Mozarts d-moll Fantasie: Interpretationen

  • Ersteller des Themas Clavifilius
  • Erstellungsdatum

Clavifilius

Clavifilius

Dabei seit
4. Apr. 2010
Beiträge
493
Reaktionen
261
Hallo!

Seit einigen Monaten bin ich fasziniert von der enormen Bandbreite bei den Interpretationen von Mozarts Fantasie in d. Ich kenne kaum ein Werk der Klavierliteratur, das von Pianisten (Profis & Amateuren) derart unterschiedlich aufgefasst und interpretiert worden ist.

Hier einige Beispiele, über die ich gern mit Euch sprechen möchte:

1) Zunächst eine Fassung von Leygraf:

http://www.youtube.com/watch?v=chX-gA8T7ug


2) Als zweites die Interpretation von Gulda:

http://www.youtube.com/watch?v=mzOZrdltfSc


3) Im Gegensatz dazu Gilels:

http://www.youtube.com/watch?v=DPDZq7Qkybs


4) Und zum Abschluss ein kanadischer Pianist:

http://www.youtube.com/user/gspromotion#p/a/u/0/1fpaYH5qDHg


Vielleicht haben einige von Euch Interesse, über die verschiedenen Interpretationen zu diskutieren und als erstes einen spontanen Eindruck zu formulieren. Ich habe mich deshalb erst einmal mit meiner eigenen Meinung zurückgehalten.

Es würde mich freuen, wenn Ihr zuerst beschreibt, wie die unterschiedlichen Interpretationen auf Euch wirken - und wir danach gemeinsam analysieren, wie die jeweiligen Wirkungen zustande kommen, und ob man sagen kann, bestimmte Interpretationen seien besser als andere.

Viele Grüße
Clavifilius
 
Ich liefere meinen ersten Eindruck:

1. Leygraf

Seine Interpretation des Stückes wirkte auf mich wie eine letzte Zugabe nach einem langen Konzertabend, schnell heruntergespielt in Vorfreude auf die Hotelbar :D

2. Gulda

Auch er spielt die Fantasie nach meinem Geschmack zu schnell, differenziert aber deutlich stärker als Leygraf und weiß das Allegretto mit Witz zu garnieren. Nebenbei ergänzt er noch ein paar Verzierungen (ist das bei Mozart auch dann erlaubt, wenn man nicht Gulda heißt?) Interessant fand ich, dass er an einer Stelle offensichtlich versucht, ein Vibrato wie bei einem Streichinstrument zu erzeugen. Habe ich bisher noch nie so gesehen.

3. Gilels

Seine Interpretation kommt meinem Verständnis der Fantasie am nächsten, obwohl ich vor allem die Triolen zu Beginn des Stückes ein wenig zuu langsam fand.

4. der Kanadier

Er hat mir am wenigsten gefallen, weil er meiner Meinung nach unsauber gespielt hat. Manche Töne sind verschluckt, andere schlichtweg falsch, auch den Rhythmus hat er immer wieder abgeändert (absichtlich?) und viel zu viel Rubato verwendet (bei Mozart erlaubt?)
 
1. Leygraf: So manche Töne sind mir zu hart gespielt, zu un-delikat. Warum bei Mozart so mit dem Finger in die Taste "reinstechen"?

2. Gulda: Wenn das Stück von Beethoven wäre, wäre es ganz o.k., wie Gulda es spielt. Aber so ist es einfach zu un-mozartisch, an einigen Stellen kloppt er zu naßforsch drauf. Er spielt quasi etwas zu turnschuhmäßig :D

3. Gilels spielt wunderbar rund und klangbewußt (seine Bewegungen sind dementsprechend!). Ob man so langsam spielen muß, ist in der Tat die Frage - aber er macht auf jeden Fall aus jedem Ton ein Erlebnis! Nichts ist "routiniert", nirgends hört man "kann ich, ist ja leicht...".
Besonders bemerkenswert finde ich, wie sehr er aus dem ganzen Körper heraus spielt und dies auch sehr sichtbar wird.

