Historische Aufführungspraxis: Alter Fingersatz

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Hallo zusammen,

zur Zeit lese ich die Orgelschule von Jon Laukvik zur Historischen Aufführungspraxis (Band I: Barock und Klassik) und habe soeben den Teil A durch. Hier wird sehr ausführlich auch auf den so genannten "alten Fingersatz" eingegangen.

Zu Anfangs dachte ich so wie viele Leute: Das macht die ganze Sache doch nur viel komplizierter, ist was für geistig verrückte pedantische Anachronisten, die noch immer meinen, sie leben im 1700. Jahrhundert und bringt doch sowieso nichts als gebrochene Finger...:D

Aber desto ausführlicher ich mich mit der Thematik beschäftigt habe, habe ich gelernt: Jon Laukvik erläutert uns das nicht deshalb so ausführlich, weil er es kann, weil er Lust drauf hat, um uns das Leben schwer zu machen, oder damit wir was zum angeben haben, sondern - weil es wirklich enorm viel bringt!

Besonders Organisten (auch Amateure und Anfänger!), die gerne Bach und Buxtehude spielen - und das tut ja eigentlich jeder, sonst würde er ja nicht Orgel spielen - sollten sich wirklich mal mit der Thematik beschäftigen.

Was mir nämlich im Laufe der Zeit aufgefallen ist, ist Folgendes:

1. Unglaublich viel Literatur spielt sich mit altem "pragmatischen" Fingersatz unglaublich viel einfacher! Der Fingersatz verbietet nämlich häufig sogar Unannehmlichkeiten und erlaubt stattdessen angenehme Alternativen!
2. Der alte Fingersatz unterstütz die stilgerechte barocke Artikulation enorm.
3. Der barocke Fingersatz impliziert sogar sehr häufig zwangsläufig die korrekte Artikulation, so dass man a) fast nichts falsch machen kann und b) sogar ohne darüber nachzudenken automatisch mit der richtigen Artikulation spielt.
5. Das Beste daran: Man kann nichts verlieren: Wenn der alte Fingersatz wirklich mal nicht passt oder einem kein sinnvoller einfällt, kann man immer noch zum modernen Fingersatz greifen. :D

Deshalb möchte ich hier mal eine kleine Diskussion zu diesem Thema starten...

Herzliche Grüße

Euer Lisztomanie

P.S.: Der alte Fingersatz gilt übrigens für alle "Claviere" gleichermaßen - er ist also auch für Pianisten, Cembalisten, Clavichordisten etc. genauso interessant!
 
Vielleicht bringst du zur Veranschaulichung noch ein oder zwei Beispiele, die den Unterschied zwischen alt und modern zeigen. Das Buch, das du ansprichst, hat ja nicht jeder so zufällig zuhause stehen.
 
@ Chaotica: Daran hatte ich auch schon gedacht! Der Laukvik ist zwar Standartliteratur, aber zum einem auch nicht ganz günstig (beide Bände zusammen 150 €), zum anderen vielleicht auch eher etwas, was nicht unbedingt jeden sofort so interessiert, das er gleich so "viel" Geld dafür ausgibt.

Ich bin mir nur nicht sicher, wie ich das machen soll: ich kann ja hier schlecht die Seiten aus dem Buch scannen (Urheberrecht!), darf ich denn wenigstens die wichtigsten Regel abtippen und vielleicht ein Notenbeispiel kopieren oder wie sieht das aus?

Herzliche Grüße

Dein Lisztomanie
 
Findet sich da nicht etwas an geeigneten Beispielen bei IMSLP? So speziell können die Notenbeispiele doch gar nicht sein. Zur Not kannst du ja auch etwas am Computer setzen, oder?
 
Besonders Organisten (auch Amateure und Anfänger!), die gerne Bach und Buxtehude spielen - und das tut ja eigentlich jeder, sonst würde er ja nicht Orgel spielen - sollten sich wirklich mal mit der Thematik beschäftigen.

Ich stimme zu, dass die Beschäftigung mit altem Fingersatz sinnvoll ist.

Allerdings bzgl. Bach ist es so, dass er gerade derjenige war (neben Couperin), der mit diesen alten Fingersätzen gebrochen hat; siehe dazu C.P.E. Bach über die Nutzung des Daumens beim Clavierspiel seines Vaters:

§. 7. Überhaupt sehen wir hieraus, daß man bey jetzigen Zeiten gantz und gar nicht ohne die rechten Finger geschicklich fortkommen kan, da es noch eher vordem angieng. Mein seeliger Vater hat mir erzählt, in seiner Jugend grosse Männer gehört zu haben, welche den Daumen nicht eher gebraucht, als wenn es bey grossen Spannungen nöthig war. Da er nun einen Zeitpunckt erlebet hatte, in welchem nach und nach eine gantz besondere Veränderung mit dem musicalischen Geschmack vorging: so wurde er dadurch genöthiget, einen vollkommnern Gebrauch der Finger sich auszudencken, besonders den Daumen, welcher ausser andern guten Diensten hauptsächlich in den schweren Tonarten gantz unentbehrlich ist, so zu gebrauchen, wie ihn die Natur gleichsam gebraucht wissen will. Hierdurch ist er auf einmahl von seiner bisherigen Unthätigkeit zu der Stelle des Haupt=Fingers erhoben worden.

Es gibt aber noch einen anderen Aspekt, der neben dem Artikulationsaspekt für die Verwendung des alten Fingersatzes spricht:

Oftmals haben alte Clavichords und Spinetts usw. dermaßen kurze Tasten, dass man die Daumen kaum auf die Untertasten bekommt. Die Finger müssen dann zumindest extrem stark gekrümmt werden. Wer schonmal auf einem alten Clavichord mit extremen Stummeltasten gespielt hat, wird das bestätigen.
Und dann ist es schlichtweg bequemer, wenn man die Daumen vor den Tasten herunterhängen lässt, und zwar unabhängig von dem historischen Kontext der Musik - sondern abhängig von der Tastenbauart, egal ob barocke Musik oder neuere.
 
Zuletzt von einem Moderator bearbeitet:
@ Mindenblues:

Natürlich hat Bach mit dem alten Fingersatz gebrochen, weil er auf seine Werke einfach nicht mehr anwendbar ist. Aber er hat dann doch nicht den modernen Fingersatz benutzt, den wir heute benutzen, sondern eben den bach'schen-spätbarocken Fingersatz. Und der ist ja auch schon 300 Jahre alt, weshalb ich ihn stillschweigend mit unter die verschiedenen Arten des "alten Fingersatzes" gerechnet habe. Natürlich muss man da bei der genauen Beschäftigung ziemlich differenzieren, mir ging es hier an dieser Stelle aber nur daran, die Diskussion über "historische" Fingersätze aus der Entstehungszeit des Werkes allgemein anzusprechen.

Bach habe ich nur deshalb hier explizit erwähnt, weil er Standartliteratur ist. Hätte ich "Sweelinck" geschrieben, hätte sich natürlich keiner angesprochen gefühlt...:D ^^

Herzliche Grüße ins nicht weit entfernte Minden :D

Dein Lisztomanie
 

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