Vom Spitzgriff zur Liszt-Sonate (Aufsatz von Eckart Altenmüller)

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Eckart Altenmüller hat eine Doppelausbildung als Musiker (Hauptfach Querflöte) und als Mediziner. Er ist Universitätsprofessor und Direktor des Instituts für Musikphysiologie und Musiker-Medizin der Hochschule für Musik und Theater Hannover. Sein Aufsatz „Vom Spitzgriff zur Liszt-Sonate“ dürfte für viele hier interessant sein, besonders für jene, die einen wissenschaftlich fundierten Zugang zum Klavierspielen und -üben suchen. Um den Leser nicht mit zuviel Text auf einmal zu erschlagen, habe ich mich entschlossen, verschiedene Abschnitte des Aufsatzes in einzelnen Posts zu referieren. Es darf natürlich jederzeit kommentiert werden!

Es handelt sich um folgenden Aufsatz:
Eckart Altenmüller: Vom Spitzgriff zur Liszt-Sonate. In: Die Hand. Werkzeug des Geistes. Hrsg. v. Marco Wehr und Martin Weinmann. München: Elsevier 2005. S. 79-111.

Der Aufsatz hat – in grober Unterteilung – drei Abschnitte:
1. Was können Hände? Hochentwickelte menschliche Handmotorik und ihre hirnphysiologischen Grundlagen
2. Wie üben? Wie erwirbt man eine hochentwickelte Handmotorik und welche neurobiologischen Vorgänge liegen diesem Lernprozess zugrunde?
3. Verlust der Handgeschicklichkeit, Musikerverletzungen

Der Aufsatz beginnt mit folgender These: „Das Schwierigste, was der Mensch vollbringen kann, ist professionelles Musizieren auf hohem Niveau.“ (80) Zwar werden noch einige andere großartige menschliche Koordinationsleistungen angeführt (Operieren, Puppenspielen, Jonglieren, Tennisspielen, Golfen) – dem Musizieren will der Autor aber den ersten Platz einräumen, da es gewissermaßen unter dem Diktat des Hörens steht: „Musikerhände unterwerfen sich […] der unerbittlichen Kontrolle des Gehörs, eines Sinnessystems, das über eine überlegene räumlich-zeitliche Auflösung verfügt. Dies bedeutet, daß sensomotorische Abläufe beim Musizieren immer nur Annäherungen an ein gewünschtes Ziel sein können.“ (80)
Zwei Beispiele werden im Folgenden genannt:
- Bei einem Akkord spielt es eine Rolle, ob alle Tasten exakt gleichzeitig oder ob manche Tasten mit einer minimalen zeitlichen Verzögerung (von wenigen Millisekunden) angeschlagen werden. Letzteres kann dazu dienen, manche Töne des Akkordes (z. B. den obersten, als Melodieton) zu akzentuieren und klingt laut Altenmüller „weicher“, während das exakt gleichzeitige Anschlagen aller Tasten „hart“ klingt.
- Einen Triller kann ein geübter Pianist mit erstaunlicher Gleichmäßigkeit und Geschwindigkeit ausführen: mit bis zu 14 Anschlägen pro Sekunde. Die Abweichung der Länge der verschiedenen Töne des Trillers beträgt bei wirklich geübten Pianisten weniger als eine Millisekunde! Eine derartige Geschwindigkeit und Präzision wird bei komplexeren Bewegungen am Klavier allerdings selbst von professionellen Pianisten nicht erreicht. So betrug die Abweichung der Abstände zwischen den Tönen bei einer C-Dur-Tonleiter in einem Versuch mit Profis bis zu 6 ms.
Hinzu kommt - außer der Schwierigkeit der zeitlichen Koordination - noch die räumliche Präzision, die nötig ist, z. B. große Sprünge auf dem Klavier zu schaffen oder auf Streichinstrumenten die exakt richtigen Töne zu erzeugen.
All dies – darauf kommt es Altenmüller an – kann beim aufmerksamem Zuhören durchaus gehört werden, d. h. die räumliche und zeitliche Auflösung des menschlichen Gehörsinns ermöglicht unerbittlich das Erkennen selbst kleinster Unregelmäßigkeiten oder Abweichungen.
 