4. Bei dem Kanadier ist der aufgenommene Sound so kagge, das müßte man nochmal in einem besseren Setting (Instrument, Recording) gespielt hören, um dazu wirklich was sagen zu können.

Gilels also ganz eindeutiger Gewinner.

LG,
Hasenbein
 
Ja, Gilels ist mein Favourit in dieser Auswahl. Der Klang passt einfach zu Mozart und zu dieser Fantasie. Und wenn ich mal von der Form der Fantasie mal Abstand nehme, klingt es auch noch fantastisch und zwar nicht im Sinne von "großartig" oder "klasse", sondern von "gespenstisch" oder wie eine Traum. Jeder Ton hat seine Bedeutung, es ist Musik.

Und obwohl Gilels sehr langsam spielt, vergeht das Stück sehr schnell.
 
Gilels Version ist die einzige, die ich mir bis zum Schluss angehört habe (das sagt wohl schon alles... ;)).

Für mich hat seine Interpretation etwas kühles und trostloses, was den Intentionen Mozarts sicherlich nahe kommt. Das Allegretto klingt im direkten Anschluss verträumt, aber nicht verspielt - wie so oft bei anderen Interpretationen. Er verleiht der Fantasie seinen ganz eigenen, persönlichen Charakter und erweist sich in der Hinsicht als ein wahrer Poet am Klavier.

Zu den anderen Einspielungen äussere ich mich vielleicht, wenn ich sie ganz gehört habe. Aber nach meinem bisherigen Empfinden klingen sie im direkten Vergleich zu Gilels fast... bedeutungslos.
 
Gilels Version ist die einzige, die ich mir bis zum Schluss angehört habe (das sagt wohl schon alles... ;)).

Für mich hat seine Interpretation etwas kühles und trostloses, was den Intentionen Mozarts sicherlich nahe kommt. Das Allegretto klingt im direkten Anschluss verträumt, aber nicht verspielt - wie so oft bei anderen Interpretationen. Er verleiht der Fantasie seinen ganz eigenen, persönlichen Charakter und erweist sich in der Hinsicht als ein wahrer Poet am Klavier.

Zu den anderen Einspielungen äussere ich mich vielleicht, wenn ich sie ganz gehört habe. Aber nach meinem bisherigen Empfinden klingen sie im direkten Vergleich zu Gilels fast... bedeutungslos.

Du nimmst mir die Worte aus dem Mund! Kann nichts hinzufügen!
 
Herzlichen Dank für Eure Eindrücke!

Ich schildere nun auch einmal meine Wahrnehmung dieser unterschiedlichen Interpretationen - und wie sich meine Wahrnehmung in den letzten Monaten verändert hat (v.a. dadurch, dass ich selbst die d-moll-Fantasie übte).

Am Anfang ging es mir exakt wie Euch: Gilels war mein absoluter Favorit. Auch jetzt bin ich noch beeindruckt von seinem intensiven Spiel, das ich an manchen Stellen geradezu beklemmend eindringlich empfinde.

Mein erster Eindruck war: Das was Gulda und (weniger ausgeprägt auch) Leygraf machen, geht gar nicht. Wo bleibt bei diesem Tempo die Emotionalität? Vor allem bei Gulda erschien es mir so, als würde er dem Stück mutwillig Gewalt antun. Hasenbein formuliert diesen Eindruck sehr schön, wenn er von "nassforsch" und "turnschuhmäßig" spricht.

Inzwischen, nach monatelangem intensiven Üben, haben sich meine Hörgewohnheiten und meine Auffassung der Fantasie aber verändert. Mich überrascht das selbst. Mittlerweile gefällt mir die Leygraf-Interpretation am besten und selbst Guldas "frecher" Weigerung, der Fantasie emotionalen Tiefgang zu geben, kann ich heute einiges abgewinnen.

