Freiheit versus Festlegung

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Das etwas sperrig formulierte Thema richtet sich an alle, die klassische Kunstmusik in Konzerten oder sonstigen Aufführungssituationen spielen. Es geht um die Frage des Verhältnisses zwischen konkreter Planung einer Interpretation auf der einen Seite und andererseits dem Zulassen von Ungeplantem, Spontanem, das einem im Moment des Spielens einfällt und dem man sein Spiel dann teilweise überlässt.

Generell empfinde ich dieses Spannungsfeld bei jeder Musik, die ich spiele, aber in letzter Zeit ist mir dies noch einmal sehr bewusst geworden.
Ganz konkret: Ich übe ja gerade die Fis-moll-Sonate von Schumann. Die Introduzione spiele ich jedes Mal etwas anders, je nach dem, wie es in der jeweiligen Spielsituation gerade kommt (buchstäblich!). Würde ich mir ganz genau Gedanken machen, was ich wann auf welche Art spiele, hätte ich das Gefühl, dem Stück, vor allem seinem frei schweifenden Ausdruck, Gewalt anzutun, etwas festzulegen, was frei sein will. Dadurch habe ich aber auch die Befürchtung, dass ich mit dem Stück nie „fertig“ werde, weil es ja ständig im Fluss ist, sich weiter entwickelt.

Wie steht ihr zum Verhältnis zwischen Geplantem und spontan eingebrachten und umgesetzten Ideen? Gibt es Musik, wo ihr eher spontan Neues einbringt, während ihr bei anderer Musik ein Ideal bereits im Kopf habt und diesem beim Spielen möglichst nah kommen wollt?
 
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Ich schreibe mal, ohne jetzt selbst Konzerte usw. zu geben...
Würde ich mir ganz genau Gedanken machen, was ich wann auf welche Art spiele, hätte ich das Gefühl, dem Stück, vor allem seinem frei schweifenden Ausdruck, Gewalt anzutun, etwas festzulegen, was frei sein will. Dadurch habe ich aber auch die Befürchtung, dass ich mit dem Stück nie „fertig“ werde, weil es ja ständig im Fluss ist, sich weiter entwickelt.
Entwickelt es sich denn wirklich weiter (das wäre dann ein echter Fortschritt, es würde sozusagen "besser" werden) oder klingt es einfach jedesmal beim Spielen ein wenig anders, aber ansonsten ähnlich akzeptabel? Im letzteren Fall würde ich mir keine großen Gedanken machen, und das eigene Spiel eben einfach dem Moment überlassen.
 
Ein Wesen des Übens ist jenes, daß man sich auf die Suche begibt, wie das vorliegende Werk zu interpretieren sei. Es ist normal, daß man mal hierhin und auch dorthin läuft. Im Laufe dieses Prozesses bildet sich dann eine Meinung aus. Die verfolgt man dann und übt , wie man diese Interpretation zum Klingen bringt. Sehr konkret anhand von Dynamik, Artikulation, Dramaturgie...
Je strenger man beim Üben mit sich vorgeht, desto mehr kann man sich im Konzert fallen lassen und spielen, wie es kommt. Das Schöne ist, daß durch den besonderen Moment des Konzertes, bei dem ja auch Faktoren wie Akustik, Instrument und Publikum eine deutliche Rolle spielen, der entscheidende Funke Inspiration funkeln wird. Wichtig ist aber unbedingt, daß man sich vorher im trauten Kämmerlein genau dafür eine Basis geschaffen hat. Nur dann wird dieser Esprit auch dem Werk dienen.
 
Entwickelt es sich denn wirklich weiter (das wäre dann ein echter Fortschritt, es würde sozusagen "besser" werden) oder klingt es einfach jedesmal beim Spielen ein wenig anders, aber ansonsten ähnlich akzeptabel?
Objektiv betrachtet: wahrscheinlich nein. Subjektiv empfunden: Auf jeden Fall! Es entwickelt sich weiter, wie ich mich selbst gesamtmenschlich weiter entwickle, ohne dass man das von außen sofort erkennen kann.
 
Wichtig ist aber unbedingt, daß man sich vorher im trauten Kämmerlein genau dafür eine Basis geschaffen hat. Nur dann wird dieser Esprit auch dem Werk dienen.
Diese Basis, von der du sprichst: Ist das ein Spielraum, d.h. ein Repertoire an Möglichkeiten, in dem man sich bewegt?