Mit dem Beispiel einer tauben Schlagzeugerin (Evelyn Glennie) verdeutlicht der nächste Abschnitt unter dem Titel „Musik mit allen Sinnen“, dass Musik nicht nur unter dem Diktat des Gehörs steht. Auch andere Sinne spielen eine große Rolle, allen voran die Oberflächen- und die Tiefensensibilität. „Oberflächensensibilität“ ist der Fachausdruck für all jene Sinne, die man landläufig (und etwas vereinfachend) unter dem Begriff „Tastsinn“ zusammenfassen würde: Druck-, Berührungs-, Vibrationsempfindung, Temperatur- und Schmerzsinn. „Tiefensensibilität“ wird die Wahrnehmung von Gelenkstellung, Gelenkbewegung, Sehnenspannung und Muskelspannung genannt.
Gegenüber der Bedeutung dieser Sinnesmodalitäten sieht Altenmüller den Sehsinn beim virtuosen Musizieren in einer eher untergeordneten Rolle. „Nur beim Erlernen eines Instruments und beim langsamen Einüben geführter Handbewegungen ist die visuelle Kontrolle von großer Bedeutung.“ (86) Für fehlerfreies Prima-Vista-Spiel sei es wichtig, sich beim Spielen durch Oberflächen- und Tiefensensibilität leiten zu lassen und möglichst selten vom Notenblatt auf die Tastatur zu schauen.


Der nächste Abschnitt stellt die Frage, wodurch die Geschwindigkeit von Hand- und Fingerbewegungen determiniert wird. Hierzu führt Altenmüller drei Punkte auf:

- Nach Forschungen des Neurowissenschaftlers Hans-Joachim Freund besteht eine feste Beziehung zwischen der höchsten erreichbaren Geschwindigkeit von Wechselbewegungen (z. B. Trillern) und der Frequenz des physiologischen Ruhetremors – also dem bei jedem Menschen vorhandenen Ruhezittern der Extremitäten, das z. B. bei seelischer Anspannung, Alkohol- und Nikotinkonsum verstärkt sichtbar wird, aber auch in schwacher Ausprägung mit speziellen Messmethoden sichtbar gemacht werden kann. Dieser Ruhetremor hat üblicherweise eine Frequenz von 6 bis 12 Hertz (also 6 bis 12 „Schwingungen“ pro Sekunde). „Messungen der Fingerklopfgeschwindigkeit an einer großen Gruppe von Nichtmusikern ergaben, daß die maximale Klopffrequenz in keinem Fall oberhalb der physiologischen Tremorfrequenz der Finger lag.“ (88)

- Die physiologische Tremorfrequenz ist für Altenmüller aber nicht der einzige bestimmende Faktor für die erreichbare Geschwindigkeit beim Musizieren, da nicht nur Wechselbewegungen beim Musizieren wichtig sind. Schon die bereits erwähnte C-Dur-Tonleiter erfordert neben den schnellen Fingerbewegungen seitliche Drehbewegungen im Unterarm. „Daraus folgt, daß auch die Fähigkeit zur Koordination verschiedener Anteile des Bewegungsapparats bei Höchstleistungen besonders gut ausgeprägt sein muß.“ (88)

- „Last but not least“ nennt Altenmüller als Indikator für die Professionalität eines Musikers „die Fähigkeit, den Bewegungsablauf dadurch zu ökonomisieren, daß möglichst geringe Massen bewegt werden.“ (88) So kommt es z. B. bei Trillern auf eine „rasche Entspannung der Finger bei Erreichen des Tastengrundes“ (89) an. Bleibt diese aus, kommt es zu einer „durch muskuläre Ermüdung bedingten Verkrampfung“ (90). Die Folge: bei langen, lauten Trillern ermüdet der Amateurpianist und versucht dies durch übermäßigen und inadäquaten Krafteinsatz zu kompensieren. Der professionelle Pianist trillert hingegen bei derselben Aufgabe mit relativ konstant andauernder Gleichmäßigkeit, da er ökonomischere Bewegungen ausführt.
 
Gegenüber der Bedeutung dieser Sinnesmodalitäten sieht Altenmüller den Sehsinn beim virtuosen Musizieren in einer eher untergeordneten Rolle. „Nur beim Erlernen eines Instruments und beim langsamen Einüben geführter Handbewegungen ist die visuelle Kontrolle von großer Bedeutung.“ (86) Für fehlerfreies Prima-Vista-Spiel sei es wichtig, sich beim Spielen durch Oberflächen- und Tiefensensibilität leiten zu lassen und möglichst selten vom Notenblatt auf die Tastatur zu schauen.
entweder unterschätzt der Autor die beim virtuosen Klavierspielen (von weiträumigen gegenläufigen Figuren) benötigte räumliche Wahrnehmung, für die nun mal das sehen nötig ist, oder versteht unter virtuosem spielen was anderes als z.B. die Kadenz aus dem dritten Rachmaninovkonzert: denn diese wird im Tempo weder prima vista noch blind (ohne hinschauen) gespielt ;) ja überhaupt kann man dank der Erfindung der laufenden Bilder oft genug sehen, dass die Pianisten/innen bei heiklen Stellen durchaus die Klaviatur im Auge haben ;)
 
ja überhaupt kann man dank der Erfindung der laufenden Bilder oft genug sehen, dass die Pianisten/innen bei heiklen Stellen durchaus die Klaviatur im Auge haben ;)
Kurz meine Meinung hierzu:
Das entkräftet nicht Altenmüllers Argument. Er behauptet ja nicht, dass der Sehsinn gar keine Rolle spielt, sondern dass er nur eine untergeordnete Rolle spielt. Wirklich virtuosen Spielbewegungen kann das menschliche Auge gar nicht mehr folgen.
 
