Enharmonische Verwechslung im Barock.

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17. Nov. 2010
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Vor ein paar Wochen hat mir meine Klavierlehrerin aus einem gemischten Sammelband die Allemande und Courante BWV 838 vorgelegt. Als ich zuhause im Netz nachschaute, stellte ich fest, dass das Werk garnicht von Bach, sondern von Christoph Graupner war. Bei IMSLP fand ich da Manuskript der ganzen Partita sowie eine Druckausgabe von Breitkopf & Härtel, letztere nur die Allemande und Courante.

Jetzt hab' ich eine Frage zu Courante, Takt 19+20. Bei B&H steht da ein g in der Oberstimme, während ich die Vorzeichen dort beim besten Willen als nichts anderes als ein "b" lesen. Ein Auflösungzeichen ist auf der gleichen Seite in der Sarabande zu sehen, das schreibt er anders.

Meine Klavierlehrerin wunderte sich über das ges an dieser Stelle. Insbesondere auch, weil in Takt 21 ein fis folgt und sie meinte, "Enahrmonique" gebe es im Barock noch nicht. Ich persönlich finde die Stelle mit dem ges ja schöner. G passt auch irgendwie, klingt aber imho nicht so interessant. Gis klingt für mich irgendwie farbiger.

Harmonisch wäre es mit g einfach A7, welches hier dominantisch wirkt und zum darauffolgenden D-dur hinführt. (korrigiert mich, wenn ich falsch liege). Aber wenn Graupner tatsächlich -wie ich seine Handschrift lese- ein ges meint, wieso schreibt er dann nicht einfach fis? Dann wäre es ein A6-Akkord. A7b um zu zeigen, hier ist dominantische Hinführung zu D-dur gemeint, aber ein bisschen anders als Standard.

Oder liege ich total falsch, das ges an dieser Stelle ist musiklaischer Schwachsinn, im Barock undenkbar und die drei genannten b's in der Handschrift sind eigentlich ganz klare Auflösungszeichen.

Irgendwelche Meinungen?

Grüße.
 
Auch wenn sich das Interesse an dieser Frage in Grenzen hält, möchte ich hier noch die Antwort, die mir zugespielt wurde, erwähnen und zur Diskussion stellen.

Und zwar gibt es eine Anmerkung in der Faksimile-Ausgabe der 17 Suiten von Graupner (Ed. Fuzeau), aus der hervorgeht, dass Vorzeichen auch so verwendet wurden, dass sie sich gegenseitig aufheben. Die bs hier, die gemäß der erwähnten Anmerkung auch nicht wie heute üblich bis zum nächsten Taktstrich, sondern immer nur für die direkt folgenden Töne gleicher Höhe gilt hätten hier also tatsächlich die gleiche Wirkung wie Auflösungszeichen (schade).

Nun tauchen für mich schon wieder die nächsten Fragen auf:
* Geltungsbereich dieser Regel: Hat nur Graupner oder alle/die meisten seiner Zeitgenossen diese Notationsweise verwendet? Woran kann man heute bei der Lektüre von Handschriften erkennen, was gemeint war?
* Woher weiß man heute von dieser Regel? Ist das common sense und seit jeher bekannt und unstrittig oder stützt man sich auf einzelne Indizien, handelt sich um eine möglicherweise kritisierbare These, gibt es Gegenmeinungen?
* Wieso werden überhaupt Auflösungszeichen verwendet? Diese wären doch gemäß der genannten Verwendung von sich gegenseitig aufhebenden "#" und "b" völlig überflüssig.
 
* Wieso werden überhaupt Auflösungszeichen verwendet? Diese wären doch gemäß der genannten Verwendung von sich gegenseitig aufhebenden "#" und "b" völlig überflüssig.
Zum Beispiel wäre es dann nicht mehr möglich, Erinnerungsvorzeichen vor eine Note zu schreiben, da sie ja dann zusätzlich versetzt würde. (Die Variante mit solchen Erinnerungsvorzeichnungen über bzw. unter dem Notensystem wäre zwar weiterhin möglich, aber bei Akkorden auch wieder prblematisch.)
 
Zum Beispiel wäre es dann nicht mehr möglich, Erinnerungsvorzeichen vor eine Note zu schreiben, da sie ja dann zusätzlich versetzt würde. (Die Variante mit solchen Erinnerungsvorzeichnungen über bzw. unter dem Notensystem wäre zwar weiterhin möglich, aber bei Akkorden auch wieder prblematisch.)
Das wäre der Fall, wenn Vorzeichen sich auch kummuliern würden, was ja aus der Verwendung mit der gegenseitigen Aufhebung nicht unbedingt folgt und ich mir auch kaum vorstellen kann, dass es jemals so gemacht wurde.

