Künstler <-> Pädagoge?

Liebe Blüte,

ich glaube, dass unser Können in egal welchem Bereich oder Berufsfeld von vielen Eigenschaften und Fähigkeiten geprägt sind. Aber nicht für jeden Beruf sind diese Fähigkeiten gleich wichtig.

Als Klavierpädagoge brauche ich neben pianistischen und methodisch-didaktischen Fähigkeiten auch Fähigkeiten in der Kommunikation. Ich brauche Empathie, Interesse an Menschen, ich brauche Intelligenz, um Probleme beim Schüler zu erkennen, in Einzelschritte zerlegen zu können, Entscheidungen im Unterricht zu treffen und flexibel zu agieren.

Diese Dinge brauche ich als auftretender Künstler nicht zwangsläufig. Da braucht es andere Dinge, z.B. Konzentrationsfähigkeit, Freude und ein inneres Bedürfnis an Auftritten, ein gutes Gedächtnis, Durchhaltevermögen (tägliches Üben, immerwährendes Arbeiten an sich...) etc..

Ich denke also, dass ein guter Lehrer nicht zwangsläufig ein auftretender Künstler sein muss. Ein auftretender Künstler kann umgekehrt auch ein schlechter Lehrer sein - wir alle wissen, dass etwas selbst tun zu können nicht automatisch heißt, dies auch erklären oder zeigen zu können.

Was für mich allerdings unabdingbar für einen guten Klavierlehrer ist, ist das - ich nenne es mal so - künstlerische Sein! Die Suche nach immer neuen Lösungen, nach Weiterentwicklung, nach immer neuen kreativen Zugängen, die stetige (Weiter-) Bildung nicht nur der Pianistik, sondern der eigenen Persönlichkeit, des Hörens, des Musikverständnisses, die Neugier auf das, was man noch nicht kennt und weiß - das finde ich wichtig!

Brendel hat ja immer postuliert, dass ein Künstler umfassend gebildet sein sollte. Kunst, Malerei, Prosa, Lyrik, Geschichte ..... - all das trägt zur inneren Reifung bei und beeinflusst natürlich auch das, was wir tun. Wenn man einen Interpreten im Konzert hört, tragen im Hintergrund sehr viele Dinge zur Interpretation bei.

Insofern plädiere ich für Vielseitigkeit. Einseitigkeit macht auf Dauer blind und führt zu Verarmung. Ich selbst sehe mich als Künstlerin und Pädagogin, aber auch als Mensch, Mutter, begeisterte Doppelkopfspielerin, Köchin, Freundin, Partnerin .... . All diese Dinge befruchten sich gegenseitig.

Als ich so viel begleitete, war es mir wichtig, immer auch solistisch zu spielen und aufzutreten. Mir war und ist es wichtig, Musik aus möglichst vielen Perspektiven wahrzunehmen und dazu gehört für mich, möglichst viele Rollen auszuüben, in denen ich verschiedene Aspekte von Musik realisieren kann und in denen ich mich immer weiter verbessern kann. Mein Unterricht auch schon bei 5jährigen profitiert davon, dass ich Konzerte gebe und mein Hören und Spielen immer weiter zu verbessern suche. Mein Spiel verbessert sich, indem ich Schülern diese Dinge beibringe und so gezwungen bin, genauestens über Abläufe, Klänge und ihre Realisierung nachzudenken und sie zu verstehen.

