Guten Tag, NewOldie!
Aber ich muss sagen, dass ich nachher so besoffen von den Klängen war,
dass ich kein sicheres Harmonieempfinden mehr hatte (habe).
Eine Bitte:
Ich will auf alle Fälle mit der Skala weiter experimentieren und hätte gerne eure Meinung oder Profitrips.
Eine Frage am Rande:
Kann ich sinnvoll in andere Tonarten modulieren? (Meine Antwort = innere Zensur: Das ist wohl Quatsch, weil die Modulation eher eine Angelegenheit der westlichen Musik ist.)
Was Du schreibst bzw. wovon Du berichtest, das gefällt mir.
Du berührst Fragen, mit denen sich abendländische Komponisten beschäftigen,
seit sie von der Existenz eines musikalischen Morgenlands wissen
und gewagt haben, musikalisch davon zu träumen.
Den Beginn macht die "alla turca-Mode" in Wien zur Zeit Haydns und Mozarts -
eine Verarbeitung des Schocks, von den Türken beinahe erobert worden zu sein.
Gleichzeitg ist diese Türkei bzw. dieser Orient ein Sehnsuchtsort, eine Projektionsfläche,
in der alle in der eigenen Kultur mühsam beherrschten oder unterdrückten Triebe
ausgelebt werden können, und der Türke eine Projektionsfigur - so vorallem
in den (überaus witzigen) Türkenopern aus jener Zeit. Auch musikalisch bleibt
diese Gegenwelt eher unterkomplex: Janitscharengeklingel in der Instrumentierung,
die übermäßige Sekund der harmonischen Molltonleiter reichen zur Not schon aus,
um orientalisches Flair zu schaffen.
Ein Wesensmerkmal orientalisierender
abendländischer Musik ist hier zu beobachten: die Harmonik bleibt funktionstonal-vertraut,
der exotische Anteil beschränkt sich auf Ornamentierungen in der Melodik.
Félicien Davids Ode-Symphonie "Le Desert" von 1844 ist das erste Dokument
des musikalischen Exotismus - nicht zufällig in Frankreich entstanden, einem Land
mit Kolonialbesitz in Afrika und Ostasien. Frankreich ist entsprechend auch das Land,
in dem Komponisten Ende des 19.Jahrhunderts mit dem Exotismus ernst machen,
das Exotische nicht mehr als Ornament gebrauchen, sondern zur kompositorischen Grundlage
ihrer Musik machen, was sich auf den Formaufbau und den gesamten Tonsatz auswirkt:
Bei Satie in den sechs "Gnossiennes" (zwischen 1891 und 1897), Debussy ab 1903
mit den "Estampes", Ravel ab demselben Jahr mit dem Liederzyklus "Shéhérazade" -
formal in der Abkehr von dreiteiliger Liedform, stattdessen: Reihungsprinzip oder freie Formen;
was den Tonsatz betrifft: Abkehr von der Funktionstonalität, Hinwendung zur Modalität
oder zum Gebrauch "exotischer" Skalen in Melodik und Harmonik.
Mit Jolivet und vorallem Messiaen begegnen uns zwei Komponisten, deren Personalstil
sich durch Amalgamieren verschiedenster außereuropäischer Einflüsse entwickelt hat.
Messiaens Inspirationsquellen sind die indische Rhythmik, durchsystematisierte Skalen
(z.B. die oktatonische Skala), teilweise auch die Rhythmik der alten Griechen -
zwar ein europäisches Erbe, aber zeitlich so entrückt, daß es für heutige Europäer
auch schon wieder exotisch ist - sowie Vogelgesänge aus allen Erdteilen.
Allen hier aufgeführten Strömungen ist eines gemeinsam:
Nie hat irgendjemand
unter diesen Komponisten versucht, außereuropäische Musik unmittelbar zu imitieren,
gleichsam Mimikry zu betreiben - exotische Elemente wurden abgewandelt,
und dem eigenen Ausdrucksbedürfnis angepaßt. Das ist vollkommen legitim,
vorallem ehrlicher als der hilflose Versuch, kulturelle Differenz einzukassieren
und so zu tun, als wäre jeder jederzeit befähigt, in eine fremde Haut zu schlüpfen.
Nord- bzw. Südinder verbringen ein halbes Leben lang damit, die nord- bzw. südindischen Talas
und Ragas zu erlernen - wie sollte ein Nicht-Inder in ein paar wenigen Jahren dergleichen schaffen?
(Beiseite gesprochen: Ich hoffe, daß Guendola mir zustimmt und sich nicht auf den Schlips getreten fühlt.)
Langer Rede kurzer Sinn: Lieber NewOldie, was Du tust, ist vollkommen richtig.
Es ist gut, wenn Dich das "normale" Harmonieempfinden verläßt, denn arabisierende Melodik
mit sturem I-IV-V zu unterlegen reizt höchstens die Lachmuskeln, aber nicht das Ohr.
Mit Deinen Skalen zu experimentieren, vorallem einfach am Klavier zu improvisieren,
ist das einzig Wahre, was Du tun kannst. Hab keine Scheu vor der Modulation -
als einem abendländischen Kunstmittel -, sie ist in dem Kontext Deiner Musik
wahrscheinlich nicht mehr als der Wechsel des Zentraltons. Und wie schon gesagt:
Wenn sich in Deiner Musik europäische und außereuropäische Elemente begegnen,
so ist das kein Unglück, sondern einfach nur ehrlich. Das gelungene Beispiel
einer solchen Begegnung ist Saties erste Gnossienne - ich bin gespannt,
wie sie auf Dich wirkt, und hoffe, daß Du uns davon berichten wirst.
Herzliche Grüße,
Gomez
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