Hallo,
ich habe jahrelang mit den selben Schwierigkeiten gekämpft. Bis vor einigen Monaten. Dann hat's "klick" gemacht.
Zunächst: Dieses Problem hatte ich früher immer beim E-Gitarrenspiel. Zuhause hat alles geklappt, ich war DIE Reinkarnation von Hendrix schlechthin. Stand ich dann im Laden und wollte eine neue Axt anspielen, war ich urplötzlich Karl Napf, der zum ersten Mal eine Gitarre anfassen sollte. Und so spielte ich dann auch.
Anfangs ging mir das auch mit dem Klavier so, bis ich einen Strich zog und für mich beschloss, anders an die Sache ran zu gehen.
Die folgenden Punkte entstanden im Dialog mit mir selbst und erheben keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit oder Nachvollziehbarkeit. Wer etwas draus lernen will und für sich übernehmen kann: Glück gehabt. Wer nicht: tja...
1. Wenn ich mich ans Klavier setze, dann ist das meine Zeit, und zwar NUR meine Zeit. Die nächsten 15, 30 oder 60 Minuten gehören mir alleine. Alle anderen können mich dann mal. Die Familie, Freunde, die (vermeintliche) Audienz, der Recorder: ihr existiert jetzt nicht. Jetzt gibt es nur mich und meine Musik. Punkt. Wenn ich Probleme mit euch habe, oder mich einfach nur mit euch auseinandersetzen will, dann bitte später. Das erfreuliche an Problemen ist nämlich, dass sie einem nicht davonlaufen.
2. Wenn ich aufnehmen will: beherrsche ich das Stück wirklich? Sei ehrlich! Ich erkenne, ob ich ein Stück beherrsche oder nicht an folgenden Punkten:
- Habe ich mich mit dem Stück ausreichend auseinander gesetzt? Sind mir seine Progressionen vertraut? Ist mir die Melodielinie auch wirklich vertraut? Was ist mit schwierigen Passagen? Höre ich die einzelnen Töne auch wirklich noch, auch wenn sie schnell gespielt wurden oder rhythmisch anspruchsvoll sind?
- Kann ich in jedem(!) Takt wieder einsteigen, wenn ich mich verspielt habe?
- Habe ich überhaupt einen Bezug zu dem Stück oder spiele ich nur zur Pose?
- Bin ich bei manchen Passagen froh, wenn ich sie endlich hinter mir habe? Falls ja, dann brich ab und vergiss es. Du bist nicht soweit. Punkt.
Trifft einer der obigen Punkte (bis auf den letzten) nicht zu, dann beherrsche nicht ich das Stück, sondern das Stück beherrscht mich. Sieh's einfach ein. Punkt.
Ein weiteres Indiz dafür, dass ich ein Stück beherrsche, ist wenn ich mit dem Stück spielen kann, es leicht abwandeln, Melodielinien improvisieren, mit dem Tempo spielen oder rhythmisch anders phrasieren kann. Die Königsdisziplin wäre das Transponieren in eine andere Tonart, natürlich in Echtzeit. Aber so hoch lege ich die Latte nicht. Treffen die vorigen Punkte zu, fühle ich mich sicher genug, das Stück vorzutragen. Sei's nun vor Publikum oder vor dem Recorder.
3. Beherrsche lieber 4 Stücke richtig gut als 14 oder 40 nur halb. Die Stücke dürfen ruhig einfach sein. Schlichtheit ist schließlich keine Sünde. Die Gymnopédie in einer vereinfachten Version überzeugend vorgetragen schlägt die Mondscheinsonate in der Originaltonart, die du eigentlich überhaupt nicht beherrschst und viel zu hektisch vorträgst. Ein Recording kann dann natürlich überhaupt nicht gelingen.
