Die Entzauberung des "Geniekults" - über das Unvermögen großer Könner

Vergeßt unser Tonerl (Bruckner) nicht. Der hatte stets wahnsinnige Zweifel an seinen Kenntnissen der Musiktheorie.
 
Karajan konnte sich ein Stück klanglich nicht allein anhand der Noten vorstellen, sondern musste immer eine Aufnahme davon hören, während er die Partitur lernte.

Artur Rubinstein war immer etwas neidisch auf die Technik von Horowitz, die er selbst so nicht besaß.

Aus dem Grund hat er die ihm gewidmete Klavierfassung von "Petruschka" auch nie (öffentlich) gespielt.
 
Soll das heißen, er konnte nur Stücke lernen, die vor ihm schon mal aufgenommen hatte? Das kann ich mir irgendwie nicht vorstellen.
Nun ja, das Repertoire von Heribert war jetzt nicht derart avantgardistisch, dass er von irgendwas die Ersteinspielung gemacht hätte.

Die Info stammt meiner Erinnerung nach aus dem Buch des ehemaligen Intendanten des BPO, Wolfgang Stresemann: "Ein seltsamer Mann ...". Erinnerungen an Herbert von Karajan, Berlin 2008. Ist sehr lesenswert.
 
Karajan konnte sich ein Stück klanglich nicht allein anhand der Noten vorstellen, sondern musste immer eine Aufnahme davon hören, während er die Partitur lernte.
Wenn das so wäre, hätte er mit einem Orchester gar nicht vernünftig proben können. Konnte er aber, und zwar besser als fast alle seiner Kollegen. Das weiß ich von Seiji Ozawa, der Karajans Assistent gewesen ist.
 
Es gibt ja hier nicht 100 und 0. Sicher konnte er sich vieles im Kopf vorstellen, aber vielleicht nicht in dem erstaunlichen Ausmaß, wie manch anderer es kann...
 

Dann war er wohl nicht bei den (zugegeben wenigen) Uraufführungen dabei, die Karajan auch dirigiert hat.
Echt, die gabs? Ich bin mir auch nicht ganz sicher, ob bei der LP-Kassette mit Schönberg-Berg-Webern nicht doch eine Ersteinspielung dabei war. Nächste Woche werde ich mir das Buch noch mal ausleihen und die Stelle nachlesen.

In der Doku von Robert Dornhelm ist Karajan übrigens zu sehen, wie er sich mit einer Partitur auf den Boden neben den Plattenspieler lümmelt (bei 41:30) und die Partitur liest während dieser abspielt.
 
Ich denke ja nicht, dass Kenntnisse in Musiktheorie und gutes Komponieren absolut linear verknüpft sein müssen. Man kann auch intuitiv oder dem Gehör und Empfinden nach sehr gut komponieren, ohne jeden Ton analytisch einordnen zu müssen. Wir reden hier ja ganz offensichtlich nicht von Grundkenntnissen.
Schubert meinte übrigens auch, kurz vor seinem Tode, Unterricht in Musiktheorie nehmen zu müssen (oder war es Kontrapunkt?).
 
Wenn das so wäre, hätte er mit einem Orchester gar nicht vernünftig proben können. Konnte er aber, und zwar besser als fast alle seiner Kollegen. Das weiß ich von Seiji Ozawa, der Karajans Assistent gewesen ist.
O-Ton Stresemann:
"Wenn er [Karajan] neue Werke in sein Repertoire nahm, lernte er sie, indem er sich Aufnahmen anderer Dirigenten vorspielte, ein Weg, den er merkwürdigerweise auch jungen Dirigenten empfahl. Selbst bei Uraufführungen ließ er zuvor ein Probeband herstellen, das ihm zum Studium diente."

Dann hat sich die Frage wegen der Uraufführungen also auch geklärt.

Nach G. Soltis Meinung sind beim Dirigieren nicht die Arme das Wichtigste, sondern die Augen. Eigentlich hätte Karajan daher gar nicht vernünftig dirigieren können mit seinen stets geschlossenen Augen, aber offenbar ging bei ihm trotz einiger Eigentümlichkeiten (s. o.) so manches ...
 
O-Ton Stresemann:
"Wenn er [Karajan] neue Werke in sein Repertoire nahm, lernte er sie, indem er sich Aufnahmen anderer Dirigenten vorspielte, ein Weg, den er merkwürdigerweise auch jungen Dirigenten empfahl. Selbst bei Uraufführungen ließ er zuvor ein Probeband herstellen, das ihm zum Studium diente."
Interessantes Portrait:



Eine der wenigen Aufnahmen mit ihm als Dirigenten des zweiten Brahms-Konzerts (der Solist war Schüler von Clara Schumann und kannte Brahms gut persönlich):



LG von Rheinkultur
 
"Wenn er [Karajan] neue Werke in sein Repertoire nahm, lernte er sie, indem er sich Aufnahmen anderer Dirigenten vorspielte, ein Weg, den er merkwürdigerweise auch jungen Dirigenten empfahl. Selbst bei Uraufführungen ließ er zuvor ein Probeband herstellen, das ihm zum Studium diente."
Das heißt aber noch lange nicht, dass er keine klare Klangvorstellung hatte und er die Aufnahmen in erster Linie zu diesem Zweck nutzte. Bei seinem riesigen Repertoire und seinem übervollen Terminkalender war das vielleicht nur ein Mittel, schneller zum Ziel zu kommen, als es mit ausschließlichem Partiturstudium möglich gewesen wäre.
 

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