Harmonik an der Grenze und jenseits von Dur-/Moll

Guten Abend, Pianovirus!

Es gibt zwei Möglichkeiten, Dir die harmonischen Obsessionen
in der Musik des 20. und frühen 21.Jahrhunderts vor Augen zu führen.

Die erste und meines Erachtens schönere:
Du besorgst Dir einen Riesenberg an Partituren und Spielausgaben
von allem, was Dich irgendwie reizt und interessiert - meinetwegen nur Klavierliteratur.
Dabei sind hoffentlich: Schönberg, Webern und Berg,
Debussy, Ravel und Skrjabin, Strawinsky, Bartok, Milhaud, Hindemith,
Messiaen, Jolivet, B.A.Zimmermann, Morton Feldman.
Du gehst die Sachen durch, nicht unbedingt, um sie spielen zu lernen -
aber Du verfolgst am Klavier die Akkordprogressionen
und wirst mit der Zeit wiederkehrende Muster entdecken,
dieselben harmonischen Phänomene bei grundverschiedenen Komponisten.

Schon in der Spätromantik werden Dreiklänge gerne durch Reizdissonanzen erweitert,
die sogenannte Dissonanz wird immer freier behandelt,
was vorallem heißt: Sie ist immer weniger auflösungsbedürftig.
Große Septimen können parallelgeführt werden (bei Ravel und Skrjabin),
dasselbe geschieht bald darauf mit kleinen Nonen, Quartenakkorde
ersetzen die normale Terzschichtung, Ganztonleiter und oktotonische Skala
strukturieren ganze Werke (Debussy und Skrjabin).
Auf die oktotonische Skala rekurrieren später auch Strawinsky (als Korrektiv zur Diatonik)
und Messiaen (der sie als zweiten Modus in sein harmonisches System integriert),
während Schönberg und sein Schüler auf jede Tonart- und Skalenbindung verzichten -
wenn man vom chromatischen Total absieht.

Die zweite Möglichkeit ist ein bischen verkopfter,
läßt sich zur Not aber mit der ersten verbinden: Du liest Sekundärliteratur.
Meine Empfehlungen dazu:

1.) Walter Gieseler: Harmonik in der Musik des 20.Jahrhunderts
zweibändig, Bd.1: Text, Bd.2: Notenbeispiele
Celle, 1996

2.) Claus Ganter (Hrsg.): Harmonik im 20.Jahrhundert
Wien, 1993

3.) Diether de la Motte: Harmonielehre
Kassel, 1976

Viel Freude beim Durcharbeiten!

Christoph

Hallo Christoph,

vielen Dank für diese ganzen, sehr hilfreichen, Hinweise! In Deiner Buchempfehlung (3) habe ich (wie Du oben sehen kannst) schon ein kleines bisschen die Nase hineingesteckt, und finde es (gerade wegen der Kürze) für einen ersten Überblick sehr gut. Die beiden anderen Bücher sind zum Glück auch bei uns ausleihbar...bald habe ich einen kleinen Bücherberg hier ;)

Bzgl. Deiner zwei möglichen "Erkundungsrouten": ganz ohne Sekundärliteratur würde ich zu lange ziellos umherrirren, deshalb hoffe ich, dass es mit einer Kombination beider Routen (+ hoffentlich Diskussion u.a. hier im Forum) klappt, wie Du ja auch nahelegst.

Viele Grüsse,
Tobias
 
Ich lese übrigens gerade von Gottfried Eberle "Zwischen Tonalität und Atonalität - Studien zur Harmonik Alexander Skrjabins". Zwar fehlen mir allzu vielen Vergleichswerte, aber bislang erscheint mir das Buch nicht schlecht. Immerhin verstehe ich jetzt einen Ton mehr in dem Stück, das ich gerade lerne.:D
 
Das hört sich gut an, Kleines Cis! Ist schon notiert auf meiner Bücherliste ;) Welches Stück lernst Du denn gerade?