Vielleicht - wenn ich so darüber nachdenke -, muss ein Künstler zumindest an sich selbst ein Pädagoge sein, denn er muss sich ja quasi selbst unterrichten. Nur Kinder oder Anfänger kann er dann noch lange nicht unterrichten. :D

Liebe Grüße

chiarina

P.S.: Lieber Gefallener,

ein Künstler arbeitet zwangsläufig an sich, seinem Werk, seinen Interpretationen. Diese Arbeit ist mit Hoch und Tiefs verbunden - anders geht es gar nicht. Das ist anstrengend. Die Tiefen und Grenzen immer wieder auszuloten, die persönliche Sicht auf seine Kunst immer wieder zu überdenken, zu reflektieren, zu realisieren erfordert sehr wohl

Idealismus, die ewige Um- und Antriebsfeder, das "höheres / anderes Sehen" /Sichtweise (auf die Dinge), das Wissen um das Unwissen (denn es ist nur eine lichtgeschwinde Ahnung, die immer der Masse vorauseilt), Ecken, Tiefe, Charakter und Katarakte, Abgründe, Träume und Illusionen, Vogeltum, Zweifel und Wahn.
Mit dem Geniebegriff habe ich allerdings meine Schwierigkeiten. Genies sind selten und es gibt vielleicht eine Handvoll Künstler (wenn überhaupt) momentan, auf die dies zutrifft. Ein sehr gutes Handwerkszeug zu haben und künstlerische Fähigkeiten (s.o.) zu besitzen, reicht völlig aus, um Künstler zu sein.
 
Zuletzt bearbeitet:
Ich sehe das so: Künstler und Pädagoge sind unterschiedliche Berufe. Man stellt ja auch nicht den Trainer ins Tor.
 
Ich sehe es ähnlich wie @chiarina. Gegenseitig bestärkend wirkt meiner Meinung nach: Je umfassender die musikalischen und musikpädagogischen Tätigkeiten sind, umso fruchtbarer wird die künstlerische Tätigkeit wie auch die pädagogische. Und auch diejenigen, die nicht auftreten, sind ja künstlerisch aktiv, denn sie setzen sich mit der künstlerischen Sache ja bewusst oder unbewusst auseinander. Das tut auch jeder Lehrer, es sei denn, er spult ein Standard-Programm ab. Ist nicht auch das Führen der SuS zu einer künstlerischen Einstellung selbst eine künstlerische Tätigkeit? Denn es geschieht ja nichts Geringeres als Reflexion der eigenen künstlerischen Persönlichkeit.

In diesem Zusammenhang ist nun bei mir eine Frage entstanden, (die, falls sie den Rahmen dieses Fadens sprengen sollte, gerne ausgelagert werden darf, @Stilblüte): Immer wieder habe ich von künstlerisch tätigen Instrumentallehrern gehört, dass sie das Unterrichten lästig finden bzw. dass die Unterrichtstätigkeit sie vom eigentlichen künstlerischen Tun abhalten würde. Dass beide Tätigkeiten einen angemessenen zeitlichen Rahmen benötigen, um zu ihrem Recht zu kommen, ist wohl klar. Unabhängig davon interessiert mich: Wie sehen die Künstler/innen und Pädagog/innen auf clavio das? Ist das Unterrichten für den künstlerischen Weg hinderlich?
 
In diesem Zusammenhang ist nun bei mir eine Frage entstanden
bei mir auch, aber meine Frage betrifft, was man unter dem Begriff "Künstler" versteht.

Meiner unmaßgeblichen Ansicht nach sollte dieser Begriff für diejenigen reserviert bleiben, die tatsächlich schöpferisch-kreativ tätig sind, indem sie Romane oder Gedichte schreiben, Gemälde oder Aquarelle malen, Musikstücke komponieren, Statuen modellieren (heutzutage muss man vermutlich auch diejenigen hinzuzählen, die Filme machen und fotografieren) - selbst die brillanteste Erläuterung zu einem Roman, die brillanteste Bilderklärung eine Kunsthistorikers, die brillanteste instrumentale Interpretation wird meiner Ansicht nach nicht von "Künstlern" geliefert.
So betrachtet kann ich nichts zum Thema sagen, denn ich betrachte Interpreten nicht als Künstler. (und dass wirkliche Künstler zugleich als Instrumentalpädagogen tätig sind, kommt heutzutage eher selten vor - das war im 19 Jh. anders)

Ist das Unterrichten für (den künstlerischen Weg) Konzerttätigkeit hinderlich?
Nein.
 