Auslöser dieser Entwicklung waren mehrere Diskussionen mit meiner Klavierlehrerin über das "Tempo" bei Mozart und darüber, ob diese emotionale "Schwere", die der Interpretation von Gilels innewohnt, überhaupt angemessen ist. Wer weiß, vielleicht ist es auch nur eine Art Abstumpfung durch tägliches Üben, aber ich spiele die Fantasie nun selbst etwa in dem Tempo von Leygraf.
Und wenn ich Gulda heute höre, scheint er mit seinem "nassforschen" Auftritt sagen zu wollen: "Leute, diese Fantasie ist keine Agonie, die tiefgründig durchlitten werden muss. Seid locker und nehmt sie leicht!"

Zuletzt zu dem "kanadischen Pianisten", der laut seiner Website und dort angegebenen Referenzen tatsächlich Konzertpianist ist. Hier bin ich ganz und gar der Meinung von Klimperline, auch aus den von ihr angeführten guten Gründen: Diese Interpretation halte ich für objektiv schlecht - während ich nicht glaube, dass man sagen kann, die Interpretation von Gilels ist besser als die von Gulda bzw. Leygraf (oder umgekehrt).

Woran liegt das? Jedenfalls nicht an einzelnen Fehlern. Auch Leygraf und Gulda spielen nicht völlig fehlerfrei. Aber der Kanadier - abgesehen von der Vielzahl der Fehler - scheint gar nicht die Fähigkeit zu haben, die Fantasie überhaupt auf irgendeine Weise zu interpretieren und kompensiert sein technisches Unvermögen durch eine exzentrische Spielweise.
(Ist vielleicht zu hart formuliert, aber so empfinde ich es.)

Viele Grüße
Clavifilius
 
Zuletzt von einem Moderator bearbeitet:
Hallo Clavifilius,

das sind sehr interessante Überlegungen und Eindrücke.

Meiner Auffassung nach enthält die kleine Fantasie einige Abschnitte, die in Richtung Trauermusik tendieren:
- die Abwärts Sequenz g-F-Es-E7-A in der Einleitung (und die Dissonanz f-e im "E7" Takt ist ungeheuer schmerzlich)
- die zweimalige "Totenglocke" (Repetitionen auf e und d) mit ihren absteigenden Sequenzen und dem resignierten quasi Halbschluß (der Schlußklang der beiden Totenglockenstellen ist ja immer die Dominante der folgenden Abschnitte)
das Hauptthema des Adagio selber ist das eines langsamen traurigen Satzes, an Traurigkeit und zugleich Schlichtheit vergleichbar mit dem berühmten fis-Moll Satz aus dem kleinen A-Dur Klavierkonzert. Nun ist diese Musik hier, das Adagio, von Mozart mit äußerst sparsamen, aber dennoch expressiven Mitteln gestaltet: man sollte nicht übersehen, dass der Klaviersatz hier klanglich sehr reduziert ist, also ohne pianistischen Aufwand und Klangfülle gestaltet ist.
Das sind für mich Anhaltspunkte, das Adagio nicht "auf die leichte Schulter" zu nehmen und ihm irgendetwas verspielt rokoko-artiges zu geben - ich finde, dass da Gilels die Trauer, Wehmut, streckenweise auch Resignation dieser Musik sehr schön und überzeugend darstellt. Aber ebenso auch Anhaltspunkte dafür, keine klanglichen Übertreibungen (etwa massives forte) zu bringen.

Interessant zu lesen: http://www.hermann-keller.org/aufsa...en/1963bemerkungenzumozartsdmollfantasie.html

bzgl. Leygraf: ich verstehe nicht, warum er im ersten Abwärtslauf auf #c e derart zögert.

schöne Einspielungen gibt es auch von Yudina und Gould.

das Allegretto sollte meiner Ansicht nach freundlich, tröstlich nach der traurigen Musik zuvor, aber nicht keck spieldosenhaft klingen - und nicht schnell, sondern eben allegretto.

