Ohne Virtuosität wäre es leider ziemlich langweilig in der (Klavier-)Musik. Dann gäbe es keine
- klanglich sehr komplexe (durchaus langsame) Musik, die eine sehr differenzierte
Anschlagskultur erfordert
- keine schnellen Skalen/Arpeggien
- keine Polyrhythmik
- keine schnellen Oktaven
- keine Triller und Verzierungen
- keine polyphonen Geflechte
- keine massiven Sätze (Akkordfortschreitungen...)
- etc. etc. etc.
Die vielen Arten von Virtuosität bereichern also die Ausdrucksvielfalt von Musik, ohne sie ist Musik schlicht nicht vorstellbar. Musik lebt von Kontrasten, von Vielschichtigkeit und Lebendigkeit und deshalb ist Virtuosität in allen Stilen und in der Klaviermusik von Bach bis heute überall anzutreffen.
Diese Virtuosität wird in den Klavierwerken, die aufgrund ihrer Qualität sich in der Musikgeschichte durchgesetzt haben, nie zum Selbstzweck, sondern hat immer einen musikalischen Sinn und Ausdruck. In Vollendung ist dies z.B. in den Etüden von Chopin erkennbar, die höchst virtuos sind, aber ein Wunderwerk an poetischem Ausdruck und Klangkunst. Dort wird Virtuosität auch immer kombiniert - in op. 25,1 z.B. mit einer wunderbar anrührenden Melodie, die ihre Ausdruckskraft auch durch die sie färbende Harmonien erhält. Die harfenähnlichen Arpeggien, die das virtuose Element der Etüde darstellen, geben der Etüde dann ihren besonderen Klang (wobei ich mich schwer tue, Virtuosität so zu trennen: es braucht auch große Virtuosität, die Melodie schön zu spielen).
Leer wirkt Virtuosität dann, wenn ein musikalischer Ausdruck, Sinn und Zweck nicht zu erkennen ist - spielt man einem Publikum Hanon so schnell wie möglich vor oder eine Aneinanderreihung von Skalen in Tonika, Subdominante, Dominante, wird es nicht lange Publikum bleiben. :D
Die Komponisten haben also Elemente in ihren Werken verwendet, die eine Steigerung und Vertiefung des musikalischen Ausdrucks zum Zweck haben und vom Pianisten hohes technisches Können erfordern.
Ich weiß nicht genau, warum gerade bei Pianisten Virtuosität eher als bei anderen Instrumenten angeprangert wird. Ich kann nur vermuten:
- das Klavier ist das Instrument, bei dem man die meisten Töne (gleichzeitig) spielen kann. Schnell und laut klappt da am besten. :p Das kann dazu verführen, eher auf die Quantität als auf die Qualität zu achten. Die besten Pianisten haben so große technische Möglichkeiten, sind also in der Beherrschung ihres Instruments so virtuos, dass sie Klänge hervorzaubern können, von denen Normalsterbliche nur träumen können. Ihr Ausdruckspotential, die Tiefe und Bandbreite ihrer Erzählkunst steht dem aber nichts nach. Diese Balance ist nicht bei allen Pianisten gegeben: manche sind technisch sehr begabt, haben aber musikalisch/künstlerisch nicht so viel zu sagen. Da ist es einfacher bzw. man merkt es nicht so :p , vorrangig virtuose Stücke zu spielen. Viele Pianisten strömen auf den Markt, die enorme technische Möglichkeiten haben, denen aber die entsprechende künstlerische Aussage fehlt.
- schon in der Romantik beklagten Schumann und andere, dass das Klavier dazu benutzt wurde, die reine Artistik an minderwertiger Musik zu demonstrieren, Virtuosität also nicht als musikalisches Mittel zu benutzen, sondern als Mittel, die eigenen pianistischen Fähigkeiten vorzuführen. Vielleicht sind das heute noch Relikte?
Auf jeden Fall bin ich verdammt froh, dass es Virtuosität gibt. Auch wenn ich solche Stücke leider nicht spielen kann, ist es ein Erlebnis ohnegleichen, gut gespielt z.B. "Scarbo" oder "Mazeppa" zu hören. Da kriege ich Gänsehaut!
Liebe Grüße
chiarina
P.S.: hier noch ein Artikel zum Thema:
http://www.sim.spk-berlin.de/uploads/03-forschung-praxis/simpk_kub01_gegenstand.pdf