Wirklich virtuosen Spielbewegungen kann das menschliche Auge gar nicht mehr folgen.
es geht ja nicht darum, sich beim spielen selber zuzuschauen... ;);) ...und untergeordnet kann eine Orientierung, die man zum treffen braucht, ja nun auch nicht gerade sein: man "begafft" ja nicht voller Freude, wie das gerade gemacht wid, sondern visiert das jeweilige Ziel an -- am praktischen Beispiel: niemand käme ohne Not (!) auf den nutzlosen Gedanken, das große Tor von Kiew oder Baba Yaga blind zu spielen :)
ohne die Tasten zu sehen ist halt, wenns um die Wurst geht, heikler als wenn man sie sieht
 
Wobei durchaus festzustellen ist, dass es eine bestimmte Begabung in Richtung räumliche Vorstellungskraft, Tiefensensibilität, Treffsicherheit ( alles in Verbindung mit einem äußerst gut geschulten Gehör) zu geben scheint.
Art Tatum ( von Horowitz maßlos bewundert) war blind. Und was für Sprünge! Trefferquote ca. 100 Prozent.

Es gibt ja auch genügend Stellen in der Literatur ( z.B. in den Paganini-Variationen von Brahms), wo man zumindest e i n e Hand blind spielen muss.

Nicht ganz so extrem: Mein Duopartner, mit dem ich manchmal das Vergnügen habe vierhändig zu spielen, kann fast jedes Stück im Dunkeln spielen. Wenn er nachts übt, lässt er das Licht aus. Auch dies finde ich schon beeindruckend.
 
Wobei durchaus festzustellen ist, dass es eine bestimmte Begabung in Richtung räumliche Vorstellungskraft, Tiefensensibilität, Treffsicherheit ( alles in Verbindung mit einem äußerst gut geschulten Gehör) zu geben scheint.
...die derart begabten, die mit verbundenen Augen den Mephistowalzer spielen, sind ganz extrem rar gesät... ;)
und wirkliche Blindheit ist sicherlich kein Vergnügen - so ganz grundlos ist die Einrichtung des räumlichen Sehens nicht

spielt dein Duopartner die letzten 5-6 Seiten der Lisztschen Tannhäuserouvertüre stromsparend und im Tempo? ;)
 
Im Jazz gab/gibt es relativ viele blinde Pianisten die durchaus zu virtuosem Spiel fähig waren/sind (Montoliu, Shearing, Roberts...) und auch einige sehende Tastenzauberer wie Erroll Garner haben fast nie auf die Tastatur geschaut. In der Klassik ist das wohl fast nicht anzutreffen.
Vor einiger Zeit kam im Fernsehen eine beeindruckende 90-minütige Dokumentation (A surprise in Texas) über den letzten Van Cliburn Wettbewerb den der blinde chinesische Pianist Noboyuki Tsuyii gewonnen hat. Er hat Werke wie La Campanella oder das 2. KK von Rachmanninoff gespielt, für mich als sehenden Klavierspieler auf Amateurniveau ist so etwas einfach unvorstellbar.
 
Noboyuki Tsuyii hat beim Wettbewerb in der Vorentscheidung die kompletten Etüden op.10 von Chopin gespielt. Danach war er wohl warm für Rach.
 
Koordination und Händigkeit von Musikern

Der folgende Abschnitt beschäftigt sich mit der „Koordination und Händigkeit von Musikern“ (so auch sein Titel). Die besondere Schwierigkeit der Bewegungen, die Musiker ausführen, liegt nach der Auffassung Altenmüllers darin, dass „hochkomplizierte Bewegungen gefordert [sind], die den isolierten Einsatz einzelner Finger mit gleichzeitigen gegensinnigen Bewegungen umfassen.“ (90) Als Beispiel nennt Altenmüller Terztriller.
Erschwerend kommen noch zwei Dinge hinzu: Erstens weniger bewegliche oder schwächere Finger (wie der Ringfinger und der fünfte Finger), die dennoch vergleichbare Aufgaben wie die anderen Finger übernehmen müssen; zweitens die Tatsache, dass „im Gegensatz zu den meisten anderen feinmotorischen Fertigkeiten nicht nur die Beugung, sondern auch die Streckung der Finger bewußt eingesetzt werden“ (90) muss.

