Vorsicht mit dem Metronom!

  • Ersteller des Themas pianovirus
  • Erstellungsdatum

pianovirus

pianovirus

Dabei seit
25. März 2014
Beiträge
875
Reaktionen
1.889
Liebes Forum,

wenngleich unserem tickenden Weggefährten schon zahlreiche leidenschaftliche Diskussionen gewidmet wurden, so befürchte ich dennoch, dass auf ein ebenso weitverbreitetes wie folgenschweres Missverständnis, die Tempovorstellungen von Komponisten bis etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts betreffend, oder vielmehr auf dessen Vermeidung, noch niemals zuvor hingewiesen wurde, weshalb ich ohne weitere Umschweife folgenden Sachverhalt Eurer geneigten Aufmerksamkeit empfehlen möchte.

Die Dinge verhalten sich nämlich dergestalt, dass vor jener oben erwähnten wortwörtlichen Zeiten-"Wende" sämtliche metronomischen Angaben sich mitnichten auf "tick", sondern immer auf "tick-tack" beziehen; damit ist eigentlich alles gesagt.

Bitte berücksichtigt dies beim Üben.

Viele Grüße,
pianovirus

Zur weiteren Information:


Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, die überlieferten Metronomzahlen seien zumeist metrisch gemeint: das Metronompendel muss bei Einstellung auf die angegebene Zahl in dem notierten Wert hin- und zurück schlagen. Es sind dann zwei „Ticks” zu hören, wo nach dem mathematischen Verständnis nur ein „Tick” richtig wäre. Es wird also die Vollschwingung des Pendels (1 Hin- und Zurückbewegung) der Tempobestimmung zugrunde gelegt. Das Ergebnis legt zunächst die Hälfte der heute üblichen und für bisher authentisch gehaltenen Geschwindigkeit nah.
Für Komponisten, die schlecht oder gar nicht hörten, dürfte es überdies nahe liegender gewesen sein, sich nach der sichtbaren Pendelbewegung zu orientieren, und nicht nach den (un-)hörbaren Ticks.

So lässt es sich beispielsweise erklären, warum falsch interpretierte Metronomzahlen viele Werke der Klassik und Frühromantik entweder als völlig unspielbar erscheinen lassen oder statt das ästhetische und menschliche Empfinden den sportiven instrumentalen und sängerischen Exzess als musikalisches summum bonum vorzustellen scheinen.

[...]

Noch ein zu klärendes Missverständnis: in Wirklichkeit wird heutzutage oft gar nicht “doppelt zu schnell” gespielt (wie es die Tempo-Giusto-Praxis impliziert) - weil nämlich wörtlich genommene Metronomzahlen schlicht unspielbar wären. Das ist natürlich kein Argument gegen die Tempo-Giusto-Praxis, sondern gegen die naive Vorstellung, die aktiven und passiven menschlichen Fähigkeiten im Hinblick auf Velocität seien unbegrenzt.

Es soll in Velocistan Leute geben, die an einer Etüde von Liszt oder Chopin nicht nur stunden- sondern buchstäblich tagelang üben, um die möglichste Rasanz zu erringen. Und sie verlieren darüber ihr eigenes Leben und das Verständnis und Wohlwollen ihrer Zuhörer. Hier ist Irren unmenschlich!​
 
Dein Beitrag ist für meine Anfängerseele wie Öl, das den Rücken runterläuft!

Herrlich, ich spiel doch gar nicht so langsam...
 
Die "Tempo giusto"-Theorie, nach der sich die Metronomangabe auf die ganze Pendelbewegung (nämlich auf das Hin- und Zurück des Metronomzeigers) bezieht, wäre für den Klavier-Amateur eine angenehme Argumentationshilfe (wenn sie denn doch mal langsam spielen wollten!). Leider läßt sich die Theorie, die Clemens von Gleich, Taalsma und Grete Wehmeyer aufgestellt haben (wonach schnelle Stücke im halben Tempo, langsame Stücke aber "schneller" zu spielen seien), durch die musikhistorischen Quellen nicht belegen. Ganz im Gegenteil: Es gibt u.a. zeitgenössische Angaben zur Aufführungsdauer von Beethoven-Sinfonien, die nahelegen, daß zu Beginn des 19. Jahrhunderts insgesamt doch recht flott musiziert wurde. Andererseits beklagt sich Brahms, daß Clara Schumann alles und immer zu schnell spiele ...