Oder würdest du sagen, dass in einer Konzertsituation wirklich noch nicht da gewesene Ausdrucksmöglichkeiten entstehen können, eben durch Inspiration? Das wäre ja immer auch ein gewaltiges Risiko.
 
Objektiv betrachtet: wahrscheinlich nein. Subjektiv empfunden: Auf jeden Fall! Es entwickelt sich weiter, wie ich mich selbst gesamtmenschlich weiter entwickle, ohne dass man das von außen sofort erkennen kann.
Das klingt in der Tat etwas nach "Zwickmühle"...
Diese Basis, von der du sprichst: Ist das ein Spielraum, d.h. ein Repertoire an Möglichkeiten, in dem man sich bewegt?

Oder würdest du sagen, dass in einer Konzertsituation wirklich noch nicht da gewesene Ausdrucksmöglichkeiten entstehen können, eben durch Inspiration? Das wäre ja immer auch ein gewaltiges Risiko.
Ich kann mir vorstellen, ersteres (aber eine Anwort von @Tastatula wird sich auch noch kommen). Wenn man sein Stück vor allem in den technisch schwierigen Passagen auch in einer gewissen Geschwindigkeits- und Ausdrucksbandbreite sicher beherrscht, dann kann man auf momentane Einflüsse (Akustik, eigene Stimmung, Stimmung im Publikum etc.) eben leicht und einfach reagieren, und sein Spiel dann anpassen.

Im anderen Fall muss man wohl oder übel bei der oder den "eingeübten Geschwindigkeiten und Ausdrücken" in der Aufführung bleiben, sonst erzeugt man Risiken...
 
Deine Frage ist klüger als viele kluge Antworten - Glückwunsch dazu! Sie zeugt von einem hohen Maß an Reflexion.
Objektiv betrachtet: wahrscheinlich nein. Subjektiv empfunden: Auf jeden Fall! Es entwickelt sich weiter, wie ich mich selbst gesamtmenschlich weiter entwickle, ohne dass man das von außen sofort erkennen kann.
Was Subjektiv wahrnehmbar ist, ist oft auch objekti (du meinst vermutlich "von außen") hörbar. Du würdest dich vielleicht wundern, was man mit einem geschulten Ohr alles hören kann. Du kannst eine Passage spielen und ich sage dir danach, an welche Töne du nicht gedacht hast, und du wirst feststellen, dass es genau so war. Weil man es hört!

Meine Antwort auf die Ursprungsfrage: Diese Freiheit ist kein unerfreuliches Übel, sondern das höchste Ziel beim Musizieren. Eine eingefahrene, stets gleiche Abspulweise ist nicht das Ziel. Und somit ist auch klar: Ein Stück ist niemals "fertig". Aber es kann ein Stadium erreichen, in dem man sich wohl und sicher fühlt und zu einer Interpretation gelangt, die einem in dem Moment sinnvoll erscheint.

Wie Tastatula schreibt: Um die Freiheit und Flexibilität zu haben, braucht man ein Repertoire an technisch-musikalischen Fähigkeiten und Ideen, auf die man zurückgreifen kann.
 
Die Aufgabe des Übens (egal ob von festgelegter oder improvisierter Musik) ist, die Bandbreite dessen, was beabsichtigt oder unbeabsichtigt beim Spielen/Aufführen spontan passieren kann, immer weiter auf lediglich passende, erwünschte Dinge einzuengen.

Nimmt man mal Heinz von Foersters Bild vom Menschen als "nichttrivialer Maschine", so geht es darum, die Maschine also zu trivialisieren - den Output also vorhersehbarer zu machen -, jedoch auf eine nicht ZU triviale, sondern als "künstlerisch" und "geschmackvoll" empfundene Weise, bei der immer noch genug "Überraschendes" oder "Originelles" eingesprenkelt ist.

Versuche, alles festzulegen (also letztlich der Versuch der kompletten Trivialisierung, sprich Vorhersehbarkeit des Outputs), sind stets zum Scheitern verurteilt, da der emotionale Ausdruck, der wesentlich auf der JETZT empfundenen und passierenden Gestaltung beruht, damit unweigerlich getötet wird.

