Der Schatten des Komponisten

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11. Apr. 2007
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Hallo liebe Clavios & Clavias,

mich beschäftigt eine Frage, die ich gerne zur Diskussion stellen möchte. Ich habe letztens die Kopie eines zweiseitigen Stückes ausgegraben, das meine Lehrerin mir gegeben hatte. Kein Name, kein Komponist drauf. Sehr seltene Situation eigentlich. Normalerweise lesen wir noch bevor der erste Ton erklingt den Namen des Schöpfers. Ich frage mich, wie sehr uns das beeinflusst oder anders gefragt: Würden wir ein Stück anders auffassen, wenn uns diese Information fehlen würde?

Was hat dieser Name eigentlich noch alles im Schlepptau? Den "richtigen" Vortragsstil, Assoziationen an verwandte Werke, etc
Hat die Musik, die wir vor uns haben, es nicht verdient, dass wir ihr so unvoreingenommen wie möglich begegnen? Geht das überhaupt?

Ich hoffe, ich bin nicht der Einzige, den das interessiert und freue mich auf Antworten :)

lg marcus
 
Tut mir leid, wenn ich auf diese sehr interessante , möglicher weise auch sehr vielschichtige frage, eine so saloppe antwort gebe, aber ich denke gute Pianisten bzw. kluge Musiker beeinflusst das nicht; sie behandeln ein Musikstück an seiner Qualität.

So haben ja auch große Komponsiten schrottgeschrieben, den man auch genau so nenne darf und sollte. Der name macht nicht die Musik, sondern Musik ist sich selbstzweck( zweckentfremdeter begriff :D:D ).

Also unerfahrene Musiker lassen sich vielleicht beeinflussen, andere scheuen nicht davor auch Meisterss stücke nicht meisterhaft zu finden, sofern es angebracht ist :)


mit freundlichen Grüßen

Makannyik
 
ich denke gute Pianisten bzw. kluge Musiker beeinflusst das nicht; sie behandeln ein Musikstück an seiner Qualität.
Das halte ich nicht für richtig. Ob jemand klug ist oder nicht, hat darauf wohl nur sekundär Einfluss; wichtig wäre eher, wie erfahren, interessiert, zielorientiert jemand ist und was er mit dem Spielen bezweckt. Ich vermute, du meinst mit "klug" eher "professionell" und "gut ausgebildet".
Aber auch dann ist die Aussage fragwürdig (sic!!!).

Man muss sich wohl entscheiden: Spielt man so, wie der Komponist es wohl gewollt hat, oder spielt man so, wie man selbst will, ohne sämtliches Hintergrundwissen zu berücksichtigen?

Paradebeispiel Bach: Wer nicht weiß, wie die damaligen Instrumente, Aufführungspraxis usw. war, kann ins Hochromantische abschweifen (C-Dur-Präludium...) und sehr unzeitgemäß spielen. Es können dann sehr schöne Ergebnisse herauskommen! Die wären aber eben nicht im Sinne Bachs.
Bach muss artikuliert werden, übertriebene Rubati und "romantische Gesten" sind unpassend.

Da man alle großen Komponisten aber an ihrem Stil erkennt, ohne den Komponist genannt zu sehen, ist die Frage wohl eher, ob man sich an dessen vermutete und /oder im Moment praktikable Intention absichtlich halten will oder nicht.
 
Wer nicht weiß, wie die damaligen Instrumente, Aufführungspraxis usw. war, kann ins Hochromantische abschweifen (C-Dur-Präludium...) und sehr unzeitgemäß spielen. Es können dann sehr schöne Ergebnisse herauskommen! Die wären aber eben nicht im Sinne Bachs.
Und woher wissen wir das? Gibt es hier Dokumente, die die klare Artikulation fordern? (Keine Ironie - interessiert mich wirklich!) Sorry, für OT.
 