Die Tempo- und Metronom-Diskussion bleibt ein weites Feld. Zu klären wäre unter anderem, wann die fatalen Metronom-Tempo-Relationen auf den Metronomen selbst erstmals auftauchen. In dem Augenblick, wo solche Angaben auf Metall eingebrannt oder lackiert sind, erhalten sie den Charakter einer unverbrüchlichen Wahrheit. Da kann sich jeder Klavierlehrer den Mund fusselig reden ...

Zu diskutieren wäre neben dem Kriterium des Spielbaren auch der Aspekt des Hörbaren: Welche Details kann der Hörer in welchem Tempo noch wahrnehmen? Und warumn sollte sich der Komponist die Mühe machen, all die Staccato-Punkte, Akzentzeichen und Legatobögelchen akribisch zu notieren, wenn nachher doch alles in einem Klangrausch untergeht ...
 
Die "Tempo giusto"-Theorie, nach der sich die Metronomangabe auf die ganze Pendelbewegung (nämlich auf das Hin- und Zurück des Metronomzeigers) bezieht, wäre für den Klavier-Amateur eine angenehme Argumentationshilfe (wenn sie denn doch mal langsam spielen wollten!). Leider läßt sich die Theorie, die Clemens von Gleich, Taalsma und Grete Wehmeyer aufgestellt haben (wonach schnelle Stücke im halben Tempo, langsame Stücke aber "schneller" zu spielen seien), durch die musikhistorischen Quellen nicht belegen. Ganz im Gegenteil: Es gibt u.a. zeitgenössische Angaben zur Aufführungsdauer von Beethoven-Sinfonien, die nahelegen, daß zu Beginn des 19. Jahrhunderts insgesamt doch recht flott musiziert wurde. Andererseits beklagt sich Brahms, daß Clara Schumann alles und immer zu schnell spiele ...
Neben dem erst hin und dann her schwingenden Pendel beim Metronom gibt es weitere bildhafte Umschreibungen, auf die auch Weller auf seiner Homepage Bezug nimmt, darunter der Wechsel zwischen Aufwärts- und Abwärtsbewegung, etwa beim Dirigat zu beobachten: Eine Aufwärtsbewegung kann erst folgen, wenn ihr eine Abwärtsbewegung vorausgegangen ist und umgekehrt. Damit gelangt man allerdings zu einer Mischung aus Binsenweisheit und Fehlschluß: Wird dieser Bewegungsablauf mit dem Fuß ausgeführt, um das Metrum akustisch zu markieren, sind immer zwei Einzelelemente erforderlich. Ohne das Aufheben der Fußsohle ist das hörbare Aufschlagen auf dem Fußboden ja nicht möglich.

Aus den Jahren um 1890 sind die ersten Einspielungen von klassisch-romantischem Repertoire überliefert. Unabhängig von der archaischen Tonqualität sind aus der Verbindung von Wiedergabetempo des Tonträgers und Grundtonart des aufgezeichneten Werkes die gewählten Spieltempi sehr wohl zu ermitteln. Wenn aufgrund der begrenzten Aufzeichnungszeit Eingriffe in den Notentext erforderlich wurden, erfolgten diese in der Regel durch Kürzungen und nicht durch entstellende Tempobeschleunigung. Eine von der heutigen Spielpraxis so grundlegend abweichende Tempoauffassung ist mit diesen Dokumenten beim besten Willen nicht belegbar. Viele der seinerzeit aktiven Interpreten haben ihre künstlerische Ausbildung in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts absolviert unter Anleitung von Persönlichkeiten, die ihrerseits Zeitzeugen des späten achtzehnten Jahrhunderts waren. Auch wenn deren interpretatorische Ansätze nicht akustisch dokumentiert sind: Es spricht die im Vergleich zu heutigen Instrumenten deutlich kürzere Nachschwingdauer der Klaviersaiten eher gegen ein deutlich langsameres Musizieren im Zeitalter des Hammerflügels. Die sich dann ergebenden akustischen "Lücken" mit Spannung und Dynamik zu füllen, das wäre eine alles andere als leichte Aufgabe.

