Erwin Schulhoff (1894 - 1942)

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Ijon Tichy

Guest
Hallo.

Angeregt von meinem eigenen Beitrag in einem anderen Strang (https://www.clavio.de/forum/sonstiges/473-videos-129.html#post272875), will ich hier eine kleine Grundlage
schaffen, auf welcher ein Austausch zur Musik eines der mir bedeutsamsten Komponisten stattfinden
kann, wenn entsprechendes Interesse besteht.

Mit Allzubiographischem kann ich leider nicht dienen, weil ich es in all den Jahren, die ich seine Musik nun
liebe, noch nicht zustande gebracht habe, mir Josef Beks Schulhoff-Monographie zu besorgen, die mir das
führende Werk in dieser Sache zu sein scheint.

Im Folgenden nur ein wenig Grundsätzliches zum Lebenslauf.

Erwin Schulhoff begann im Jahre 1904 das Klavierstudium am Prager Konservatorium, wechselte 1906
nach Wien, wo er bis 1908 verblieb, um dann im selben Jahr nach Leipzig zu gehen. Dort studierte
er unter anderem Komposition bei Max Reger.
1911, nach einer Konzertreise durch Deutschland, setzte er seine Studien in Köln fort, bis er 1914 zum
Kriegsdienst antrat (oder antreten musste), welchen er bis zum Ende des Ersten Weltkriegs ausübte,
wodurch ihm die Möglichkeit des Studiums und der Komposition gänzlich versagt blieb.
1919 und 1920 nahm er an einer Reihe von »Fortschrittskonzerten« in Dresden teil, wobei er erstmals
mit dem Schaffen der Zweiten Wiener Schule sowie mit dem Jazz, der ihn sein ganzes Leben lang
beschäftigen würde, in Berührung kam — auch wendete er sich hier dem Dadaismus zu.
In den folgenden Jahren war er als Pianist und Klavierlehrer (unter anderem in Saarbrücken) tätig; —
hier eignet sich ein zeitlicher Sprung hin in die 1930er Jahre.
Nach der Machtübernahme zog er sich zurück in sein Heimatland Tschechien, von wo er 1938 durch
den Einmarsch der Nationalsozialisten nach Russland vertrieben wurde. Dort, nachdem er unter
verdecktem Namen noch Konzerte in Tschechien gegeben und an verschiedenen Projekten partizipiert
hatte, erwägte er die Emigration ins Vereinigte Königreich, nach Frankreich oder in die Vereinigten
Staaten, nahm jedoch schlussendlich die sowjetische Staatsbürgerschaft an.
1941, nach dem Kriegsangriff der Nazis auf die Sowjetunion wurde er gefangen genommen und
ins bayrische Wülzburg deportiert, wo er 1942 an Tuberkulose starb.

Charakteristisch für Schulhoffs Schaffen ist die scheinbar schier unendliche Inspiration, die er aus
der amerikanischen Jazzmusik seiner Zeit zog. Das betrifft die ganz ausdrücklichen Jazzkompositionen
wie die »Suite dansante en jazz« für Klavier, aber auch die großartige erste Klaviersonate (eine kleine
Auswahl mittlerweile auf Youtube verfügbarer Werke hänge ich an), die, wie ich finde, ein Panoptikum
an Stilvielfalt ist.
Aber nie ist sein Werk homogen, stets offenbaren sich in seinen Kompositionen die unterschiedlichsten,
teilweise möchte man fast sagen: widersprüchlichsten Ausprägungen — da stehen freie Atonalität und
Foxtrott oftmals dicht beieinander, und seine Wurzeln, die im späten 19. Jahrhundert liegen, treten
nicht selten auch zutage. — Ironie ist ein tragendes Element seiner Musik, die sich auch durchaus
hin und wieder zum Witzhaften hinreißen lässt, ohne dabei aber jemals in die Gefahr der Lächerlichkeit
sich zu begeben.
Ein Kuriosum ist das kleine Stückchen In futurum aus den »Fünf Pittoresken« (unten verlinkt),
welches nur aus Pausen (und aus was für welchen! [Notentext im Youtube-Video inklusive]) besteht
und das Cages 4'33'' schon einige Jahrzehnte im Voraus antezipiert — abgesehen von der
Bedeutungsschwere des Titels, die sich aus der völligen Stille ergibt.
Ich will nun auch gar nicht zu viel darüber sagen, immerhin wäre es schön, wenn hier eine Diskussion
auf Grund nicht nur meiner bescheidenen Notizen entstünde.

Ein Verzeichnis aller überlieferten Werke Schulhoffs findet sich hier:
Klassika: Werkverzeichnis Erwin Schulhoff (1894-1942)

Die Auswahl, die ich getroffen habe, fokussiert vornehmlich Schluhoffs Klaviermusik, jedoch Youtube hält
noch einiges bereit, worauf man ja nur allzu leicht bei eigenen Nachforschungen stößt.