Ich bin nicht sicher, wie die genaue Lage der Zeugnisse über die Aufführungspraxis ist, aber es gibt zahlreiche. Was genau drin steht, kann ich dir nicht sagen. Ein Zeugnis ist aber sozusagen das damalige Instrumentarium. Das WTK ist für Cembalo oder jedenfalls nicht dymamisch abstufbares Instrument geschrieben. Um also dennoch mehrere Stimmen höbar zu machen, Schwerpunkte zu kennzeichnen u.v.m. bleibt nur die Agogik und Artikulation. Das bedeutet z.B., dass (Fugen-)Themen fast nie komplett Legato gespielt werden dürfen, sondern immer "artikuliert" werden müssen. Dies geschieht z.B. durch Binden, Absetzen, Tonlängengestaltung (da ist viel zwischen Portato und Staccato!) und so weiter.

Warum man nun extremes Rubato verbietet, kann ich dir nicht sofort begründen. Meine Begründung ist gerade, dass es den Drive, der bei Bach so einzigartig ist, zerstört. Es ist eine pulsierende, fließende Musik...
 
dass es den Drive, der bei Bach so einzigartig ist, zerstört. Es ist eine pulsierende, fließende Musik...
Seh ich ja genau so. Übrigens: Ich hab mal bei der Inv#4 rumprobiert, sie "anders" zu spielen... no way. Während sich z.B. die Giga von Zippoli richtiggehend zur romantischen "Interpretation feilgeboten" hat ...

Bach war eben der erste (Ba) Rocker!
 
Ein Zeugnis ist aber sozusagen das damalige Instrumentarium. Das WTK ist für Cembalo oder jedenfalls nicht dymamisch abstufbares Instrument geschrieben.
bedeutet das denn nicht viel eher, dass durch Artikulation das dynamikarme - man könnte auch sagen: dynamisch mangelhafte - Instrument versuchen soll, das gesungene oder gestrichene Cantabile wenigstens zu imaginieren?
...es ist doch sehr unwahrscheinlich, dass Bach expressive Cantilenen fürs Cembalo anders denkt als fürs Cello - denn das würde bedeuten, dass ihm Cembalocantilenen etwas gleichgültiger wären; das sieht aber in etlichen Praeludien des WTK ganz und gar nicht so aus.
...ist da manche Aria des Notenbüchleins nicht verräterisch, weil sie ja auch die Gesangsstimme nebst Text enthält? ...oder sollte man damals so gesungen haben, wie man Cembalo spielt?... ;)

das Cembalo ist nicht das Non Plus Ultra für alle Tasteninstrumente, und schon gar nicht fürs singen, geigen usw.
 
Ehrlich gesagt versteh ich nicht, was dein Beitrag jetzt aussagen soll in Bezug auf die vorangegangenen. Ich finde nicht, dass er im Widerspruch zu meiner These steht, er ergänzt sie lediglich. Dass du das anders siehst, dafür spricht aber "bedeutet das denn nicht viel eher". Es bedeutet es eben auch... Dass ich nicht in zwei Sätzen erkläre, wie "man Bach spielt" (was eh nicht möglich ist) bzw. wozu Artikulation (bei Bach) gut ist, versteht sich ja von selbst. Ich habe nur die naheliegendste Erklärung gewählt.
 
Ich habe letztens die Kopie eines zweiseitigen Stückes ausgegraben, das meine Lehrerin mir gegeben hatte. Kein Name, kein Komponist drauf. Sehr seltene Situation eigentlich. Normalerweise lesen wir noch bevor der erste Ton erklingt den Namen des Schöpfers. Ich frage mich, wie sehr uns das beeinflusst oder anders gefragt: Würden wir ein Stück anders auffassen, wenn uns diese Information fehlen würde?

Was Du hier als fehlend beschreibst, nennt man in der Literaturwissenschaft (genauer in der Rezeptionsästhetik der sog. Konstanzer Schule) den "Erwartungshorizont": mit einem bestimmten Namen, sei es eines Autors oder einer Gattung, sind bestimmte Erwartungen an die Beschaffenheit des Werks verküpft, die dann entweder eingelöst oder -- sofern das Werk einen ästhetischen Anspruch hat -- weiterentwickelt werden. Verfügen wir über keinerlei Vorwissen, muß dieser Erwartungshorizont aus dem Stück selbst rekonstruiert werden, und statt uns dem ästhetischen Genuß hingeben zu können, plagen uns die Fragen nach Zeit, Gattung, Autor etc. Diese Rekonstruktion ist aber notwendig, weil wir im allgemeinen an vorhandenes Wissen anknüpfen müssen und uns sonst der elementare kognitive Dreischritt »beobachten -- vergleichen -- beurteilen« versagt bleibt. Das Werk bleibt uns dann »ein Rätsel«, und auch das können wir nur beschreiben, wenn wir eine Vergleichsmöglichkeit haben.