Unterschiedliche Tempoauffassungen gab es zu allen Zeiten und es wird sie weiterhin immer geben. Sinnvoller wäre es, nach der (natürlich subjektiven) Tempoempfindung zu forschen. Es nützt niemandem etwas, wenn man ein als unpassend und nicht angemessen empfundenes Grundtempo mit einer Metronomzahl belegen kann - die Darbietung überzeugt trotzdem nicht. Unangemessenes wird durch Rationalisierung auch nicht gelungener. Die Tempo-Giusto-Befürworter haben mit der einen oder anderen Einspielung ihre Auffassung dokumentiert:



Ich kann mir nicht helfen, diese Irrlichter flackern zu langsam, um illusionistisch herüberzukommen. Ein Zaubertrick in Zeitlupe, bei dem jede Schlafmütze im Publikum sehen kann, wie die Wirkungsweise des "Kunststücks" angelegt ist - aber gerade die Intransparenz ist doch eigentlich zentrales Element von Magie und Zauberkunst:



Da überzeugt mich eher die Tempowahl des Liszt-Schülers in dieser Aufnahme hier:



LG von Rheinkultur
 
Ähm... nee... wer mal eine Minute nachdenkt, stellt fest, dass obige Theorie sehr leicht zu durchschauender Quatsch ist.

Denn man kann ja leicht ein Metronom aus dem 19. Jahrhundert hernehmen und schauen, was passiert, wenn man es z.B. auf "100" stellt.

Dann wird es nämlich 100x in der Minute ticken und nicht etwa 100x in der Minute hin-und herpendeln!

Es ist klar, dass die Zahlenwerte bedeuten "pro Minute", alles andere wäre ja auch merkwürdig ("pro 2 Minuten"? Never!).

Hätte man sich damals auf das Hin-und-Her als Zähleinheit konzentriert, so hätte man auch die Zahlenwerte anders angelegt!

Also war von Anfang an eindeutig die Zähleinheit "Ticks pro Minute".

Alles andere ist lediglich das Ergebnis überschäumender Phantasie von Leuten, die entweder nicht schnell spielen können oder nicht wissen, wie man ein schnelleres Tempo zum schlüssigen Erklingen bringt oder irgendwie Fans langsamer Tempi sind (und nicht logisch denken können). :-D:-D
 
Es ist ja lobenswert, dass Ihr Euch dem Thema in so ernsthafter Weise widmet.

Angesichts der Tatsache, dass die Erkenntnisse unter dem Link "Geheimes Musik-Wissen" zu finden sind, der Urheber sich selbst auf der Website als "der Pianist mit dem derzeit wohl größten und einem zugleich stilistisch weitgefächerten Repertoire" anpreist, sind schon einmal a priori Zweifel an der Seriosität der "Forschungen" angebracht. Ein kurzer Blick in die Berichte der "vielbeachteten internationalen Musikkongresse" ändert diesen Eindruck nicht wirklich. Wenn da etwa von einem "verborgenen Code" die Rede ist, der geknackt wurde, zitiert wird mit der Angabe "Reclam...", ist man doch eher an Schülerzeitung als an Proceedings einer internationalen Konferenz erinnert.

Ich kann sowieso nicht nachvollziehen, woher diese Obsession für Tempovorgaben kommt... Ich hatte eigentlich erwartet, in den Proceedings noch einen Artikel von "Bachscholar" zu lesen.... ;-)

W.s Feux Follets sind wahrhaft...originell.. rofl!!!! :cry2::cry2:
 
Zuletzt bearbeitet:
Alles andere ist lediglich das Ergebnis überschäumender Phantasie von Leuten, die entweder nicht schnell spielen können oder nicht wissen, wie man ein schnelleres Tempo zum schlüssigen Erklingen bringt oder irgendwie Fans langsamer Tempi sind (und nicht logisch denken können). :-D:-D
Es klingt sehr plausibel, dass so mancher spieltechnisch limitierte Pianist sich nicht einfach mit seinem Unvermögen abfindet, sondern den Versuch des Rationalisierens anstellt. Das Metronom sollte durch akustische Impulse (also das hörbare Ticken) einerseits das Spiel in konstantem Tempo fördern, andererseits das Finden eines gemeinsamen Nenners bei der Bestimmung eines Grundtempos ermöglichen. Beides gelingt mit diesem Hilfsmittel nur in einem sehr begrenzten Umfang: Mechanistisch getaktetes Spiel ist nicht dasselbe wie organisches Musizieren in kontrollierter Tempoführung.