Gruß, Rolf
 
vielleicht muss man sich garnicht nur für Einen entscheiden.

Aber der Kanadier ist natürlich aussen vor. Damit fällt man bei einer Zwischenprüfung bereits durch.

Leygraf ist mir von einigen Seminaren und Kursen her bekannt und mir gefällt seine gesamte Mozarteinstellung nicht. Das ist aber persönlich, denn ich hatte mit ihm schon richtigen Streit über das Tempo des letzten Klavierkonzerts in c-moll KV 491, wo er das Allegretto wesentlich zu schnell haben wollte.

Und auch hier ist er mir einfach zu undelikat bzw an keine Stelle richtig klanglich gut.

Gulda hat dies sicher in einemm seiner gemischten Konzerte gespielt und es stand mit Sicherheit nicht im Programmheft. Das Tunschumässige war wohl auch der Audience geschuldet aber doch gültig und gut. Und klanglich waren Delikatessen drin.

Gilels mag hier diese Fantasie fast ein bischen zu sehr aufgeladen haben.

Das Allegretto gegen Schluss ist mir zu wenig Gegensatz und entbehrt des dezenten Witzes, den ich hier hören möchte.

Interessant zu beobachten ist die sehr ausführliche Aufhebung des Handgelenks mit dem bis zuletzt hängendem Daumen. Das ist Klang und Körperkunst in Vollendung.

Das Stück verträgt eben eine grosse Bandbreite an möglichen Interpretationen.

Genau wie das Meiste von Bach. Eine Garantie dafür, dass KLavierspielen und hören nie langweilig wird.

die immer wiederkehrende Frage:

wie spielst du das denn ist doch wesentlich spannender als:

Was gibt es heute zu Essen?
 
Hallo Rolf,

besten Dank für Deine Hinweise zur Analyse der Fantasie und die damit verbundenen Anhaltspunkte, wie sie gespielt werden sollte.

Ich stimme Dir zu, dass es in der Fantasie verschiedene Elemente gibt, die auf "Trauermusik" hinweisen - während im letzten Teil (Allegretto) die zuvor gequälte arme Seele endlich "erlöst" wird.
So habe ich die Fantasie auch stets aufgefasst.
Inzwischen bin ich mir aber gar nicht mehr so sicher, wie ERNST das zu nehmen ist. Ein solches Maß an Elegie, wie Gilels an diesen Stellen zum Ausdruck bringt, ist möglicherweise weit übertrieben und entspricht vielleicht gar nicht den Intentionen Mozarts. Womöglich ist diese Trauer viel spielerischer und undramatischer aufzufassen - ebenso die darauf folgende "Erlösung".

Der Hinweis auf die "Tempoangaben" erscheint ebenfalls problematisch. Jedenfalls hat meine Klavierlehrerin mir zur Belehrung einen Artikel gegeben, aus dem hervorgeht, dass Vortragsbezeichnungen in der Mozart-Zeit KEINE Tempoangaben darstellen, sondern Affektbezeichnungen.
Es scheint sich also nicht so leicht sagen zu lassen, wie schnell "Allegretto" bei Mozart zu spielen ist.

KLAVIGEN hat hier ja eine interessante Bemerkung darüber gemacht, dass er mit Leygraf einen Streit hatte darüber, wie schnell "Allegretto" bei Mozart nun gespielt werden soll.
Unter Umständen ist diese Frage gar nicht zu klären.


Aus diesen Gründen bin ich mittlerweile der Meinung, dass sich auch nicht sagen lässt, dass Gilels die Mozart-Fantasie besser interpretiert als Leygraf oder Gulda (obwohl ich anfänglich ganz selbstverständlich dieser Meinung war, da die Gilels-Interpretation so beeindruckend ist).