Grüße,

Friedrich
 
Zuletzt von einem Moderator bearbeitet:
Unerfahrene Pianisten bemessen die qualität eines stückes auch anhand des Namens des Komponisten, erfahrene, "kluge", kurzum profis wissen das auch zu übergehen udn sich direkt die qualität eines tonsatzes anzusehen. an diesem Satz ist nichts auszusetzen, anders war s oben kaum beschrieben. ich bin nur auf einen teilaspekt seiner frage eingegangen und habe nicht von vortragsweise gesprochen, sondern einzig und allein vo der qualität des stückes. Da mag der Name einen verleiten, abern icht die profis ;)

@ Rolf DANKE! Das musste einfach mal gesagt werden....
 
Ehrlich gesagt versteh ich nicht, was dein Beitrag jetzt aussagen soll in Bezug auf die vorangegangenen.
vielleicht wird es dir jetzt etwas klarer, wenn du deinen griffigen und leicht dahin sagbaren Satz noch mal genauer anschaust:
Man muss sich wohl entscheiden: Spielt man so, wie der Komponist es wohl gewollt hat, oder spielt man so, wie man selbst will, ohne sämtliches Hintergrundwissen zu berücksichtigen?
und dir dann folgendes dazu durch den Kopf gehen lässt:
...es ist doch sehr unwahrscheinlich, dass Bach expressive Cantilenen fürs Cembalo anders denkt als fürs Cello - denn das würde bedeuten, dass ihm Cembalocantilenen etwas gleichgültiger wären; das sieht aber in etlichen Praeludien des WTK ganz und gar nicht so aus.

wenn man sich auf die Suche nach dem macht, was der Komponist gewollt hat, dann gilt es vieles zu berücksichtigen, was er so alles gemacht hat - eine plane Reduktion auf ein einziges (und dazu dynamisch ärmliches) Instrument kann da nicht vollständig genügen - - bedenke: du erklärst erst, dass das WTK für Cembalo komponiert sei und dann erklärst du die Möglichkeiten dieses Instruments, und danach kommst du darauf zu sprechen, was der Komponist will: das liest sich so, als dürfe man auf dem Klavier nicht dynamisch spielen... die Gründe dafür, dass das keine gute Idee wäre, hatte ich ja wenigstens angedeutet.
 

Mal ganz zu schweigen davon, daß Bachs Hausinstrument das Clavichord gewesen ist,
das zwar keine Klangfülle hat, dafür aber feinste dynamische Abstufungen erlaubt.
 
Ich bin ein bisschen verwundert, dass hier offenbar große Einigkeit darin besteht. Die Information, wer der Komponist ist, scheint unabdingbar und wenn aus irgendwelchen Gründen nicht greifbar dann bleibt uns das Werk ein "Rätsel".

Verrät uns denn die Musik so wenig, dass wir den Hinweis brauchen: Komponist, Epoche, Stil, Aufführungstradition,...

Stilblüte war immerhin der Meinung, man erkenne ohnehin die Top10 Komponisten an ihrem individuellen Stil. Mich interessiert, was mit dem Namen des Komponisten noch alles für Gedanken und Gefühle Einzug halten. Wir alle kennen ja gewisse Zuordnungen: Beethoven ist heroisch, Mozart nicht dramatisch, Spieldosenmäßig, Chopin poetisch, Bach logisch/mathematisch etc
Diese Zuordnungen sind allgemein bekannt (nicht an-erkannt). Was ich wissen wollte, ist, ob wir uns von diesen Vor-Urteilen frei machen können und welchen Gewinn unsere Auseinandersetzung mit Musik dadurch erhalten würde.

lg marcus
 
Was ich wissen wollte, ist, ob wir uns von diesen Vor-Urteilen frei machen können und welchen Gewinn unsere Auseinandersetzung mit Musik dadurch erhalten würde.
Ich weiß ja nicht, was die Profis machen, aber mich juckt es immer in den Fingern, Stücke "anders" zu spielen, als die "Lehrmeinung" das vorgibt. Für mich ist das stets ein Gewinn - obs dem Stück gut tut, mag getrost bezweifelt werden. Aus meiner bescheidenen Anfängerhistorie muss ich aber feststellen, dass sich Bach vehement gegen solche Experimente sperrt (bzw. mein Können nicht ausreicht). Ich werte das bislang auch als Indiz für den herausragenden Genius von JSB.
 