Im Falle der mit einem bildhaften Titel versehenen Liszt-Etüde ist eine bestimmte klangliche Charakteristik präsent, die der Liszt-Schüler Friedheim mit seiner Tempowahl und Spielweise trifft. Dass dieser nach Ableben seines Meisters schlagartig oder zumindest zeitnah eine völlig andere Tempoauffassung in doppelter Geschwindigkeit vertreten sollte, halte ich für doch sehr abwegig. Für optische bzw. akustische Illusionen/Täuschungen sind Augen und Ohren erforderlich, deren anatomische Struktur sich mit Sicherheit nicht innerhalb weniger Jahre so grundlegend ändert, dass man kurz zuvor mit der halben Geschwindigkeit der Abläufe die gleiche illusionistische Wirkung erreicht hätte. Andere Interpretationen späteren Datums befinden sich in der Spielgeschwindigkeit auf Augenhöhe mit der des Liszt-Schülers, mechanische Einspielungen wie die Aufnahme mit Ferrucio Busoni sind allerdings mit Vorsicht zu genießen:



Hinsichtlich der Manipulierbarkeit einer in eine Rolle gestanzten Interpretation sind diese Dokumente austauschbar wie ein neuzeitliches MIDI-File: Einerseits konnten nach Belieben Töne ausgetauscht werden, andererseits waren Ungenauigkeiten bei der Stanzung ebenso nicht unwahrscheinlich - und die Wiedergabegeschwindigkeit war variabel und/oder mit der bei mechanischen Apparaturen nicht ungewöhnlichen Unbeständigkeit behaftet. Da das konventionelle Metronom ebenfalls eine mechanische Apparatur ist, sind Mängel in der Präzision der Abläufe ebenfalls nicht auszuschließen. Der Ersteller dieses Fadens hat schon recht mit der These, dass beim Umgang mit diesem "Hilfsmittel" Vorsicht geboten ist.

LG von Rheinkultur
 
Das Metronom sollte durch akustische Impulse (also das hörbare Ticken) einerseits das Spiel in konstantem Tempo fördern, andererseits das Finden eines gemeinsamen Nenners bei der Bestimmung eines Grundtempos ermöglichen.
Präzisierung in eigener Argumentation: Das Metronom soll als Spielhilfe fungieren. Da die Aufmerksamkeit des Spielers auf Erfassung und Verständnis des zu interpretierenden Werkes und dessen Übertragung auf die Tastatur gerichtet ist, sollten die akustischen Impulse dieses Hilfsmittels (also das Ticken selbst) genügen. Wer die optische Differenzierung durch das Hin- und Herschlagen des Pendels benötigt, müsste einen beträchtlichen Teil seiner visuellen Leistung auf die Spielhilfe, also das Metronom übertragen. Dieser Teil der Aufmerksamkeit fehlt bei der eigentlichen Einstudierung des Werkes. Streng genommen dient dann das Metronom zur Bewältigung von Problemen, die man ohne selbiges nicht hätte...!

LG von Rheinkultur

P.S.: Ich stelle mir gerade vor meinem unkörperlichen Auge einen Pianisten vor, der angespannt auf sein Metronom starrt, um herauszufinden, ob das Pendel gerade hin- oder herschlägt. Und womit soll er dann auf die Noten oder bei großen Positionsveränderungen/Sprüngen dann auf seine Hände oder auf die Tastatur schauen? Mit den Hühneraugen etwa? Selten so gelacht...!
 
Rolf wird vermutlich auch eher einen intelligenten (verstehenden und verständigen) Umgang mit dem Metronom bevorzugen. Diesen Apparat stundenlang oben auf dem Flügel mitticken lassen in der Hoffnung, zum ersten Mal in seinem Leben rhythmisch stabil spielen zu können - das wird er wohl kaum nötig haben.