Schulhoff Suite Dansante En Jazz WV 98 - YouTube
Schulhoff - Fünf Pittoresken - YouTube
Erwin Schulhoff - Partita (1920) - YouTube
Schulhoff - Hot Music - YouTube
Erwin Schulhoff: Zehn Klavierst
Schulhoff - Piano Sonata No.1 WV.69 - YouTube
Erwin Schulhoff - Hot-Sonate - YouTube
Erwin Schulhoff: Sonata per violino e pianoforte No.2 (1927) Mov.1 e 2 - YouTube
Erwin Schulhoff: Syncopated Peter (ca. 1934) - YouTube
Erwin Schulhoff: Concerto per pianoforte e orchestra, Op.11 (1913) Mov.1 - YouTube
Erwin Schulhoff: Concerto per pianoforte e piccola orchestra op.43 (1923) - YouTube
Erwin Schulhoff: Concerto per quartetto d'archi e fiati (1930) - YouTube
Erwin Schulhoff : Flammen (1932) Atto I° - YouTube
Erwin Schulhoff: Le Bourgeois Gentilhomme Suite (1926) - YouTube
Erwin Schulhoff: Die Wolkenpumpe op.40 (1922) - YouTube


Ich hoffe, mit diesem kleinen Beitrag erbringe ich nichts Überflüssiges. Da ich in der Suchfunktion
kaum etwas zu Schulhoff gefunden habe und auch nicht weiß, wie bekannt oder unbekannt er
Euch ist, denke ich mir, dass es durchaus gut ist, wenn man hier in Ausführlichkeit über ihn
diskutieren kann.
Es würde mich freuen.


Herzliche Grüße!
 
Hallo Ijon Tichy,
dein Faden ist für mich eine Anregung, in Youtube zu stöbern und mir einige Werke von Schulhoff anzuhören. Bisher kannte ich noch nichts von ihm.
Angesichts der Jazz-Einflüsse wäre vielleicht ein Vergleich mit Gershwin interessant, dessen Kompositionen ich sehr gut kenne. Mir scheint, dass Schulhoff die Jazz- und Tanzmusik-Einflüsse, ähnlich wie Stravinsky, in ein artifizielleres und manchmal auch parodistisches Umfeld einbettet.
Mich würde angesichts deiner Signatur interessieren, ob Adorno, der Jazz ja verachtete, etwas zu Schulhoff gesagt hat und zu welchem Urteil er gekommen ist.

Beim Googeln nach einer Antwort auf diese Frage bin ich auf folgenden Artikel über Schulhoffs Musik gestoßen:
Schulhoffs Musik aus dem Dornröschenschlaf geweckt - Nachrichten DIE WELT - DIE WELT
Das Kernzitat aus diesem Artikel über Schulhoffs Musik: "Sie fügt sich keiner Schule, keinem Dogma. Sie wagt sich auf ein Gelände, wo der Gegensatz von Atonalität und Tonalität keine beherrschende Rolle spielt, sondern beide als Möglichkeiten der Klangfantasie begriffen werden. Alles kommt Schulhoff auf den Ausdruck, die Aussage an."
Würdest du, Ijon Tichy, als Schulhoff-Kenner dem zustimmen?

Ich werde mir in den nächsten Tagen noch einige Werke von Schulhoff anhören und habe dann vielleicht eine etwas fundiertere Meinung dazu.

Vielen Dank für die Anregung und herzliche Grüße!
Zoel
 
Hallo Ijon Tichy,

da gibt es ja noch sehr viel zu entdecken. Nach dem Anhören der Suite Dansante kam für mich automatisch die Assoziation zur Sonate en état de jazz von Alexis Weissenberg.

Liebe Grüße
Christian
 
Guten Abend Zoel,


herzlichen Dank Dir schon einmal für Deine Antwort.

Das parodistische Moment an Schulhoffs Musik ist kaum zu leugnen. Ganz deutlich wird das beispielsweise
in seinen sechs »Ironien« für Klavier zu vier Händen, in denen er oftmals Effekte vorzieht, verzögert,
antäuscht und deren Duktus bei aller technischen Schrägheit teilweise dem Jazz entlehnt ist — der
Witz daran ist unverkennbar.
Eine Live-Aufnahme davon gibt es bei Youtube: Erwin Schulhoff, 6 Ironien - YouTube

