Interessant wäre es mal, die folgenden Fundstücke aus dem Netz zu vergleichen; in allen drei Fällen sind die Bearbeiter gewissermaßen in eigener Sache aktiv. Den Einspielungen ist zunächst eines gemeinsam: Keine kommt in einem besonders schleppenden Zeitmaß daher, der musikalische Ablauf strömt ruhig und organisch - übrigens greift auch Walter Gieseking auf das Hess-Arrangement zurück.
Harold Bauer, 1928:
Harold Bauer plays Bach / Bauer "Jesu, Joy of Man's Desiring" - YouTube
Wilhelm Kempff, 1955:
Bach - W. Kempff (1955) -Chorale 'Jesus bleibet meine Freude' from Cantata BWV147 - YouTube
Myra Hess, 1958:
Myra Hess Plays Jesu,Joy of Man's Desiring and Scarlatti - YouTube
Was ist über die Tempofrage hinaus bei der Bewertung einer Interpretation dieser Klaviertranskription von Bedeutung? Etwas ganz Wesentliches: Drei durchlaufende Schichten werden miteinander verklammert, müssen aber in ihrer Eigenständigkeit erkennbar bleiben, als spielte man den Satz nicht auf dem Klavier, sondern auf zwei unterschiedlich registrierten Orgelmanualen plus Pedalklaviatur. Der Organist wählt seine Registrierung sorgfältig und beginnt auf der nicht anschlagsdynamisch variablen Tastatur zu spielen. Der Pianist muss hingegen perfekte klangliche Qualität bei jedem einzelnen Ton durch tadellos beherrschte Anschlagsqualität gewährleisten, die er minutenlang konsequent durchzuhalten hat. Diese Aufgabe ist keineswegs leichtfüßig zu erledigen: Es dürfen die Oktaven der linken Hand beispielsweise nicht Vollgriffigkeit vorspiegeln, als ob man einen Brahms-Satz spielen wollte, vielmehr soll die flüssig-unspektakuläre Ausführung auf der Orgel als Vorbild dienen: Der Organist spielt diese Baßlinie einstimmig, nachdem er ein eher leises 8'- mit einem ebenfalls eher leisen 16'- Register ausgewählt hat. Übrigens hat sich Wilhelm Kempff ebenfalls als Organist betätigt und möglicherweise in dieser Hinsicht einen gewissen Vorteil gegenüber den beiden anderen "Mitstreitern", deren Aufnahmen ich ebenfalls ausgewählt habe und deren anschlagsspezifische Qualität außer Frage steht. Wollte man mit Max Reger einen weiteren Komponisten erwähnen, der sehr orgelspezifisch gedacht hat und dessen Klavierwerk relativ wenig beachtet wird, könnte man nach den Gründen für die fehlende Popularität desselben fragen. Ich denke, dass ein schlankeres, klassischeres, weniger die Vollgriffigkeit betonendes Interpretieren manches der Werke in ein günstigeres Licht setzen könnte. Bei Baßlinien in Oktaven würde das bedeuten: Mehr Daumen und weniger Gewicht in die Dauerspannung zwischen 1. und 5. Finger legen.
Warum diese Exkurse in Richtung Orgelspiel und spätromantischem Klaviersatz? Weil in diesem Zusammenhang die Bedeutung von Transparenz und Durchhörbarkeit sehr deutlich wird. @pianovirus: Eine klangschöne, warme, organisch fließende Darbietung bei absolut plausibler Tempowahl, gefällt mir gut. Dennoch könnte das Verhältnis zwischen der thematisch maßgeblichen Mittelstimme und der triolisierenden Oberstimme anschlagstechnisch noch optimiert werden. Die rechte Hand müsste demnach etwas leiser beginnen, damit die Mittelstimme sich im Satzbild nicht durchsetzen braucht, weil sie einfach von Anfang an die Präsenz hat. Oftmals habe ich erst kurz nach dem Stimmeneinsatz den Eindruck, nun endlich die Führungsstimme zu hören. Die Positionierung einer Stimme im Satzbild muss absolut klar sein,
bevor überhaupt ihr erster Ton erklingt. Ein Abstimmungsbedarf zwischen den drei Schichten darf sich nicht hörbar während des Spielens vollziehen - und das ist keineswegs leicht zu realisieren, wie auch die meisten Videos im Netz erkennen lassen. Völlig richtig, dass die 1947 entstandene Einspielung von Dinu Lipatti diese Problematik souverän meistert, woran auch die schlechte Klangqualität der Aufnahme nichts ändert:
Dinu Lipatti plays Bach-Hess Chorale "Jesu Joy of Man's Desiring", rarer 1947 version - YouTube
Ansonsten Kompliment an pianovirus und weiter so!
LG (und schöne Feiertage) von Rheinkultur