Zwischen Gould und Horowitz gibt es mehr Gemeinsamkeiten, als das Vorurteil träumen mag:
Bereits in den 40ern spielte Gould Scarlatti in Konzerten, Horowitz Scarlatti-Schallplatte entstand erst in den 60ern.
1943 uraufführte Richter Prokofjews 7. Sonate, 1945 nahm Horowitz sie auf. 1949 spielte Gould die kanadische Erstaufführung.
Und in Michael Stegemanns "Glenn Gould, Leben und Werk" kann man nachlesen, "daß Gould per Zufall Zeuge der Abmischung einer Horowitz-Platte wurde, bei der die Techniker schier verzweifelten... weil auf jedem der Takes etwas falsch war. Glenn Gould ließ sich erklären, worum es ging, und sagte dann: 'Well, wenn Sie dies und das machen, das hier und das andere da herausschneiden, dann kriegen Sie's hin -- bis auf den einen Takt hier, der Ihnen dann fehlt; ich spiele ihn schnell ein."
Wenn die Geschichte stimmt, wird also auf einer Horowitz-Schallplatte ein Takt von Glenn Gould gespielt.
"Man stelle sich vor, Gould würde eine Scriabin Sonate spielen."
Gould HAT Scriabin gespielt (3. Sonate in fis, 1969), und lt. Stegemann sogar bewußt als Provokation gegen Horowitz, um zu zeigen: "Ich kann das besser".
Wer Gould's Aufnahme der Brahms-Balladen kennt, weiß, daß Gould sehr, sehr romantisch Klavier spielen konnte, wenn er wollte.
Die Gemeinsamkeiten von Gould und Horowitz bestehen darin, daß beide geniale Musiker waren, die Unterschiede darin, daß der eine bisweilen aufgesetzt intellektuell, der andere weniger aufgesetzt naiv war.
Ein Gegensatz muß das nicht sein, denn beides hat seine Berechtigung, und beides kann man durchaus nebeneinander gelten lassen. Ich höre Bach/Busoni von Horowitz genauso gern wie Bach von Gould. Das einzige, was dem Genuß beider entgegensteht, ist Voreingenommenheit durch puristische Lehrmeinungen, die wähnen, die Wahrheit zu wissen.
Die Frage Gould ODER Horowitz ist müßig, denn die Antwort heißt schlicht Gould UND Horowitz, denn beide konnten zu gut Klavier spielen, als daß man einen von ihnen in den zweiten Rang verweisen könnte.