@rolf
Als was würdest du denn Interpreten bezeichnen? Als Handwerker? Oder ist "Interpret" gar ein Begriff, der für sich steht?
 
denn ich betrachte Interpreten nicht als Künstler
Ich würde da keine schwarz-weiss Einteilung vornehmen wollen, sondern sehe da einen weiten Bereich mit vielen unterschiedlichen Grautönen. Somit ist jeder Interpret auch ein Künstler, mal mehr, mal weniger. Ein hundertprozentiger Künstler ist auch der Komponist nicht, welcher seine Werke nicht selbst spielt.
 
bei mir auch, aber meine Frage betrifft, was man unter dem Begriff "Künstler" versteht.

Meiner unmaßgeblichen Ansicht nach sollte dieser Begriff für diejenigen reserviert bleiben, die tatsächlich schöpferisch-kreativ tätig sind, indem sie Romane oder Gedichte schreiben, Gemälde oder Aquarelle malen, Musikstücke komponieren, Statuen modellieren (heutzutage muss man vermutlich auch diejenigen hinzuzählen, die Filme machen und fotografieren) - selbst die brillanteste Erläuterung zu einem Roman, die brillanteste Bilderklärung eine Kunsthistorikers, die brillanteste instrumentale Interpretation wird meiner Ansicht nach nicht von "Künstlern" geliefert.
So betrachtet kann ich nichts zum Thema sagen, denn ich betrachte Interpreten nicht als Künstler. (und dass wirkliche Künstler zugleich als Instrumentalpädagogen tätig sind, kommt heutzutage eher selten vor - das war im 19 Jh. anders)


Nein.

Lieber rolf,

da habe ich doch glatt auch ein paar Fragen:

1. Der Notentext ist die Grundlage eines Werks, seine Niederschrift. Wenn aus ihm etwas Einzigartiges, eine einzigartige Deutung geschaffen wird, ist das dann Kunst? Sind Interpretationen, die eine weltweit anerkannte Einzigartigkeit besitzen und von denen es nicht wenige gibt, Kunst und damit die Erschaffenden Künstler?

2. Sind Schauspieler, die am Theater einen Text interpretieren, Künstler?

3. Einer meiner Abschlüsse heißt "Künstlerische Reifeprüfung". Ich bin in der Künstlersozialkasse. Sieht "die Welt" die künstlerische Tätigkeit eines Musikers also falsch?

4. Warum sind deiner Meinung nach Fotografen Künstler, Interpreten nicht? Fotografen zeigen ihre persönliche Sichtweise eines/r bereits vorhandenen Objekts/Situation. Wo liegt der Unterschied zum Interpreten?

5. Viele Interpreten komponieren auch, improvisieren etc. Ist nun Gabriela Montero im ersten Teil ihres Konzerts kein Künstler und im zweiten improvisierten Teil doch? Ist man dann ein Künstler, wenn man Kompositionen veröffentlicht hat oder/und wenn sie häufig gespielt werden? Ist der herausragende Interpret Artur Schnabel, der sehr viel komponiert hat, dann ein Künstler, weil er komponiert hat?

6. Wo fängt denn der Künstler an? Wo Kunst? Reiht ein Jazzpianist ein paar Patterns aneinander, ist er dann ein Künstler? Weil er ja improvisiert?

.....

Meiner unmaßgeblichen Meinung nach ist auch ein Interpret schöpferisch-kreativ tätig, genau wie ein Schauspieler. Es sind im Laufe der Geschichte viele einzigartige Interpretationen entstanden, die ohne eine einzigartige Kunstfertigkeit im Handwerk, ohne eine einzigartige Begabung und einzigartige künstlerische Sicht nicht zustande gekommen wären. Diese Interpretationen lassen sich nicht duplizieren. Diese Interpreten sind Künstler.