Im Folgenden lenkt der Autor sein Augenmerk auf die Koordination beider Hände. Hier ist einerseits oft gefordert, Bewegungen exakt zu synchronisieren (Beispiel: Tonleiter mit beiden Händen), andererseits besteht manchmal die Notwendigkeit, dass beide Hände unabhängig voneinander verschiedene zeitliche Muster generieren (Polyrhythmik).
Die Synchronisierung beider Hände ist deutlich leichter bei spiegelbildlichen Bewegungen als bei gleichsinnig-parallelen. Das hat nach Altenmüller zwei Gründe: Erstens müssen bei gleichsinnig-parallelen Bewegungen zwei motorische Steuerprogramme getrennt für die rechte und für die linke Hand zum Einsatz kommen, was zusätzliche neuronale Ressourcen verbraucht; zweitens müssen bei Parallel-Bewegungen der Hände die Ungleichartigkeiten der Finger eher ausgeglichen werden (z. B. bei C-Dur-Tonleiter mit beiden Händen: Daumen der rechten und kleiner Finger der linken Hand müssen die gleiche Lautstärke und Klangfarbe erzeugen).
Ab einer bestimmten Geschwindigkeit neigen Wechselbewegungen beider Hände zur Synchronisierung, was nach Altenmüller daran liegt, dass „zentralnervöse Zeitgeber-Neuronen unter bestimmten Bedingungen eine starke Kopplungsneigung aufweisen.“ (92) Dennoch können gute Musiker selbst bei hohen Geschwindigkeiten Polyrhythmik spielen und somit „die Unabhängigkeit der Zeitgeber für die rechte und die linke Hand aufrechterhalten.“ (92)

Schließlich kommt Altenmüller noch auf die Händigkeit von Musikern zu sprechen. Linkshändigkeit sei für manche Musiker, z. B. Streicher, durchaus von Vorteil, bei Pianisten allerdings weniger verbreitet. Weiterhin haben Tests erwiesen, dass bei Musikern (besonders bei solchen, die früh anfingen, ein Instrument zu üben) die Verteilung der Handfertigkeit weniger asymmetrisch ist als bei Nicht-Musikern.
 

War der bisherige Text vor allem auf den „sportlichen“, manuellen Aspekt des Musizierens fokussiert, so kommt Altenmüller im Abschnitt „Die Seele in den Händen“ endlich (wenn auch nur kurz) auf den Ausdrucksaspekt zu sprechen. Der hirnphysiologische Hinweis auf starke Faserverbindungen zwischen dem Hirnzentrum für die Steuerung von Affekten (dem limbischen System) und den sensomotorischen Regelkreisen im Gehirn legt bereits nahe, dass zwischen dem manuellen und dem Ausdrucksaspekt eine engere Verbindung besteht als häufig zugestanden wird.
Musikpsychologische Forschungen zeigen, dass es geübten Pianisten praktisch unmöglich ist, „ausdruckslos“ zu spielen. „Diese Befunde sprechen dafür, daß zumindest ein Teil der Merkmale emotionalen Spielens bereits in sensomotorischen Steuerprogrammen festgelegt und automatisiert ist.“ (93)

„Musikergehirne sind anders“, behauptet der Titel des folgenden Abschnitts. „Nach neuen Befunden führt langjährige Übung der Feinmotorik bei Musikern zu einer Veränderung der Größe des Handareals in den primären motorischen Arealen“ (95). Es handle sich dabei um eine „funktionelle Adaption der 'Hardware' des Zentralnervensystems an die verstärkten Anforderungen.“ (95)
Auch bei der Untersuchung des Balkens – die mächtige Faserverbindung zwischen den Hirnhälften – von Musikern und Nichtmusikern fand man eine „Vergrößerung des vorderen Anteils des Balkens bei den Berufsmusikern, die vor dem Alter von sieben Jahren mit dem Instrumentalspiel begonnen hatten.“ (95) Auch dies führt Altenmüller auf eine funktionelle Adaption zurück, denn die bereits beschriebene komplexe Koordination beider Hände fordert einen raschen „Informationsaustausch zwischen beiden Hirnhälften“ (95).
Schließlich führt Altenmüller aus, dass auch die somatosensible Repräsentation der Handregion im Gehirn von Musikern offenbar vergrößert ist. Auch hier war die durch MEG sichtbare Repräsentation signifikant größer, wenn die untersuchten Musiker vor dem Alter von sieben Jahren mit dem Üben eines Instruments angefangen hatten. Im Kindesalter sei die neuronale Plastizität nämlich am größten.
 

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