Ich wollte mich auch mal wieder hier in dem Faden melden, aber habe nicht so viel Zeit für einen längeren Beitrag. Aus dem Bücherstapel, den ich ausgeliehen habe, ist das m.E. bei weitem schönste Buch folgendes von Gomez empfohlene (nochmal dankeschön dafür):

1.) Walter Gieseler: Harmonik in der Musik des 20.Jahrhunderts
zweibändig, Bd.1: Text, Bd.2: Notenbeispiele
Celle, 1996

Der Textteil hat gerade mal 60 Din A4-Seiten, aber es ist alles in einer Klarheit und Kürze geschrieben, wie ich es selten gesehen habe. Ausserdem sehr sympathisch, wie der Autor auch immer wieder klarstellt, das das ganze sein persönlicher Versuch ist, eine Art Systematik in eine aktuelle Entwicklung zu bringen, nämlich die Harmonik bis heute. Sehr zu empfehlen!
 
hallo Pianovirus,

ich beziehe mich auf Deinen interessierten und mit viel Mühe zusammengestellten fragenden Beitrag über Wagner.

Ich bin davon überzeugt, dass man dem Komponisten Wagner Unrecht tut, wenn man ihn und seine kompositorischen Absichten allein auf seine Harmonik reduzieren will. Aber ich kann verstehen, wenn man diese Harmonik - und ebenso die Lisztsche - faszinierend findet.

Ich mache Dir mal einen ganz anderen Vorschlag:
- spiel den langsamen Abschnitt aus Chopins f-Moll Fantasie
- spiel Chopins e-Moll Prelude
- spiel den Schluß der Lisztschen Sonate
- spiel den Klavierauszug (Bülow) vom Tristan Vorspiel
- schau in Wagner/Liszt "Liebestod" hinein
- schau Dir auch die Akkordik der "Todverkündung" in der Walküre an https://www.clavio.de/forum/115858-post84.html

das alles empfehle ich Dir, nicht etwa zu "analysieren", sondern zu hören und - darüber zu staunen.

In den genannten Beispielen findest Du Musik, die ganz offenbar die gewohnte Funktionalität der Harmonik bezweifelt, außer Kraft setzt, umgeht, ersetzt - von allem etwas. Diese Tendenz des In-Frage-Stellens und der Alternative beginnt in Beethovens Spätwerk, verstärkt sich dann bei Chopin, Berlioz, und bei Liszt und Wagner tritt sie so offen zu Tage, dass sie gleich konstitutiv für ganze Werke ist (also nicht mehr "nur" die Ausnahmesituation an exponierten Stellen, wie bei Chopin und Beethoven)

Danach - und sowas zu spielen und zu hören ist ein echtes Erlebnis! - rate ich Dir, das Buch von Kurth zu lesen - es ist eine imnmergrüne Materialsammlung. Aber ich sage Dir auch: ich halte den Versuch einer "Systematisierung" bei Liszt und Wagner für unglücklich - einfach weil wir es mit einem Oeuvre zu tun haben, das sich nach und nach entfaltet, entwickelt hat und dessen Sinn und Absicht sicherlich keine Systematik der erweiterten Harmonielehre ist!

Wenn Du das versuchst, bin ich ziemlich sicher, dass Dir dann vieles bei Richard Strauss und Skrjabin nicht mehr völlig unverständlich oder rätselhaft erscheinen wird. "Lernen" im Sinne von Nachlesen kann man das nicht - man muss es hören, erleben, in sich aufnehmen.

Gruß, Rolf
 
Ich bin davon überzeugt, dass man dem Komponisten Wagner Unrecht tut, wenn man ihn und seine kompositorischen Absichten allein auf seine Harmonik reduzieren will. Aber ich kann verstehen, wenn man diese Harmonik - und ebenso die Lisztsche - faszinierend findet.

Da stimme ich Dir zu; wenn ich mich richtig erinnere habe ich in meinem Eingangszitat aus dem de la Motte sogar ein noch schärferes Urteil über die Harmonie herausgenommen und in [...] versteckt, weil ich das auch nicht so sehe, dass die Stärke nur bei der Harmonik liegt (nur in diesem Faden ist halt der Blick vor allem darauf gerichtet).