Was ich wissen wollte, ist, ob wir uns von diesen Vor-Urteilen frei machen können und welchen Gewinn unsere Auseinandersetzung mit Musik dadurch erhalten würde.
zwischen Hörerwartung(en) z.B. aufgrund von Hörerfahrungen und indiskutablen Vorurteilen ist doch ein gehöriger Unterschied... und falls ein wenig mehr als punktuelles Wiki-Wissen vorhanden ist, dann stellt sich die Frage nach dem Gewinn erst gar nicht ;) D)
 
Verrät uns denn die Musik so wenig, dass wir den Hinweis brauchen: Komponist, Epoche, Stil, Aufführungstradition,...

Stilblüte war immerhin der Meinung, man erkenne ohnehin die Top10 Komponisten an ihrem individuellen Stil. Mich interessiert, was mit dem Namen des Komponisten noch alles für Gedanken und Gefühle Einzug halten. Wir alle kennen ja gewisse Zuordnungen: Beethoven ist heroisch, Mozart nicht dramatisch, Spieldosenmäßig, Chopin poetisch, Bach logisch/mathematisch etc
Diese Zuordnungen sind allgemein bekannt (nicht an-erkannt). Was ich wissen wollte, ist, ob wir uns von diesen Vor-Urteilen frei machen können und welchen Gewinn unsere Auseinandersetzung mit Musik dadurch erhalten würde.


Lieber marcus,

wenn ich ganz ehrlich antworte, halte ich von solchen Zuordnungen überhaupt nichts. Das finde ich sehr, sehr eindimensional. Du hast ja auch schon in weiser Voraussicht geschrieben "nicht anerkannt"! :p

Richtig ist m.M.n., dass wir fast immer vergleichen. Ein neues Stück also mit den bisherigen Hör-, Spielerfahrungen etc. in Beziehung setzen.

Aber ich habe wirklich noch nie gedacht, dass Beethoven heroisch, Chopin poetisch ....... ist. Es gibt doch so viele unterschiedliche Stücke von den einzelnen Komponisten! Ich wäre ja als Komponist geradezu beleidigt, wenn man mich in solch eine Schublade einzusortieren suchte! :p

Mir geht es immer um das Stück. Was steckt drin, was könnte drinstecken, wie entwickelt es sich auch im Rahmen meiner Arbeit mit ihm, welche Anteile möchte ich hervorheben, was höre ich!

Und da gibt es bei Beethoven soviel Poesie und bei Chopin soviel Dramatik, um mal bei dem Beispiel zu bleiben!

Natürlich sind wir alle von einem gewissen Zeitgeist geprägt. Heute wird z.B. auf Werktreue mehr Wert gelegt als noch vor über 100 Jahren.

Aber nehmen wir einfach mal ein unbekanntes Werk. Z.B. Gomez' Lied ohne Worte oder seine Ragtimes (Blues-Faden). Da kann es natürlich sein (was ich nicht hoffe :p), dass ich den Komponisten völlig missverstehe und z.B. ein ganz anderes Tempo wähle als er sich vorgestellt hat (langsam und langsam können ja trotzdem verschieden langsam sein).

Allerdings glaube ich es nicht. Denn ich finde es in dem von mir gewählten Tempo schön und richtig, was auch mit eigenen Erfahrungen zu tun hat. Anfänger haben oft Schwierigkeiten, ein ihnen unbekanntes Stück selbständig zu erfassen, weil sie noch nicht viel kennen.

Je erfahrener ich werde, desto mehr (hoffentlich :p ) prägt sich mein musikalischer Horizont, desto mehr habe ich ein Gespür für Phrasen und Entwicklungen (ebenfalls hoffentlich).

