Entwicklungen fände ich wirklich sehr interessant. Aber solange die vorherrschende Mehrheit der Klavierstudenten alles was nach 1915 komponiert wurde, in die Schublade "moderne Musik" legt und aus dieser freiwillig höchstens mal Prokofiev herausholt, wird wohl niemand die Notwendigkeit solcher Entwicklungen begreifen. Das stimmt mich traurig!
 
Ich brauche es bei Crumbs "Canticle of the Holy Night". Aber da tut es auch ein kleiner Keil...
Aber man könnte es auch einbauen und z.B. die Fixierung mit einem Kniehebel betätigen. Das würde manche Effekte überhaupt erst ermöglichen... Mit einem Keil kann man ja z.B. nicht innerhalb eines Stücks die Liegetöne verändern.
 
@alibiphysiker Eine sehr treffende Analyse, die du geschrieben hast. Mir ist schon klar, dass die Widerstände, die ich habe, die gleichen sind, die ich auch bei indonesischer Gamelan-Musik oder indischer Musik empfinde. Nur fällt es mir bei räumlich entfernter Musik leichter, mich darauf einzulassen, weil dort das Ungewohnte ungewohnt klingt. Wenn aber das gewohnte Instrument Klavier ungewohnt, ja, befremdlich klingt, ist der Abwehrreflex noch einmal potenziert.

Aber du hast recht: Genauso, wie man Haydn nicht als Vorstufe zu Beethoven betrachten sollte, wäre es ein großer Fortschritt, wenn man Instrumentenvorläufern und den sogenannten „Kleinmeistern“ ihren Platz und ihre Berechtigung in der Musik einräumen würde, den sie ohne Frage verdient haben.

Letztlich ist dies, so banal es klingt, auch eine Frage der Präsenz und der Gewöhnung.
 
Diese "Vereinfachung" der verschieden stilistischen Strömungen und ihrer Bedeutung für die Klaviermusik ist nach meiner Erfahrung die vorherrschende "Ideologie" an Musikhochschulen. Oft erlebe ich, dass Stücke, welche nicht in dieses "Standardmuster" passen ohne wirkliche Begründung als schlecht oder nicht spielenswert dargestellt werden. Eine Einstellung, welche eine differenzierte Auseinandersetzung mit dieser Musik leider inhärent verhindert.

Eng hiermit ist auch die die Rolle des Konzertflügels in der Pianistenausbildung verknüpft: Die vorherrschende Einstellung hier ist nach meiner Erfahrung, dass der moderne Konzertflügel einerseits allen historischen Instrumenten "überlegen" ist und andererseits die Entwicklung dieses Instruments auch abgeschlossen ist.

Vor allem der letzte Satz hiervon wurde von deinen Vorrednern ja im Prinzip genau ausgeführt.

Die übliche Epocheninteilung gefällt mir auch nicht. Beispielsweise ist Beethoven für die meisten meist noch Klassik, Schubert dann plötzlich Romantik und z.B. Reger immer noch Romantik. Dabei trennt Schubert von Reger weit mehr als von Mozart.

Ich als Amateurmusiker habe mich dieses Jahr ein wenig mit alter Musik beschäftigt. Der normale ambitionierte Klavierschüler spielt ja jede Menge Bach und eventuell mal einen Händel oder Scarlatti, alles davor kennt er meist nichtmal.
Ich habe mal ein wenig Antonio de Cabezón und William Byrd gespielt. Meine ehemalige Klavierlehrerin, die immerhin ja Musik studiert hat kannte nicht mal den Namen Antonio de Cabezón, obgleich dieser hochinteressante Stücke für Tasteninstrumente komponiert hat.
Wenn irgendwo gepusht wird, sich mit unbekannteren Stücken auseinanderzusetzen, geht es fast immer um neue Musik, nicht aber Renaissancemusik von Cabezón, Byrd und anderen oder gar spätmittelalterliche Musik von Paumann und Konsorten. Zu sagen, Ligeti und Stockhausen seien nicht spielenswert, ist deutlich verpöhnter, als Frescobaldi, Arrauxo oder Sweelinck komplett zu ignorieren.