Ich mache Dir mal einen ganz anderen Vorschlag:
- spiel den langsamen Abschnitt aus Chopins f-Moll Fantasie
- spiel Chopins e-Moll Prelude
- spiel den Schluß der Lisztschen Sonate
- spiel den Klavierauszug (Bülow) vom Tristan Vorspiel
- schau in Wagner/Liszt "Liebestod" hinein
- schau Dir auch die Akkordik der "Todverkündung" in der Walküre an https://www.clavio.de/forum/115858-post84.html

das alles empfehle ich Dir, nicht etwa zu "analysieren", sondern zu hören und - darüber zu staunen.

Das werde ich machen (und am Staunen bin ich übrigens schon oft genug; ich wollte nicht den Eindruck erwecken, dass es mir "nur" ums Analysieren geht - es geht um einen möglichst vielseitigen Zugang zu Musik, und da gehört eben Analysieren für mich auch dazu) . Vielleicht können wir ja auch ab Mitte April mal über spezifische Stücke hier diskutieren, also im Detail. Dann soll das natürlich nicht wieder eine One-Man-Show von Dir sein müssen, wie bei der Rigoletto-Paraphrase. Ich (und sicher auch andere) werde mich dann aktiv einbringen, bzw. vielleicht sogar besser meine Eindrücke zu schreiben, bevor ich etwas von Dir oder jemand anderem dazu gelesen habe. Wie gesagt bei mir erst ab Mitte April; ich mache dann für ein Stück einen neuen Faden auf, falls es bis dahin noch nichts entsprechendes gibt.
 
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Ein Prélude von Alexej Stanchinskij. (ch = tsch) Das Stück steht in D-Dur und es kommt gleich am Anfang der Akkord d fis gis ais vor. Aus klassischer Sicht denkt man da erst mal an eine Doppeldominante, aber es kommt weit und breit keine Dominante. Ais ist als hochalterierte Quinte verständlich, aber ich habe mich die ganze Zeit gefragt, ob sich zu diesem gis noch mehr sagen lässt, und anscheinend tut es das: Bei Skrjabin gibt es anscheinend Durakkorde mit gleichzeitig hoch- und tiefalterierter Quinte, wobei alterierte Quinte und unaufgelöster (leittöniger) Vorhalt da irgendwie ihre Unterscheidbarkeit verloren haben.
 
(und am Staunen bin ich übrigens schon oft genug; ich wollte nicht den Eindruck erwecken, dass es mir "nur" ums Analysieren geht - es geht um einen möglichst vielseitigen Zugang zu Musik, und da gehört eben Analysieren für mich auch dazu)

hallo,

ich kann Dich da bestens verstehen - genauso hatte ich es auch gemacht!

Eine Anregung zum Umgang mit "Analysen": diese demonstrieren und erklären, wie z.B. leittönige Akkordverbindungen oder Dissonanzen funktionieren - aber sie ersetzen das Hören und Erleben nicht, denn sie sagen uns nie, wie lange dieser oder jener Klang klingt und wirkt - - aber genau davon hängt die oft betörende oder berückende Wirkung in einem Musikstück ab!!!

Deshalb hatte ich Dir empfohlen - und Gomez empfiehlt das sinngemäß auch - einige exemplarische Stücke selber zu spielen oder zu hören.

Harmonische Verbindungen, allerlei Tricks etc. sind auf dem Notenpapier, in der Reduktion auf das Akkordgerüst (etwa in einer Analyse), eher leblos - und wenn man nur so ein Gerüst nachspielt, dann erlebt man die Wirkung nicht wirklich! Bruckner soll gesagt haben, es gäbe nichts besseres, als eine sinnvolle Folge von Dreiklängen - damit hat er nicht ein Harmonielehregerüst gemeint, sondern das Erleben und Hören.