Wo die Grenze liegt, darüber kann man streiten - haben wir im Forum auch schon. Aber dass das Interpretieren eine schöpferisch-kreative und damit künstlerische Tätigkeit ist, steht für mich außer Frage. Das sehen auch viele große Interpreten so.

"I heard Edwin Fischer, who did not mean much to me. I heard another pianist in Berlin who had a big success and I thought he was awful — Mischa Levitzki. Just fingers, and you cannot listen only to fingers. There is a difference between artist and artisan. Levitzki was an artisan. But Ignaz Friedman, who I admired, was a great artist. He had wonderful fingers and a very personal, individual way of playing, even if some of his ideas were very strange to me. He had no hesitation touching up the music. I got annoyed with him at one concert when he changed the basses in Chopin's F minor Ballade. I didn't like that. For some reason he was happier making records than he was on the stage.“

Quelle: https://beruhmte-zitate.de/autoren/vladimir-horowitz/

Liebe Grüße

chiarina
 
da habe ich doch glatt auch ein paar Fragen
...das war zu befürchten...
statt vieler Antworten ein Tante Wiki Zitat:
Als Künstler werden heute in der bildenden Kunst, der angewandten Kunst, der darstellenden Kunst, der Literatur sowie in der Musik kreativ tätige Menschen bezeichnet, die als Arbeiten oder Kunstwerke bezeichnete Erzeugnisse künstlerischen Schaffens hervorbringen. Die Summe aller Arbeiten eines Künstlers wird als sein Werk bezeichnet.
das habe ich aus https://de.wikipedia.org/wiki/Künstler#Künstlerische_Berufe
Ich hatte das etwas blumiger umschrieben und eigens darauf hingewiesen, dass ich den Begriff Künstler für diejenigen passend halte, die schöpferisch-kreativ tätig sind, man kann auch sagen "der Nachwelt Werke hinterlassen". Auch eine wunderbare Interpretation von Horowitz ist in strengem oder meinetwegen engem Sinn kein "Werk".
Alles andere fällt unter die Frage, was unter künstlerischen Tätigkeiten verstanden wird. Da gibt es vielerlei
Übrigens bucht die Künstlersozialkasse auch bei mir Beiträge ab.
 

@rolf
Das entscheidende Wort im Wipikipedia-Zitat lautet "hervorbringen". Genau das tun Interpreten nämlich.
 
@rolf, warum ist ein Horowitz, der die Noten eines Chopin interpretiert, kein Künstler, ein Monet, der den Seerosenteich in seinem Garten interpretiert, jedoch schon? Was ist der entscheidende Unterschied? Du wolltest sicher nicht schreiben, dass nur abstrakte Maler Künstler seien?
 
...das war zu befürchten...
statt vieler Antworten ein Tante Wiki Zitat:

das habe ich aus https://de.wikipedia.org/wiki/Künstler#Künstlerische_Berufe
Ich hatte das etwas blumiger umschrieben und eigens darauf hingewiesen, dass ich den Begriff Künstler für diejenigen passend halte, die schöpferisch-kreativ tätig sind, man kann auch sagen "der Nachwelt Werke hinterlassen". Auch eine wunderbare Interpretation von Horowitz ist in strengem oder meinetwegen engem Sinn kein "Werk".
Alles andere fällt unter die Frage, was unter künstlerischen Tätigkeiten verstanden wird. Da gibt es vielerlei
Übrigens bucht die Künstlersozialkasse auch bei mir Beiträge ab.