4. Bin ich wirklich konzentriert oder kacke ich mir vor Angst gleich in die Hosen? Trifft letzteres zu: Abbruch. Konzentrier dich. Konzentration bedeutet übrigens nichts Verkrampftes. Im Gegenteil. Konzentration ist Freiheit und Leichtigkeit. Die Freiheit sich von allen anderen Dingen, die einen den Tag über so beschäftigen, eine Auszeit zu nehmen und sich ausschließlich auf einen Punkt zu konzentrieren. Konzentration fühlt sich locker und leicht an. Ist Konzentration vorhanden, beginnt die Kontemplation. Höre ich erstmal jeden Ton, dann kann ich mich auch mit jedem Ton beschäftigen und (er)klingen lassen, seine Farbe und sein Wesen wahrnehmen.
5. Nach dem Recording:
Ja, ich bin technisch versiert und könnte jetzt mit der entsprechenden Software einen zweiten Rubinstein aus mir machen. Lass das. Nimm das Rohmaterial und lade es hoch. Kompressoren, nachträglicher Hall usw: alles schönes Spielzeug und alles schöner Schein. Steh zu deinen Fehlern. Nobody's perfect.
"Man hört mein Atmen auf dem Recording!" - Na und? Klavierspielen ohne Atmen geht schließlich nur schlecht.
"Man hört Trittschall!" - Wayne? Trittschall ist sexy, weil lebendig.
"In Takt 24 hab ich mich gehörig vergriffen!" - Und? Du beherrschst das Stück und hast die Passage elegant umschifft. Manche bemerken das noch nicht mal. Und die, die es bemerken, zwinkern dir zu. Den Knüppel aus dem Sack holt eh keiner.
"Meine Recordingtechnik ist zu schlecht. Ich brauch besseres Equipment!" - Ach komm, Junge...
6. Nach dem Hochladen:
Jaja, die elenden Likes. Wer hört nicht gerne, dass er gut spielt?
Mach dich frei davon. In erster Linie spielst du nämlich immer nur für dich selbst. Wie sieht's denn mit dir aus? Findest du gut, was du da hochgeladen hast? Ja? Dann sei stolz drauf und genieße den Moment ausgiebig. In 2 Monaten denkst du nämlich wieder komplett anders darüber und findest mehr Haare in der Suppe als dir lieb ist. Aber das ist gut so. Denn das bringt dich vorwärts.
Dir gefällt nicht, was du hochgeladen hast? Dann nimm das sofort wieder runter. Denn eine Regel trifft eigentlich immer zu: Wenn du nicht selbst überzeugt davon bist, was du tust, dann sind es die anderen meistens auch nicht. Und wenn doch: dann bleibt dir nur die Verwunderung. Verstehen tust du das aber nicht. Und weiterbringen tut dich das ebenfalls nicht.
7. Wie gehe ich mit Kritik um?
Denk immer dran: Jeder Mensch hat eine subjektive Vorstellung sowie eine subjektive Wahrnehmung von Musik. Also renn nicht gleich zu Mamas Rockzipfel, wenn dir ein wenig Gegenwind entgegenbläst. Dem einen spielst du zu schnell, dem anderen zu langsam, dem dritten zu laut, dem vierten passt überhaupt nichts. Hör dir die Kritik sorgfältig aber mit Gleichmut an. Was hat mir der/die Gute zu sagen? Verstehe ich die Kritik überhaupt? Nehme ich die Kritik persönlich? Denk dran: wie du jetzt mit Kritik umgehst bestimmt wie dein nächstes Recording aussieht. Und hör auf, es allen Recht machen zu wollen. Nochmal: du spielst in erster Linie für dich selbst. Du musst nur vor dir gerade stehen, vor niemandem sonst. Wenn alle Pianisten immer nur gefällig gespielt hätten, dann hätte es in Sachen Klavierspiel nie einen Fortschritt gegeben.
8. Zu guter Letzt:
Lass dich nicht verwirren, wenn manche über die Auswahl deines Stücks die Nase rümpfen.
Dir sollte eins klar sein: man mag Musik mit Attributen versehen wie "langweilig", "farblos", "feige", "kommerziell" usw. Aber die Eigenschaften "schlecht" und "gut" lass mal lieber außen vor. Wer Musik so betiteln und unterscheiden muss ist in Wirklichkeit ne ganz arme Sau. Denn es gibt keine schlechte Musik.