Viele Grüße
Clavifilius
 
Ich stimme Dir zu, dass es in der Fantasie verschiedene Elemente gibt, die auf "Trauermusik" hinweisen - während im letzten Teil (Allegretto) die zuvor gequälte arme Seele endlich "erlöst" wird.
So habe ich die Fantasie auch stets aufgefasst.
Inzwischen bin ich mir aber gar nicht mehr so sicher, wie ERNST das zu nehmen ist. Ein solches Maß an Elegie, wie Gilels an diesen Stellen zum Ausdruck bringt, ist möglicherweise weit übertrieben und entspricht vielleicht gar nicht den Intentionen Mozarts. Womöglich ist diese Trauer viel spielerischer und undramatischer aufzufassen - ebenso die darauf folgende "Erlösung".

na ja - möglicherweise, möglicherweise auch nicht. :)

Wenn es richtig ist, dass die Fantasie ein paar tendenziell in Richtung Trauermusik weisende Momente enthält, dann sind diese doch wohl nicht gleichgültig oder gar fröhlich zu spielen.

Übrigens finde ich Gilels Darstellung des Hauptthemas im Adagio nicht dramatisch, sondern klangschön und eben traurig - und damit angemessen.

Mich faszinieren bei Mozart gerade die Stellen, die auf den ersten Blick so gar nicht "Mozart-typisch" (im landläufigen Sinne) klingen - der fis-Moll Satz aus dem kleinen A-Dur Konzert, der Beginn der c-Moll Fantasie, der 1. Satz des d-Moll Klavierkonzerts, der verzweifelte erste und fahle dritte Satz der a-Moll Sonate und eben auch diese Fantasie. Meiner Ansicht nach reduziert, ja mißversteht man den Ausdrucksreichtum von Mozarts Musik, wenn man nur und einzig spielerisch-undramatisches darin wahrnehmen möchte (nicht dass Du mich mißverstehst, damit meine ich Deine Eindrücke nicht - mir kam diese Musik auch lange Zeit irgendwie spieldosig vor!)

Mozart meinte seine Bezeichnungen (adagio, andante, allegretto, allegro, presto) durchaus nicht nur als Affekte, sondern auch als Tempocharakterisierungen: z.B. beschwert er sich in einem Brief, dass es bei Abbe Vogler am Klavier immer nur prestississimo zuginge.

herzliche Grüße, Rolf
 

na ja - möglicherweise, möglicherweise auch nicht. :)

Ganz genau: MÖGLICHERWEISE ist die Trauer und "Seelenqual" in der Fantasie spielerischer aufzufassen als in der Interpretation von Gilels - vielleicht auch nicht. Zur Zeit erscheint es mir so, dass sich gar nicht klären lässt, was den Intentionen Mozarts besser entspricht.

Wenn es richtig ist, dass die Fantasie ein paar tendenziell in Richtung Trauermusik weisende Momente enthält, dann sind diese doch wohl nicht gleichgültig oder gar fröhlich zu spielen.

Dem stimme ich selbstverständlich zu. Aber ich habe es nicht so empfunden, dass Leygraf oder Gulda nun den Gefühlsgehalt dieser Passagen in's Gegenteil verkehren oder sie völlig gleichgültig spielen. Die Trauer wird - nach meinem Empfinden - nur leichter genommen, spielerischer, "unernster".


Übrigens finde ich Gilels Darstellung des Hauptthemas im Adagio nicht dramatisch, sondern klangschön und eben traurig - und damit angemessen.

Ich meinte "dramatisch" eher im Sinne von innerer Dramatik - aber okay, es ist von mir missverständlich formuliert.
"Traurig" allein erscheint mir aber zu wenig, Gilels spielt geradezu "gequält", das ist nicht nicht bloße Trauer, sondern "Seelenqual".