Lieber rolf,

Tante Wiki kann ich auch! :musik018:Voila: https://de.wikipedia.org/wiki/Musiker , daraus

"Musiker (auch Musikanten oder seltener auch Tonkünstler genannt; früher, lateinisch und umgangssprachlich auch Musici) sind Künstler, die musizieren. Der Begriff umfasst sowohl produzierende, als auch reproduzierende Musiker. Produzierende Musiker sind Personen, welche eine produzierende oder leitende Funktion für Musikstücke erfüllen (z. B.: Komponisten, Songwriter, Dirigenten, Musiklehrer, Musikproduzenten etc.). Reproduzierende Musiker sind Personen, die Musik aktiv erzeugen. Hierzu zählen sämtliche Instrumentalisten (z. B.: Gitarristen, Pianisten, Schlagzeuger, Violinisten, DJs etc.) und Personen, die ihre Stimme und/oder ihren Atem für musikalische Zwecke nutzen (z. B.: Sänger, Sprechgesangskünstler, Jodler, Beatboxer, Kunstpfeifer etc.)."

Liebe Grüße :drink::ballon:

chiarina
 
Die Fragestellung, die Stilblüte an den Anfang des Fadens stellte hat sich so wohl schon seit der Entstehung des Berufs des Klavierlehrers gestellt.
Aber eine erhebliche Verschärfung hat sich durch die Erfindung des "Pädagogen an sich" im Gefolge von 1968 in Deutschland ergeben.
Ich bin bis heute unbeugsam der altmodischen Ansicht, dass man zuerst etwas können und verstehen sollte, bevor man dies - und wirklich nur dies! - dann auch unterrichtet.
Wir hatten in Deutschland einen der erfolgreichsten Klavierprofessoren überhaupt, der überhaupt nicht mehr spielte (Kämmerling) und der sich wohl als pädagogischer Künstler (Sorry @rolf ) sah. Ich hatte vor meinem Studium einen ziemlich erfolgreichen Klavierlehrer, der nicht mehr spielte und im Studium vor allem einen fantastischen Pianisten mit hoher pädagogischer Motivation und Kompetenz. Daher habe ich zum Thema keine sehr klare Meinung.
 
@rolf, warum ist ein Horowitz, der die Noten eines Chopin interpretiert, kein Künstler, ein Monet, der den Seerosenteich in seinem Garten interpretiert, jedoch schon?
@Kalivoda zunächst ist mir neu, dass Monet "den Seerosenteich interpretiert" indem er ein Gemälde malt.
Aber egal: wenn für dich eine Mazurka von Chopin und eine Gartenteich quasi dasselbe sind, weil irgendwer das eine und irgendwer das andere interpretiert (und dadurch zum Künstler wird), dann nehme ich das zur Kenntnis. Interessanter Gesichtspunkt ;-)
 
Vielleicht eine Parallele zum Vergleich "reiner KL", "konzertierender Pianist":

ich kenne einen Chemielehrer, der sich seinem Gehabe nach für einen genialen Wissenschaftler hält und der seinen Schülern die Chemie zur Hölle macht. Das größte Bemühen seiner Schüler ist es, diesen Unterricht möglichst schnell abwählen zu können.
Ich kenne aber auch einen Chemielehrer, einen Dr. der Chemie, sehr beliebt bei den Schülern und der mit seinen Schülern sehr gute Chemie-Abi-Noten erreichte. (BaWü = Zentralabitur).
Wäre der erste Chemielehrer wirklich ein guter Wissenschaftler, wäre er nicht in der Schule gelandet, sondern könnte in der Forschung gute Arbeit leisten. Aber offensichtlich war er dazu nicht gut genug. Schule ist nicht sein Ding!
Der zweite Chemielehrer hat in der Schule seinen Platz gefunden, den er sehr gut ausfüllt.

Gibt es KL, die eigentlich gerne konzertierende Pianisten mit Karriere geworden wären - aber sie waren nicht gut genug? Dann bleibt nur noch unterrichten. (Arme Kinder!)

Es gibt bei uns in der Stadt KL, die seit langer Zeit an ihrem Instrument nicht öffentlich zu hören waren. Ich glaube nicht, dass die noch für sich üben um ihr einstiges Niveau zu halten. Wer nicht übt, degeneriert klaviermäßig.