Meine Idee vom Stück muss trotzdem nicht mit der des Komponisten kompatibel sein. Die sind aber meistens nicht dogmatisch veranlagt und lassen sich vielleicht auch mal gern überraschen.

Bei ganz neuer Musik fehlt oft diese Erfahrung ( auch bei mir) und deshalb wird sie oft von Leuten und Ensembles aufgeführt, die schon viel Erfahrung diesbezüglich mitbringen.

Liebe Grüße

chiarina
 
Ich weiß ja nicht, was die Profis machen, aber mich juckt es immer in den Fingern, Stücke "anders" zu spielen, als die "Lehrmeinung" das vorgibt. ... muss ich aber feststellen, dass sich Bach vehement gegen solche Experimente sperrt

ich muß gestehen, ich bin schon auf dem allerbesten Weg, der 1. Invention teilweise eine eigene Phrasierung und Betonung aufzuprägen - sofern das leidige Können das zuläßt. Ich muß immer noch an die Antwort pppetc's denken, auf meinen Faden "Heißt Interpretieren - spielen wie man will?" - kurz und bündig: "jeder wie er kann".
Das hat mich damals sehr nachdenklich gemacht und tut es auch jetzt unvermindert noch. Ist die ganze Arbeit, die ich mir momentan mache, für die Katz', weil sich das Ergebnis als unbrauchbar präjudizieren läßt??
Wie weit geht Werktreue, und wie und wann überschreitet man die Grenze zum "musikalischen Blödsinn" bei dem, was man tut...?

Bedeutet:

je erfahrener ich werde, desto mehr (hoffentlich ) prägt sich mein musikalischer Horizont, desto mehr habe ich ein Gespür für Phrasen und Entwicklungen (ebenfalls hoffentlich).

Meine Idee vom Stück muss trotzdem nicht mit der des Komponisten kompatibel sein. Die sind aber meistens nicht dogmatisch veranlagt und lassen sich vielleicht auch mal gern überraschen.

, daß - auf das saloppeste ausgedrückt - wenn man's hat (die Musikalität), die musikalische Beschäftigung mit einem Stück meist zu einem erwähnenswerten Ergebnis führen wird? (sofern man nicht durch mangelhafte Technik patzt)

Gruß, Dreiklang
 
Ich bin ein bisschen verwundert, dass hier offenbar große Einigkeit darin besteht. Die Information, wer der Komponist ist, scheint unabdingbar und wenn aus irgendwelchen Gründen nicht greifbar dann bleibt uns das Werk ein "Rätsel".

Also, wenn Du genau liest, wirst du feststellen, daß ich just das nicht geschrieben habe. Ich habe geschrieben, daß im Falle der Umöglichkeit der Rekonstruktion des üblicherweise bereitgestellten Vorwissens uns ein Stück Literatur oder Musik ein Rätsel bleibt. In der Praxis läßt sich aber dieser "Erwartungshorizont" auch ohne "Programmangaben" aus dem Werk rekonstruieren. Allerdings liegt dann der Fokus notwendigerweise zunächst auf dieser Rekonstruktion und nicht auf der ästhetischen Aussage eines Stücks.
Derlei war übrigens auch in der griech. Antike schon wohlbekannt: Während man bei Aufführungen von Tragödien ("Musikdrama", nebenbei bemerkt) durch die bloße Vorabnennung des (allgemein bekannten) mythischen Sujets den Erwartungshorizont des Zuschauers konstituieren konnte, bedurfte es bei der Komödie mit ihren frei erfundenen Handlungen einer ausführlicheren Vorabinformation (im Rahmen eines sog. "Proagon"), um sicherzustellen, daß sich der Zuschauer auf die ästhetische und satirische Qualität des Stücks konzentrieren konnte und sich nicht in Spekulationen über den Gang der Handlung verlieren mußte.

Im übrigen scheint mir die Anwendung der Fragestellung auf irgendwelche "top tens" wenig sinnvoll, da bei Repertoirestücken hier das Vorwissen des (interessierten) Hörers ja immer gegeben ist.

Friedrich
 
Zuletzt von einem Moderator bearbeitet:

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