Mich faszinieren bei Mozart gerade die Stellen, die auf den ersten Blick so gar nicht "Mozart-typisch" (im landläufigen Sinne) klingen - der fis-Moll Satz aus dem kleinen A-Dur Konzert, der Beginn der c-Moll Fantasie, der 1. Satz des d-Moll Klavierkonzerts, der verzweifelte erste und fahle dritte Satz der a-Moll Sonate und eben auch diese Fantasie. Meiner Ansicht nach reduziert, ja mißversteht man den Ausdrucksreichtum von Mozarts Musik, wenn man nur und einzig spielerisch-undramatisches darin wahrnehmen möchte (nicht dass Du mich mißverstehst, damit meine ich Deine Eindrücke nicht - mir kam diese Musik auch lange Zeit irgendwie spieldosig vor!)

Diese Bemerkungen finde ich sehr interessant. Ich kann das, was Du schreibst, gut nachvollziehen.
Möchtest Du auch so weit gehen, dass Du eine Interpretation mit Gefühlstiefe und Verzweiflung auch dann noch einer "spielerisch-undramatischen" vorziehen würdest, wenn klar wäre, dass Mozarts tatsächliche Intention in Richtung "spieldosig" ging?
Auch das könnte ich nachvollziehen. Es zwingt uns ja niemand, die Übereinstimmung mit den Intentionen des Urhebers eines Werkes als alleiniges (oder wichtigstes) Kriterium für die Güte einer Interpretation zu betrachten.
Die Frage "Was sagt ein Werk heutigen Rezipienten?" ist ja ebenfalls von Bedeutung.

Mozart meinte seine Bezeichnungen (adagio, andante, allegretto, allegro, presto) durchaus nicht nur als Affekte, sondern auch als Tempocharakterisierungen: z.B. beschwert er sich in einem Brief, dass es bei Abbe Vogler am Klavier immer nur prestississimo zuginge.

In dem Artikel, den ich meine ("Wenn das Metronom allein nicht weiterhilft - Zur Wahl des richtigen Tempos am Beispiel von Mozarts Klaviermusik", neue musikzeitung, Mai 2010, S. 14), wird behauptet: "[Die Vortragsbezeichnungen] sind als Hinweise auf den Affektgehalt des Stückes zu deuten und deshalb nicht nur Tempo-, sondern vor allem Affektbezeichnungen."
Insofern hast Du Recht mit Deiner Korrektur, dass sie AUCH Tempobezeichnungen sind. (Ich hatte das gestern verkürzt und falsch formuliert.)

An der Situation, dass wir nicht wissen, wie schnell nun "Allegretto" in einem bestimmten Werk Mozarts gespielt werden soll, scheint das aber nichts zu ändern. Die Vortragsbezeichnungen bieten - wenn ich das richtig verstanden habe - nur einen ganz vagen Hinweis auf das Tempo. Die Wahl des Tempos scheint weitgehend im Ermessen des Interpreten zu liegen - und diese Interpretationsfreiheit ist anscheinend von den Komponisten der Mozart-Zeit gewollt. (Völlig beliebig ist die Wahl des Tempos damit natürlich nicht. Zumindest in dem von mir zitierten Artikel wird auf bestimmte Merkmale eines Stücks verwiesen, die Hinweise für die Wahl des Tempos sein können.)

Die Sache ist jedenfalls nicht so einfach, dass man sagen könnte: "Lieber Herr Leygraf, lieber Herr Gulda, den letzten Teil der Mozart-Fantasie bitte nicht so schnell, denn da steht "Allegretto"."

Abgesehen davon, müsste man dann auch Herrn Gilels sagen: "Etwas flotter bitte am Anfang, da steht "Andante" und nicht "Largo"." ;)

Viele Grüße
Clavifilius
 
So eine Fantasie ist ja so etwas wie eine aufgeschriebene Improvisation und gibt somit einen kleinen Einblick, wie Mozart oder andere Fantasieschreiber wie Bach improvisiert haben. (Es gibt andere Stücke mit dem Titel "Fantasie", die eindeutig keine aufgeschriebene Improvisation sind, aber bei KV 397 ist der Fall klar.)