Für die Klangwirkung einer harmonisch exaltierten Stelle ist auch immer die Klangproportion mitentscheidend - das hatte Wagner in einem Brief an von Bülow sehr deutlich ausgedrückt.

In diesem Sinne empfehle ich Dir ein scheinbar ganz harmloses Klavierstück, welches scheinbar nur schönen Wohlklang verbreitet: die dritte Consolation von Liszt! Tatsächlich ist sie ein Lehrstück über erweiterte Harmonik... Auch die Rigoletto-Paraphrase ist da sehr ergiebig!

aufmunternde Grüße,
Rolf
 
Hi Rolf,

ich habe mir mal erlaubt das harmonische Gerüst der Liszt'schen Consolation aufzuschreiben. --> Consolation

Was meinst Du mit "harmonisch exaltierter Stelle"?
Außer ein paar Modulationen, sowohl diatonisch als auch enharmonisch, habe ich keine weiteren "aufregenden" Stellen gesichtet.
Oder scheinst Du etwas anderes zu meinen?
 
hallo Fred,

Deine Analyse ist ok (auch wenn ich z.B. am Ende der Melodie über dem Orgelpunkt des für die Achtelfigur As7 mit 6-5 geschrieben hätte - das ist ein Echo der Melodie).

Das Besondere und Wunderbare dieses Klavierstücks erschließt sich gar nicht mal so sehr in der Analyse (es geht sequenzartig in Großterzen hoch), als vielmehr im flächigen Klang der "harmonischen Klangwolken". Exaltiert und geradezu "frühimpressionistisch" ist der Schluß, der ja in einem Pedal gehalten werden soll - und wenn man das wirklich schön spielt, dann klingt es ganz fantastisch.

Die "Harmonien" werden hier zu betörenden Klangflächen - ein enormes Klavierstück (finde ich)

Gruß, Rolf
 
Ja, tut es. Meinst Du Liszt hat das gedacht? Ok, man weiß es nicht, aber Distanzharmonik lag ja zu seiner Zeit in der Luft.

... als vielmehr im flächigen Klang der "harmonischen Klangwolken". Exaltiert und geradezu "frühimpressionistisch" ist der Schluß, der ja in einem Pedal gehalten werden soll - und wenn man das wirklich schön spielt, dann klingt es ganz fantastisch.
Pedaltontechnik ist großartig. Man kann damit schweben. Bach hat das ja auch schon zum Besten gegeben. Klar, hier geht es klangtechnisch etwas weiter, aber es ist alles noch "funktional".
 

Die einzige geringfügig auffällige Tatsache ist, dass der Chopinakkord halt mittlerweile auch schon mit None vorkommt.
Hatte Chopin einen eigenen Akkord? Spass beiseite, was ist denn bitte ein Chopinakkord? Sollte man das wissen?
Das ist nicht böse gemeint, ich denke nur man sollte Akkorde nach dem bezeichnen was sie darstellen. So gibt es für mich auch keinen "Tristan-Akkord".
 

Ach, das meinst du. Natürlich! Ich war jetzt so auf den Begriff Pedal fixiert...

Der Chopinakkord heißt so, weil Chopin ihn sehr gerne benutzt hat. Es handelt sich um einen Durseptakkord mit diatonischer Sexte statt Quinte. Ich glaube, es ist einsichtig, dass es praktisch ist, so ein Ding mit dem kurzen und prägnanten Terminus "Chopin-Akkord" erwähnen zu können. :D (Dasselbe gilt schließlich auch für den Tristanakkord.)
 
Zuletzt von einem Moderator bearbeitet:
Ach, das meinst du. Natürlich! Ich war jetzt so auf den Begriff Pedal fixiert...

Der Chopinakkord heißt so, weil Chopin ihn sehr gerne benutzt hat. Es handelt sich um einen Durseptakkord mit diatonischer Sexte statt Quinte.
Die Sept im Akkord schließt die Sexte aus. Das ist stimmführungsmäßig bedingt. Wenn Sept im Akkord, dann wird die Sexte zur Tredezime!