Auskunft eines Schul-Musiklehrers über die KL: wenn die den ganzen Tag Schülergeklimper hören müssen, haben sie die Schnauze voll und werden hinterher nicht mehr für sich selbst üben. - Ich frage mich nur, wie sie ihre Schüler motivieren wollen, wenn sie selbst keine Lust mehr am Musizieren haben.

Meine erste KL (sie hatte diesen Titel eigentlich nicht verdient), die ich ab dem Kindergartenalter ungefähr 5-6 Jahre hatte, hat nie was vorgespielt, höchstens mal in die Tasten gegriffen um einen Fingersatz zu finden. Sie hat sich immer damit gebrüstet, künftige Studenten in der Musiktheorie mit Erfolg durch die Aufnahmeprüfung an der Uni in Tübingen gebracht zu haben. Als Kleiner frägt man natürlich nicht kritisch nach, man kennt ja nichts Anderes. Für meine Eltern gab es damals noch keine Alternative. Nach der Zeit bei ihr konnte ich nicht einmal Noten lesen.

Der nächste KL spielte im Unterricht immer alles vor, war auch Cello-, Oboen - und Klarinettenlehrer, ein Vollblutmusiker und Flüchtling aus Prag. Sein Hauptfach war Klavier, er war Musikdirektor von Rottweil, hatte die Stadtkapelle unter sich, das Kammerorchester der Stadt, natürlich das Jugendkammerorchester der Musikschule, einen Kirchenchor und er spielte Orgel im Gottesdienst.
Er trat oft als Klavierbegleiter einer Cellistin öffentlich auf. Gut erinnern kann ich mich an das D-Dur Klavierkonzert von Hayd, bei dem er das Rottweiler Kammerorchester vom Flügel aus leitete.
Er machte Aufnahmen für den Rundfunk, einen kleinen Teil seiner Aufnahmen kann heute im Internet heruntergeladen werden (ca. 1968, mono).
Vielleicht hätte er als Klavierlehrer hätte besser sein können - das sei dahingestellt. Auf jeden Fall hat er erreicht, dass ich beim Klavierspiel geblieben bin.

Meine Meinung ist, dass ein KL seinen Schülern Vorbilder vermitteln muss, wenn er selbst nicht öffentlich auftritt. Ich selbst hatte immer den Gedanken: "So will ich auch mal spielen können" und "das will ich auch mal spielen können". Ohne diese Motivation hätte ich schon längst aufgehört.

Liebe Grüße

Walter
 
In der Literaturwissenschaft gibt es die Rezeptionsästhetik. Diese geht davon aus, dass beim Lesen eines literarischen Textes Leerstellen, also sozusagen weiße Flecken, die im Text existieren, vom Leser ausgefüllt werden, der als Co-Autor gilt. Dieser sehr individuelle Prozess des Interpretierens führt z.B. dazu, dass wir eine Literaturverfilmung nach dem Lesen des entsprechenden literarischen Textes meist als anders wahrnehmen als das, was während des Lesens vor unserem inneren Auge abgelaufen ist. Es ist demnach schlüssig, Leser und reproduzierende Musiker auf der gleichen Ebene zu sehen. Allerdings sollte unterschieden werden: Der Komponist entspricht dem Autor, der Interpret dem Leser und der Rezipient ebenfalls dem Leser. Der Leser der hat also eine Doppelfunktion inne, die im Bereich der Musik aufgeteilt ist in Interpret und Rezipient: Das, was der Leser als Autor unbewusst vollzieht, gestaltet der musikalische Interpret aktiv und bewusst.
In diesem Sinne gibt es also nur zwei Möglichkeiten: Entweder sind Leser Künstler, oder Interpreten sind keine Künstler.
 

Ähnliche Themen


Zurück
Top Bottom