Daher ist es absolut zulässig, mit den musikalischen Parametern wie z.B. Tempo frei, experimentierend und individuell umzugehen.

Bleiben nur Geschmacks- und Stilfragen und solche danach, welchen emotionalen Gehalt Mozart damals mit seinem Spiel intendiert haben könnte. Daß er beethovensch den Tastenlöwen gemacht haben könnte (-> Gulda), ist doch ausgesprochen unwahrscheinlich.

LG,
Hasenbein
 
So eine Fantasie ist ja so etwas wie eine aufgeschriebene Improvisation und gibt somit einen kleinen Einblick, wie Mozart oder andere Fantasieschreiber wie Bach improvisiert haben. (Es gibt andere Stücke mit dem Titel "Fantasie", die eindeutig keine aufgeschriebene Improvisation sind, aber bei KV 397 ist der Fall klar.)

Daher ist es absolut zulässig, mit den musikalischen Parametern wie z.B. Tempo frei, experimentierend und individuell umzugehen.

Bleiben nur Geschmacks- und Stilfragen und solche danach, welchen emotionalen Gehalt Mozart damals mit seinem Spiel intendiert haben könnte. Daß er beethovensch den Tastenlöwen gemacht haben könnte (-> Gulda), ist doch ausgesprochen unwahrscheinlich.

Ich halte das für einen wichtigen Hinweis, dass die d-moll Fantasie so etwas wie eine aufgeschriebene Improvisation ist. (Das würde nebenbei auch noch erklären, dass Mozart sie gar nicht beendet hat - der Schluss wurde nachträglich ergänzt - und dass sie zu Mozarts Lebzeiten und einige Zeit darüber hinaus völlig unbekannt war.)

Aber wenn wir die Fantasie als eine Art Improvisation auffassen, spielt Gulda doch völlig angemessen: Er improvisiert, fügt spontane Verzierungen hinzu, variiert bei Wiederholungen. Nebenbei spielt er sie so, als hätte er ein Clavichord vor sich (mir fällt das an einigen Details der Spieltechnik auf, außerdem kann auf einem Clavichord das Tempo nicht viel langsamer genommen werden, da die Komposition sonst "zerfällt".)

Die Assoziation mit Beethoven kommt mir eher bei der Gilels-Interpretation. Nach meinem Empfinden spielt er sie so wie eine in Stein gemeißelte Beethoven-Sonate, was ja nicht schlecht ist, aber ganz im Gegensatz steht zum Charakter einer Improvisation.

Viele Grüße
Clavifilius
 
Möchtest Du auch so weit gehen, dass Du eine Interpretation mit Gefühlstiefe und Verzweiflung auch dann noch einer "spielerisch-undramatischen" vorziehen würdest, wenn klar wäre, dass Mozarts tatsächliche Intention in Richtung "spieldosig" ging?

daran scheitert diese Überlegung - ich kenne nichts aus Mozarts Feder, was klar macht, dass er einen langsamen Moll-Satz "spieldosig" meinen würde - - - mit anderen Worten: dieses "wenn klar wäre" ist fiktiv.

Ich stelle mir gerade die Frage, was übrig bleibt, wenn man einen langsamen deklamatorischen Moll-Satz nicht "konventionell" traurig (im allgemeinen Sinne) spielt... Musik von womöglich falschen Emotionen zu entschlacken, ist sicher eine erhellende Idee: das ist zu Beginn des 20. Jh. in der Chopininterpretation geschehen - - ähnlich ist es mit der Abschaffung der Spieldosigkeit bei Mozart: restlos alles spieldosig zu bringen, verniedlicht und verharmlost Mozarts Musik. Ich kann keinen zwingenden Grund erkennen, dass man Mozart lediglich als harmlos, nett, spieldosig darbietet, so als habe er nichts anderes als die Serenade "kleine Nachtmusik" komponiert.

herzliche Grüße, Rolf
 

Zurück
Top Bottom