Es bleibt daher wirklich nur der Weg des langfristigen Übens, der Meisterung des Musizierprozesses an sich.
 
Ich würde das Erarbeiten einer bestimmten Dramaturgie nicht unbedingt als ein "Festlegen" bezeichnen. Das Wort an sich sagt ja schon, daß man damit unbeweglich wird.
Dennoch muß man zunächst eine Linie suchen, auf der man wandern möchte.
Auch denke ich, daß eine einmal gewählte Richtung nicht festgemeißelt werden muß und schon gar nicht soll.
Wenn ich mich auf ein Konzert vorbereite, dann allerdings muß ich genau das tun, sonst wirkt die Musik seltsam intuitiv, kann schön sein, kann voll daneben gehen, aber, wie bei einem guten Film oder einem guten Roman, fehlt dann möglicherweise der Blick für das Ganze.
Das entbindet mich aber nicht von der Möglichkeit, meine Interpretation sich entwickeln zu lassen.
Jahre später kann ein Werk ganz anders klingen, das ist ein natürlicher Prozess.
Die detaillierte Auseinandersetzung im Vorfeld gibt Dir einen gewissen Boden, auf dem Du dann im Ernstfall tanzen kannst.
Für mich persönlich ist die "regiemäßige" Erarbeitung eines Werkes die schönste Arbeit. Es ist erstaunlich, was man da so alles zu sehen bekommt...;-)
 
Man kann es noch anders formulieren:

Es geht beim finden einer Interpretation darum, das Stück zu verstehen, zu durchdringen, alle Details wahrgenommen zu haben und doch das große Ganze zu fühlen.
Auf dieser Basis ist dann sehr, sehr viel möglich. Es empfiehlt sich, sich auf dieser Grundlage mit mindestens einer "Version der Ausführung" physisch gut vertraut zu machen, damit eine Verbindung von Herz /Kopf zu den Händen reibungslos funktioniert.
 
Lieber Demian,

mein Schlüsselerlebnis zu diesem Thema war eine Unterrichtsstunde bei meiner letzten Professorin. Ich habe es hier schon einmal erzählt, glaube ich.

Ich spielte und brach ab, weil mir ein Ton viel zu leise war und mir das so nicht gefiel. Sie fragte:" Warum brichst du ab?" Ich: "Es war hier zu leise und hat mir nicht gefallen." Sie: "Es ist nicht gut, dann abzubrechen! Das beraubt dich, zu erkennen, was hier alles möglich ist. Nimm es so, wie es ist und versuche, so logisch wie möglich weiter zu spielen. Deinen vermeintlichen Fehler also in das musikalische Geschehen zu integrieren. So kommst du auf Dinge, auf die du sonst nie gekommen wärst."

Man erlangt so eine große Flexibilität, gleichzeitig lernt man, sein Spiel so anzunehmen, wie es nun mal gerade ist und damit kreativ zu arbeiten (anstatt sich klein zu machen, zu ärgern ....). Im Konzert ist man dann freier, weil man schon so geübt hat.

Liebe Grüße

chiarina
 

Nimm es so, wie es ist und versuche, so logisch wie möglich weiter zu spielen. Deinen vermeintlichen Fehler also in das musikalische Geschehen zu integrieren. So kommst du auf Dinge, auf die du sonst nie gekommen wärst."

Man erlangt so eine große Flexibilität, gleichzeitig lernt man, sein Spiel so anzunehmen, wie es nun mal gerade ist und damit kreativ zu arbeiten (anstatt sich klein zu machen, zu ärgern ....)
Genau diesen Ansatz, kreativ gestaltend mit allen möglichen Arten von Ungeplantem umzugehen, habe ich auch, aber bisher nur beim musikalischen Improvisieren z.B. mit Improtheater-Gruppen. Im klassischen Konzert kann ich mir das auch sehr gut vorstellen; man ist im Jetzt und geht immer weiter. Und durch Fehler ist man stark gedrängt, aktiv zu gestalten, im Gegensatz zum automatischen „Abspulen“ des Gelernten.
 
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Ich glaube es war Busoni, der gesagt haben soll:
Ein Stück ist wirklich erarbeitet, wenn ich, sollte mir beim Konzert auf der Bühne etwas einfallen, sofort ohne technischen Verlust darauf reagieren kann.
 

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