Ich glaube, es ist einsichtig, dass es praktisch ist, so ein Ding mit dem kurzen und prägnanten Terminus "Chopin-Akkord" erwähnen zu können. :D (Dasselbe gilt schließlich auch für den Tristanakkord.)
Das ist in keinster Weise einsichtig. Es ist total unpraktisch so einem Akkord einen personifizierten Namen zuzuschreiben. Wird dann jeder Akkord nach einem Musiker benannt der diesen in gewisser Weise bevorzugte?
Ein Akkord ist ein Akkord und kann als solcher durch seine Eigenart indentifiziert werden. Dazu braucht es keine Personennamen.
 
Die Sept im Akkord schließt die Sexte aus. Das ist stimmführungsmäßig bedingt. Wenn Sept im Akkord, dann wird die Sexte zur Tredezime!

Aufgrund der historischen Entstehung des Akkords ergibt es aber Sinn, in diesem Ton eine Sexte zu sehen. Inwiefern unterscheidet sich eine Sexte stimmführungsmäßig von einer Tredezim?
Wobei ich irgendwie den Eindruck habe, dass die Stimmführung, außer im Falle von Chromatik, in der Spätromantik mehr und mehr an Bedeutung verliert und irgendwann ganz verschwindet.

Ein Akkord ist ein Akkord und kann als solcher durch seine Eigenart indentifiziert werden.

Ja, aber Chopin-Akkord ist halt kurz und eindeutig, genauso wie Tristan-Akkord. Ich finde das praktisch, und andere Leute anscheinend auch, sonst hätte sich die Terminologie nicht eingebürgert. Du musst sie ja nicht verwenden, aber dann darfst du nicht überrascht sein, wenn Leute sagen "Ah, aber das ist ja ein Tristan-Akkord! Warum hast du das nicht gleich gesagt... ?" :D
 
Aufgrund der historischen Entstehung des Akkords ergibt es aber Sinn, in diesem Ton eine Sexte zu sehen. Inwiefern unterscheidet sich eine Sexte stimmführungsmäßig von einer Tredezim?
Weil die Sexte gleich wie die Sept behandelt wird. Schau mal einen Sixt ajoutee Akkord an.
Tredezime gilt stets als Quintersatz. Sexte gilt als Septersatz und vizeversa - MA7 oder 6, beide werden stimmführungsmäßig gleich behandelt.

Wobei ich irgendwie den Eindruck habe, dass die Stimmführung, außer im Falle von Chromatik, in der Spätromantik mehr und mehr an Bedeutung verliert und irgendwann ganz verschwindet.
Die horizontale Kraft ist in keiner Epoche der Musikgeschichte verschwunden.



Ja, aber Chopin-Akkord ist halt kurz und eindeutig, genauso wie Tristan-Akkord. Ich finde das praktisch, und andere Leute anscheinend auch, sonst hätte sich die Terminologie nicht eingebürgert. Du musst sie ja nicht verwenden, aber dann darfst du nicht überrascht sein, wenn Leute sagen "Ah, aber das ist ja ein Tristan-Akkord! Warum hast du das nicht gleich gesagt... ?" :D

Ich bin Pragmatiker. Ein Akkord sollte immer nach dem benannt werden was er beinnhaltet.
 
hallo,

also hier muss ich dem kleinen Cis zustimmen.

Eine "angereicherter" Dominantseptakkord wie g-d-f-h-e oder verkürzt g-f-h-e ist gewiß nicht Chopins Erfindung, aber er hat solche Akkordbildungen derart inflationär häufig verwendet, dass sie zurecht den Spitznamen "Chopin-Akkord" erhalten haben. Und natürlich taucht dergleichen bei Chopin in Dur und Moll auf, gelegentlich (aber selten) auch in Verbindung mit einer None.

Wesentlich am "Chopin-Akkord" ist, dass die dissonierende Sexte (im Fall von g-f-h-e das e) eben nicht als Vorhalt geführt wird, also die Dissonanz nicht zwischendurch gemildert wird, sondern dass dieser Akkord einen eigenen "Klangwert" erhält.