Als ich außerdem dieses Jahr die Gelegenheit hatte, auf historischen Orgeln zu spielen, kam ich auf die Idee, mich auch mit dem Klang von historischen Klavieren auseinanderzusetzen. Momentan wird hier ja viel die Mondscheinsonate diskutiert. Wenn man die auf einem modernen Steinway spielt, hört man direkt zu Beginn einen cis-Moll Dreiklang. Auf einem historischen Instrument kommt die Bassstimme ganz anders raus, ohne, dass man die lauter spielt. Da haben unterschiedliche Lagen auch einen unterschiedlichen Klang, bei Steinway klingt alles im Prinzip gleich, nur eben höher oder tiefer. Dadurch erschließt sich für mich in der Bassstimme ein Zusammenhang, der sich auf einem modernen Instrument nicht erschließt.
 

@St. Francois de Paola
Cabezon, Byrd. Kannst du da für Klavier spielbare Noten empfehlen ?

Bei der Flöte beginnt für mich die Musik mit dem Mittelalter und der Renaissance.:-)
 
@St. Francois de Paola
Cabezon, Byrd. Kannst du da für Klavier spielbare Noten empfehlen ?

Bei der Flöte beginnt für mich die Musik mit dem Mittelalter und der Renaissance.:-)


Guck mal nach "Diferencias sobre la Gallarda Milanese" in IMSLP oder "Fitzwilliam virginal book" ebenda. Ich weiß nicht ob Cabezòn teilweise ein angehängtes Pedal benutzt hat oder große Hände bzw. eine kleine Mensur auf seinen Instrumenten hatte, um alles von Hand zu halten, was da zu halten ist, sind ein paar unangenehme Griffe vonnöten, ist aber eigentlich alles manualiter spielbar.
 
Stellt sich die Frage, würdet ihr gern häufiger die Klänge von historischen Instrumenten hören oder lieber beim gewohnten Steinwayklang bleiben?

Ich denke, die von Dir genannten Gründe treffen alle mehr oder weniger zu.

Ich selbst bevorzuge meist den Klang der historischen Instrumente, ganz unabhängig von historischer Aufführungspraxis. Ich habe schon ein paar "exotische" Konzerte gehört wie Bach oder Rachmaninov auf Flügeln des frühen 19. Jahrhunderts. Die Resultate waren wunderbar. Ich würde mir auch mal ein Konzert mit Werken von Ravel und Satie auf solchen Instrumenten wünschen. Das Problem ist natürlich der eingeschränkte Tonumfang der alten Flügel, was die Werkauswahl ggf. einschränkt.

Selbst bei modernen Instrumenten würde ich mir übrigens mehr Vielfalt in den Konzertsälen wünschen. Was keineswegs heisst, dass ich Steinways nicht mag, ganz im Gegenteil. Nur immer das Gleiche mag ich nicht.

ich sehe hier vor allem einen Grund (der noch andere Folgen hat, die mich ziemlich traurig stimmen): Die Engstirnigkeit der instrumentalen Musikausbildung an Musik(hoch)schulen.

Ich denke, das ändert sich langsam. So ist es z.B. für Studenten des Fachs Klavier an der HfMT Köln inzwischen Pflicht, sich mit historischer Aufführungspraxis zu befassen. Nur ein Semester, aber immerhin... Und die Möglichkeit dazu bieten inzwischen auch immer mehr Hochschulen.
 
Stellt sich die Frage, würdet ihr gern häufiger die Klänge von historischen Instrumenten hören oder lieber beim gewohnten Steinwayklang bleiben?
Ich höre Stücke gern auf den dazu passenden historischen Instrumenten und würde dies auch gern häufiger hören. Ich empfinde den Klangcharakter oft als anders als auf modernen Instrumenten und denke, dass dies näher an dem ist, wie es vom Komponisten gemeint war. Mir ist dazu Tobias Koch aufgefallen, der einige Einspielungen auf historischen Instrumenten gemacht hat.

View: https://www.youtube.com/watch?v=SMgtJpJIfJE

Vielleicht hat ja jemand von euch noch Empfehlungen dazu.
 

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