Was nun Adorno angeht, so ist Deine Frage, Zoel, eine sehr interessante, aber eine gute Antwort kann
ich Dir darauf vermutlich nicht geben.
Es gibt tatsächlich eine Stelle, da äußert sich Adorno zu Schulhoff, jedoch erwähnt er ihn quasi nur im
Vorbeigehen als den Dadaisten Erwin Schulhoff, er widmet sich ihm also, soweit ich es weiß, nie
explizit. Sobald ich die Stelle wieder finde, reiche ich sie nach, denn ich habe es mir leider nicht notiert,
in welcher Schrift ich sie gefunden habe, und meine Anhaltspunkte sind so marginal, dass nun Tausende
Seiten Adorno nach der einmaligen Erwähnung eines Namens zu durchforsten ein Arbeitsaufwand wäre,
der einige Zeit in Anspruch nehmen würde. Jedoch lässt sich sagen, dass Schulhoff für Adorno nie so
wichtig gewesen zu sein scheint, dass er sich einmal deutlich mit ihm auseinandergesetzt hätte — das
ist jedoch nur eine Vermutung. Es kann sein, dass hier im Forum jemand durchaus mehr dazu weiß als
ich.

Ich kann mir allerdings denken, dass Adorno Schulhoff nicht sehr geschätzt hat; das läge dann einerseits
an dessen Affinität zum Jazz als eines Erzeugnisses der Kulturindustrie und seiner Hinwendung zum
Dadaismus. Adornos Dada-Kritik (wenn es eine explizite gibt) kenne ich nicht, aber ich denke, meine
eigene Betrachtungsweise des Dadaismus als einer Formierung, die oppositionell sich gibt, obwohl sie
eben doch im Bürgertum verwurzelt ist, und deren Kritik der herrschenden Verhältnisse in einer
Verneinung alles Sinntragenden gipfelt, also einer völlig dekonstruktivistischen Kritik, die eigentlich gar
nicht sein darf, kommt dem in Ansätzen zumindest nahe. — Vielleicht weiß auch dazu jemand etwas mehr.
Das ist, wie gesagt, lediglich spekulativ.

Was den Artikel angeht, den Du verlinkst, so finde ich ihn ziemlich plakativ verfasst. Wenn der Autor
informiert gewesen wäre, so wäre ihm nicht entgangen, dass Schulhoffs Musik gerade durch die Einflüsse
der populären Musik seiner Zeit uns heute noch so frisch erscheint. Schulhoff für den Jungfernbrunnen
der neuen Musik zu halten und dies mit Adorno zu stützen, das ist durch und durch widersprüchlich.

Richtig ist, dass Schulhoff keiner Schule oder dergleichen zuzuordnen wäre. Er hat Zeit seines Lebens
alles versucht, das ihm interessant erschien, er hat seine eignen Wurzeln, welche ja im Tschechien des
ausgehenden 19. Jahrhunderts liegen, ebenso verarbeitet, wie er sich die unterschiedlichsten Techniken
seiner Zeit angeeignet hat. Das liegt sicherlich auch an seiner Zuwendung zum Dadaismus, der ja eine
konkrete und sinntragende Manifestation quasi unmöglich macht und dem Gepflogenheiten und Konventionen
ebenso wenig Autoritäten sind, wie es überhaupt ein Inhalt wäre.

Worum es Schulhoff nun "ging", das kann ich nicht sagen, ohne seine Schriften gelesen zu haben oder
ohne überhaupt eine verlässliche Literatur zu ihm zur Hand zu haben, vielleicht lassen wir ihn selbst
sprechen in dieser kleinen Einleitung, die er den oben bereits erwähnten »Ironien« vorangestellt hat:

Lernt Dada

Es lebe! Suff, Ekstase! –
Foxtrott, – lieblichster Prinz und Hanswurst,
wenn Du Mädchen berührst, werden sie rasend
und sind unersättlich geworden!
Strumpfbänder schwirren und kokettieren
mit abgelegten Offiziersuniformen, die nach Laster
riechen!
Ober, eine Citronenlimonade à la naturelle!
Ich liebe den Alkohol nicht mehr, dafür aber um so
mehr schöne Beine! –
Zigarrenreklame, – Berlin, Paris, London, New York!
Weiber sind exhibitionistisch!
Foxtrottkonkurrenz! Behebung aller Arten Insuffizienzen
garantiert ohne Mittelchen! Strenge Diskretion in allen
Angelegenheiten – Detektivbüro »Argus« oder was
beißt mich? –
Bade zu Hause, bediene dich selbst, koche mit Knallgas! –
Lizzi, – Du, – unvergleichlich bist Du, wenn Du Foxtrott
tanzt,
Dein Hinterteil (streng ästhetisch!!) pendelt zart und erzählt
Bände von Erlebnissen!
»Jazz« ist nächste Devise! –
Ich werde für Dich einen Tango erfinden, den ich »Tango
perversiano« nenne
und den Du – »zum Weinen schön« tanzen wirst! Mit mir! –
Lizzi, ekstatische Foxtrottprinzessin und letztes Ereignis!!!



Herzliche Grüße!
 
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