Musterbeispiel: Ballade op.38 F-Dur am Ende des ersten Teils.

"Tristan-Akkord" dagegen meint schon mehr, d.h. mit diesem Schlagwort ist nicht nur der (an sich harmlose) Akkord h-f-dis-gis gemeint, sondern auch die außergewöhnliche Tatsache, dass die "Auflösung" dieses Akkords - und wir hören das als Auflösung!!! - ein Septimakkord ist (vgl. den Anfang des Vorspiels zum Tristan)

Manche Musikwissenschaftler - zumal in Polen - meinen, dass Skrjabins berühmter "mysthischer Akkord" c-fis-b-e-a-d-g eine angereicherte und alterierte Ableitung des "Chopinakkords" sei - - - da bin ich mir nicht so ganz sicher, ob ich dem zustimmen kann (weil damit intendiert ist, dass der große Pole (!!!) Chopin den großen Russen Skrjabin schon vorwegnimmt)...

Gruß, Rolf

retour zut Consolation: nicht die Akkorde, sondern die Klangflächen sind hier wesentlich - und das Besondere ist eben der Schluß, der diese (zuvor "harmonischen") Klangflächen auf die Spitze treibt, denn genau genommen ist der Schluß eigentlich arg dissonant!... hört sich aber, gut gespielt, nicht dissonant an
 
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Zitat von Fred:
Weil die Sexte gleich wie die Sept behandelt wird. Schau mal einen Sixt ajoutee Akkord an.
Tredezime gilt stets als Quintersatz. Sexte gilt als Septersatz und vizeversa - MA7 oder 6, beide werden stimmführungsmäßig gleich behandelt.

Ich kann mir darunter irgendwie nichts vorstellen... Was hat die Sixte ajoutée mit einer Septim zu tun? Die erstere geht keineswegs zwingend nach unten. Ich bin aber auch nicht sicher, ob das für meine Zwecke wahnsinnig bedeutsam wäre. Soll heißen: Ich bin nicht überzeugt, ob die Unterscheidung von Tredezim und Sexte für die klassische Musik besonders viel bringt. Dass sie im Jazz anscheinend theorieintern bedeutsam ist, kann und will ich ja nicht leugnen.

Die horizontale Kraft ist in keiner Epoche der Musikgeschichte verschwunden.

Es wird sich aber in der Spätromantik oft genug über viele herkömmliche Stimmführungsregeln hinweggesetzt, auch bei Leittönen! Und darum ging es mir; ob es noch Stimmführungsregeln gibt, die eine über den Moment hinausgehende Gültigkeit haben.

Ich bin Pragmatiker. Ein Akkord sollte immer nach dem benannt werden was er beinnhaltet.

Mir erscheint der zweite Satz im Gegenteil ziemlich idealistisch. ;)

EDIT:
Zitat von rolf:
weil damit intendiert ist, dass der große Pole (!!!) Chopin den großen Russen Skrjabin schon vorwegnimmt

Warum ist dir die andere logische Möglichkeit, nämlich zu leugnen, dass da in irgendeinem Sinn eine Vorwegnahme seitens Chopins bestünde, wenn Skrjabin tatsächlich die Sexte daher hätte, unsympathisch? ;)
 
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Soll heißen: Ich bin nicht überzeugt, ob die Unterscheidung von Tredezim und Sexte für die klassische Musik besonders viel bringt.

Aber für den typischen Klang des Chopin-Akkords ist es doch schon bedeutsam, ob man die Sexte oder die Tredezim nimmt. Beispiel auf a: a-e'-g'-cis''-fis'' ist der typische Chopin-Akkord. Das fis'' ist hier die Tredezime vom a aus. Mit der Sexte sieht der Akkord so aus: a-e'-fis'-g'-cis''. Hier reibt sich das fis' aber arg mit dem g'. Also für den Chopin-Akkord macht es einen enormen Unterschied, ob man die Sexte oder die Tredezim nimmt.

Grüße von
Fips
 
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