Mauricio Kagel zitierte einst nach Erik Satie: "Der Kauf eines Metronoms ist unabdingbar. (...) Aufpassen, dass es gut funktioniert! Denn es gibt Metronome, die verkehrt herum funktionieren - wie Narren. Es gibt sogar welche, die überhaupt nicht funktionieren. Das sind keine guten Metronome...". Leider ist mir die parodistisch angehauchte Quelle entfallen. György Ligeti hat einst sogar mal ein ganzes Orchester aus Metronomen formiert, auch sehr unterhaltsam:



LG von Rheinkultur
 
Leider läßt sich die Theorie, die Clemens von Gleich, Taalsma und Grete Wehmeyer aufgestellt haben (wonach schnelle Stücke im halben Tempo, langsame Stücke aber "schneller" zu spielen seien), durch die musikhistorischen Quellen nicht belegen.
zu schweigen davon, dass diese "Theorie" (des halbierten Tempos bzw. tick-tack) ins schwitzen gerät, wenn man z.B. Chopins f-Moll Etüde nebst Metronomangabe... so 3er- und 6er- und 9ertakte mit Vorschriften wie punktierte Irgendwas = 100... :-D (wer´s nicht glaubt, spiele einen 6/8takt und lasse das Metronom exakt zweimal auf jedem punktierten Viertel ticken) :-D
 


Zweites Internationales Tempo-Giusto-Symposion 2011-2013 in Öpfingen:

Kongreßbericht

Parallel zu den Öpfinger Schloßkonzerten der Jahre 2011, 2012 und 2013 fand das zweite Internationale Tempo-Giusto-Symposion statt. Das Symposion war geprägt von dem Willen, sich nach den vorangegangenen Treffen jetzt den Prolegomena zur Einführung in den Versuch einer ersten Standortbestimmung wenn schon nicht unmittelbar anzunähern, so doch ihre Möglichkeit auch nicht völlig auszuschließen (falls der knapp bemessene zeitliche Rahmen es zuließe und wichtige Nebenaspekte der Propädeutik dabei nicht aus dem Blickwinkel gerieten).

Wegen der verzögerten Anreise fehlte zu Symposionsbeginn leider ein Teil der Teilnehmer, wie Wolfgang Weller beklagte, der eigens aufgestanden war und auch sonst keine Mühe gescheut hatte, um vom Rednerpult aus ein Grußwort in den sich allmählich füllenden Saal hinein zu verlesen.

In den anschließenden Vorträgen konnten die früheren Erkenntnisse zum Tempo Giusto vorallem durch Belege aus den Nachbardisziplinen bestätigt werden.


Der Sprachwissenschaftler Bastian Sick erklärte, daß mit dem lateinischen „annus“ vermutlich ein Doppeljahr gemeint war, wenn nicht sogar ein noch viel größerer Zeitraum, wie es sich aus der Etymologie des Wortes ergibt: Schließlich bedeutet „annus“ nichts anderes als „Ring“ – ein Symbol für die Ewigkeit, nicht für die triviale Anhäufung von zwölf Monaten. Angaben zur Lebensdauer müßten also ganz neu interpretiert werden. - In seinem Filibuster-Vortrag führte der Zeitgeschichtler Guido Knopp vor Augen, wie sich die Beschleunigung aller Lebensbereiche auch in der Kriegsdauer bemerkbar macht: vom Hundertjährigen (14./15.Jahrhundert) über den Dreißigjährigen Krieg (17.Jahrhundert) bis hin zum Blitzkrieg unserer Tage. - Grete Wehmeyer konnte nachweisen, daß „Blitzkrieg Bop“ von den Ramones in Wirklichkeit viel langsamer dargeboten wurde, als die Wiedergabe des Songs auf Tonträgern vermuten läßt. Der Fehler habe sich im Tonstudio eingeschlichen, durch beschleunigte Abspielung des Masterbands. In Wirklichkeit seinen die Ramones – als Junkies – gar nicht fähig gewesen, so schnell zu spielen. Grete Wehmeyers mezzo-movimento-Version von „Blitzkrieg Bop“, in mitteltöniger Stimmung auf historischen Instrumenten gespielt, konnte denn auch zur Gänze überzeugen. Neutextiert als „Sitzblockade Pop“ könnte das Stück zur Hymne der gesamten Tempo-Giusto-Bewegung werden.

.
 