Erinnerungsvorzeichen am Ende des Taktes um an ein Vorzeichen, welches man seit erstem Auftreten am Anfang des Taktes vergessen haben könnte, gab es ja nach zitierter Lesart ohnehin nicht, da die Vorzeichen nur für direkt nachfolgende Töne galten und somit wie an der besagten Stelle in der Graupner-handschrift zu sehen sowieso neu notiert werden mussten.
 
Lieber Freund,

es ist wahrlich nicht das Interesse das mir fehlte um eine Antwort zu geben, sondern ich hatte keine Unterlagen, weil Du die besagte Stelle nicht eingegeben hattest. Außerdem geht nicht aus deinem ersten Beitrag hervor, dass Du von einem Faksimile von Fuzeau ausgehst.

Also mal ganz kurz und bündig. Die alten Handschiften kommen prinzipiell mit zwei Vorzeichen aus: das b erniedrigt die Note um einen halben Ton und das # erhöht es um einen halben Ton. Jedes Vorzeichen gilt jeweils nur für die eine Note vor der es steht. Kommt die Note mehrere Male in einem Takt vor, wird auch das Vorzeichen jedes Mal wiederholt. Steht ein Stück nun, nach heutigem Brauch in G Dur, und hat also ein # im Schlüssel, muss der Komponist ein b vor das f setzen, wenn er eben ein f haben will. Und auch hier, muss er innerhalb der gleichen Stimme und innerhalb des gleichen Taktes so viele b Vorzeichen setzen wie er fs hat. Umgekehrt. Steht das Stück in F Dur (nach moderner Auffassung)* und er möchte ein h haben muss er ein # Vorzeichen vor die Note setzen. Das gleiche gilt übrigens auch für die Bezifferung des Generalbasses. Ein alleinstehendes b bedeutet einen Molldreiklang, und ein alleinstehendes # einen Durdreiklang.

Wer aber einmal begonnen hat aus Faksimile Editionen zu spielen, wirft schnell die moderne Editionen in den Korb…

In der Hoffnung, dass diese Erklärungen verständlich sind, grüße ich von Herzen
PiRath

*Über die genaue Bedeutung der Tonarten können wir hier nicht reden, das würde zu weit führen, das sind Reliquien früherer Zeiten.
 
es ist wahrlich nicht das Interesse das mir fehlte um eine Antwort zu geben, sondern ich hatte keine Unterlagen, weil Du die besagte Stelle nicht eingegeben hattest. Außerdem geht nicht aus deinem ersten Beitrag hervor, dass Du von einem Faksimile von Fuzeau ausgehst.
Ich bezog mich auf den Scan der Handschrift bei imslp.org, welches ich verlikt hatte:
Bei IMSLP fand ich das Manuskript der ganzen Partita
...
Jetzt hab' ich eine Frage zu Courante, Takt 19+20.
Entschuldigung, wenn ich mich da nicht klar genug ausgedrückt hatte.

Aus den Anmerkungen in einer Faksimile von Fuzeau (die ich nicht vorliegen habe) wurde mir ein Zitat zugespielt, auf welches ich mich im zweiten Posting bezog und dessen Aussage sich in etwa mit Deiner Erklärung deckt.

Also mal ganz kurz und bündig. Die alten Handschiften kommen prinzipiell mit zwei Vorzeichen aus: das b erniedrigt die Note um einen halben Ton und das # erhöht es um einen halben Ton. Jedes Vorzeichen gilt jeweils nur für die eine Note vor der es steht. Kommt die Note mehrere Male in einem Takt vor, wird auch das Vorzeichen jedes Mal wiederholt.
Außer bei Wiederhoungen desselben Tones wie am Ende in Takt 19. Ich glaube kaum, dass die 8-tel ein Gis sein soll.

Was mich verwundert, ist die Tatsache, dass in der genannten Handschrift eben doch Auflösungszeichen stehen. Etwa auf dem gleichen Blatt in Takt 14 der Sarabande. Da könnte/müsste ja dann konsequenterweise auch ein b stehen.

Wer aber einmal begonnen hat aus Faksimile Editionen zu spielen, wirft schnell die moderne Editionen in den Korb…
Was mich momentan, auch bei Bach, der ja wie Graupner eine sehr schöne und gut leserliche Handschrift besaß und von dem auch einige Manuskripte bei IMSLP verfügbar sind, davon abhält, direkt nach den Manuskripten zu spielen, ist die Tatsache, dass dort der C-Schlüssel verwendet, wo man heute den Violinschlüssel nehmen würde. Das ist auch mit ein Grund, dass ich mir gelegentlich die Mühe mache, so ein Stück abzutippen. Wenn Du (oder sonsige Interessierte) magst, kannst Du ja einen Blick auf meine Abschrift der genannten Partita, die ich ebenfalls bei IMSLP hochgeladen habe, werfen. So wie's aussieht, muss ich wohl noch eine Version mit Korrekturen in Takt 19+20 nachschieben. Falls irgendjemand noch weitere Ungereimtheiten oder Fehler auffallen, bin ich für Hinweise dankbar.
*Über die genaue Bedeutung der Tonarten können wir hier nicht reden, das würde zu weit führen, das sind Reliquien früherer Zeiten.
Du machst mich neugierig. Irgendwelche Literaturhinweise oder Internetseiten zum Einstieg?
 