Zuletzt bearbeitet:
... herrlich! Als besonderen Respekt und Anerkennung für dieses einfallsreiche und plastische Textstück verzichte ich auf den möglicherweise nervenden Smiley "Lachanfall-Tischklatsch", der hier sehr wohl angebracht wäre...!

Vom annus horribilis zum annus mirabilis
Dreiklang
 
Die Dinge verhalten sich nämlich dergestalt, dass vor jener oben erwähnten wortwörtlichen Zeiten-"Wende" sämtliche metronomischen Angaben sich mitnichten auf "tick", sondern immer auf "tick-tack" beziehen; damit ist eigentlich alles gesagt.
http://www.wellermusik.de/Tempo_Giusto/tempo_giusto.html

Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, die überlieferten Metronomzahlen seien zumeist metrisch gemeint: das Metronompendel muss bei Einstellung auf die angegebene Zahl in dem notierten Wert hin- und zurück schlagen. Es sind dann zwei „Ticks” zu hören, wo nach dem mathematischen Verständnis nur ein „Tick” richtig wäre. Es wird also die Vollschwingung des Pendels (1 Hin- und Zurückbewegung) der Tempobestimmung zugrunde gelegt. Das Ergebnis legt zunächst die Hälfte der heute üblichen und für bisher authentisch gehaltenen Geschwindigkeit nah.

Für Komponisten, die schlecht oder gar nicht hörten, dürfte es überdies nahe liegender gewesen sein, sich nach der sichtbaren Pendelbewegung zu orientieren, und nicht nach den (un-)hörbaren Ticks.

[...]


Hi Tobi, ich hatte die Weller-Seite mir auch mal angeschaut. Und eigtl. sehr lange mich dort umgesehen, weil ich das, was ich las, als meditativ empfand - einfach mal zum Durchschnaufen.

Doch ob bzw. dass die Argumentationsketten evtl. nicht ganz schlüssig sind, ist ja hier auch aus den biesherigen Beiträgen ersichtlich..

hmm. Gefallen hat mir aber damals auf jeden Fall die zwar langsam gespielte, doch dafür exakte Etüde C-Dur op. 10,1 von Chopin. Damals hatte Weller sie irgendwo auf seinen Seiten eingebracht.

____________

Humoristisch betrachtet bleibt ja auch folgendes:

Die Unhörbaren Ticks gab es bestimmt auch bei hörenden Pianisten und Komponisten, denn wie oben angedeutet, gabs früher sog. "Fadenpendelmetronome", im Buch "So spiele und lehre ich Chopin" von H.K.H. Lange ist eins abgebildet. Das waren zum Teil große Dinger..stell mir grad vor, man kriegt aus versehen son ding ab ( blinde Pianisten müssten da schon genau hinschaun, wo sie das ding aufstellen! :-D)
Gomez, mit der "annus"-Theorie bin ich nicht einverstanden - Dein Text ist aber trotzdem hammer:super:

( ich bin deshalb nicht einverstanden weil Caesar ja dann nicht von 100 bis 44 gelebt hätte, sondern erst 12 nach Christus gemessert worden wäre - und das im beträchtlichen Alter von ungefähr 112. :-D Auch die Angaben, wann man als Heranwachsender usw. betrachtet wurde, ( Toga-bekleidung usw. ) wären dann erstaunlich! Und Vestalinnen-Diensteintrittsjahre, usw.)

LG, Olli!
 
Zuletzt bearbeitet:
Der Sprachwissenschaftler Bastian Sick erklärte, daß mit dem lateinischen „annus“ vermutlich ein Doppeljahr gemeint war, wenn nicht sogar ein noch viel größerer Zeitraum, wie es sich aus der Etymologie des Wortes ergibt: Schließlich bedeutet „annus“ nichts anderes als „Ring“ – ein Symbol für die Ewigkeit, nicht für die triviale Anhäufung von zwölf Monaten.

Hm ... ist der obengenannte vielleicht ein entschiedener Anhänger der mutwilligen Konsonantengeminierung? Anus "Ring" dürfte, mindestens bei Betrachtung in situ, unmittelbar einleuchten. Aber zur Etymologie annus "Ring" sagt schon Walde-Hofmann "verfehlt Vanicek" - das ist also so eine 19.-Jh.-Etymologie.

Danke für den unterhaltsamen Text!

Friedrich
 
Andere Interpretationen späteren Datums befinden sich in der Spielgeschwindigkeit auf Augenhöhe mit der des Liszt-Schülers, mechanische Einspielungen wie die Aufnahme mit Ferrucio Busoni sind allerdings mit Vorsicht zu genießen:



Hinsichtlich der Manipulierbarkeit einer in eine Rolle gestanzten Interpretation sind diese Dokumente austauschbar wie ein neuzeitliches MIDI-File: Einerseits konnten nach Belieben Töne ausgetauscht werden, andererseits waren Ungenauigkeiten bei der Stanzung ebenso nicht unwahrscheinlich - und die Wiedergabegeschwindigkeit war variabel und/oder mit der bei mechanischen Apparaturen nicht ungewöhnlichen Unbeständigkeit behaftet. Da das konventionelle Metronom ebenfalls eine mechanische Apparatur ist, sind Mängel in der Präzision der Abläufe ebenfalls nicht auszuschließen. Der Ersteller dieses Fadens hat schon recht mit der These, dass beim Umgang mit diesem "Hilfsmittel" Vorsicht geboten ist.

LG von Rheinkultur


Hi Rheinkultur,

mja, das ist wohl so... . Ich hatte vielleicht gedacht, dass man sich bzgl. Busoni an einer eventuellen Petri-Schallplattenaufnahme orientieren könnte zumindest hinsichtlich des beim "Busoni-File" m.E. im Rahmen anderer Aufnahmen liegenden Tempos ( das zügigste was ich auf die Schnelle gesehen hatte bei Feux Follets war 3:14, ansonsten tummeln sich alle so im Bereich von 3: 30 bis etwas über 4 min., Weller spielt nat. seiner Überzeugung gemäß langsamer, ABER m.E. nicht uninteressant.. -

jedoch fand ich von Petri kein Feux Follets ( zumindest nicht auf den ersten Blick ). Aufnahmenbibliographie hab ich jetzt aber noch nicht durchgesehen, nur YT gecheckt grob.

Hier noch Feux Follets Interpretationen:

Eine der von Rheinkultur genannten Friedheim-Interpretationen:



Hier Weller:



Hier Berezovsky, der sehr zügig ist:



Hier Cziffra:



Und Arrau, der ja auch in der Liszt - Tradition steht, bei ihm dauerts hier 4:27 Min. Versucht mal, ob Ihr das Video zum Laufen bringen könnt:

http://www.youtube.com/watch?v=eLpMxlXmrug

__________

Zu beachten ist natürlich, dass auch Videos nicht immer gleich bei 0 beginnen mit dem Sound, sondern es ja manchmal auch einige Sekunden dauert, bis das eigentliche Stück anfängt.

LG, Olli!
 
hübsches Ding. Nicht das Metronom.
 
Dreiklang jubiliert - "seine" Metronommethode wird geadelt. Was für ein Triumph!
:-)
 
Zum Thema "Vorsicht mit dem Metronom" eine aktuelle Kolumne aus Julia Fischers Geigenkasten, hier:

http://www.br.de/radio/br-klassik/s...ik-br-klassik-julia-fischer-metronom-100.html

Ein schöner Artikel. Und vollkommen richtig, was Frau Fischer dort erläutert. Einerseits die (geradezu unschätzbare) Hilfe beim Erlernen von Technik, andererseits aber auch die Grenzen des Metronoms.

Musikalische Gestaltung kann man natürlich nicht durch das Metronom erlernen. Dafür hilft: richtig, das Gefühl für Musik, das entwickelt werden muß.

Aber schön, daß eine Professorin an zwei deutschen Musikhochschulen so deutliche öffentliche Worte "pro Metronom" findet.

Dazusagen muß man noch, daß das Metronom dennoch nicht für jeden Musiker zwingend ist. Aber für diejenigen, die hocheffizient und schnell vorankommen wollen in Sachen Technik, ist es praktisch unverzichtbar.
Dreiklang jubiliert - "seine" Metronommethode wird geadelt. Was für ein Triumph!
:-)
Da steht allerdings nichts von "meiner" DKMM (nur, daß Frau Fischer das Metronom einsetzt).

Und sehr richtig natürlich auch:
Das Metronom ersetzt nicht eigenes Denken.
 
Zuletzt bearbeitet:

Zurück
Top Bottom