Zuletzt von einem Moderator bearbeitet:
Hallo nochmals,

Ich hatte in der Tat übersehen, dass Du von Manuskripte ausgehst, und habe erst jetzt, über deinen Link besagte Stelle gefunden.

Also: Die Courante hat 3 # im Schlüssel, was unserem A Dur entspricht. Die Oberstimme ist im C-Schlüssel erste Linie. (Auch normal für diese Zeit.) Da an gesagter Stelle, ein g statt des gis verlangt ist, steht das b Vorzeichen als Akzidens Note. Und da im folgenden Takt das g zweimal vorkommt, wird auch das Vorzeichen ein zweites Mal wiederholt.

Die bei ISMLP angebotene Moderne Notation ist ein Grauen. Zum Ersten ist das Notenbild nicht schön, und zum Zweiten, hätte der Setzer auch das b Vorzeichen wiederholen müssen wenn er wirklich ein authentisches Notenbild anstrebt. Ich tendiere sowieso dazu, dass moderne Editionen so originalgetreu wie möglich sein sollten. Aber bei so einem schönen Manuskript, wird der moderne Notendruck überflüssig.

Beste Grüße
PiRath
 
Oh je,

jetzt werde ich erst Recht Ärger bekommen.

OK. Ich stehe dazu. Du musst Dein Notenbild verbessern, wenn Du dich als Notensetzer betätigen möchtest. Da gibt es graphische Regeln zu kennen und anzuwenden.

Gib mir per PN Bescheid, wenn Du das Thema vertiefen möchtest. Eine Computer Edition soll wenigstens immer so einladend sein wie das Manuskript selbst. Die Computer Edition soll einfach die Bequemlichkeit der modernen Edition mit dem Notenbild des Manuskriptes vereinen….

Hoffentlich habe ich dich nicht beleidigt oder gekränkt, aber ich bin nun unerbittlich, sobald es um Edition geht… Das ist mein Temperament….

Beste Grüße
PiRath
 
Die bei ISMLP angebotene Moderne Notation ist ein Grauen.
Danke für die Blumen ;-)
Zum Ersten ist das Notenbild nicht schön,
Kannst Du das konkretisieren? Ich war bisher immer der Auffassung, dass Lilypond im Großen und Ganzen recht ordentliche Ergebnisse liefert.
und zum Zweiten, hätte der Setzer auch das b Vorzeichen wiederholen müssen wenn er wirklich ein authentisches Notenbild anstrebt.
Ziel war schon, den Notensatz so zu gestalten, dass die Partita dem unbedarften modernen Musiker oder Laien (insbesondere mir) leichter zugänglich wird, also auch modernen Notationskonventionen folgt. Hier müssen also konsequenterweise Auflösungszeichen hin, wenn Graupner da g und nicht wie ich zunächst naiverweise angenommen hatte ein ges gemeint hat. Genau wegen dieser Unklarheit hatte ich ja diesen Faden gestartet.
Ich tendiere sowieso dazu, dass moderne Editionen so originalgetreu wie möglich sein sollten.
Grundsätlich würde ich dem zustimmen, aber dann sollte konsequenterweise auch der C-Schlüssel verwendet werden, und damit gilt zumindest hier letztlich:
Aber bei so einem schönen Manuskript, wird der moderne Notendruck überflüssig.
Ich habe gelegentlich versucht, hier, wie auch bei Bach (WTK, Inventionen) direkt nach dem Manuskript zu spielen, das artet aber -zumindest bei mir- wegen des C-Schlüssels in extremes Gehirnjogging aus. Das Abtippen war letztlich auch eine nette Übung im Lesen des C-Schlüssels ;-) und ich hab' jetzt einen Notentext, mit dem ich das Stück für mich erarbeiten kann.

Gerzliche Grüße.
 
Ich werde demnächst „eine Schönheit des Notenbildes“ definieren und es Dir per PN schicken, ich weiß nicht, ob ich die Diskussion öffentlich führen soll. Das machen wir sachlich unter uns. Es gibt desbezüglich sowieso verschiedene Schulen und ich kann nur von dem berichten was ich kenne. Soviel im Vorfeld: ich halte mich weitgehendst an die Grundregeln des Centre de musique baroque de Versailles, welche ich aber um meine eigene Exigenz erweitere.

(Entferne vielleicht deine Version wieder von ISMLP und warte ein paar Tage bis Du eine schönere hast.)

Beste Grüße
PiRath
 
ma! ich finde es sau interessant! bitte hier vertiefen! büüüüde! :)

lg
emmanuel
 

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