Frustrationstoleranz und Kosten-Nutzen Rechnung

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Alter Tastendrücker

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31. Aug. 2018
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Hallo,
es würde mich interessieren, wie Ihr die folgende Betrachtung seht:
Man kann ja beim Erlernen eines neuen Stücks so eine Art Kosten-Nutzen Rechnung aufmachen. Also Cats Dream vom Blatt gespielt, großer Erfolg bei den Anwesenden (1:1 Aufwand zu Wirkung)!
Chopin: Etüde op. 10,2: ein Jahr täglich 30 bis 50 Minuten üben, dann 90 Sekunden spielen und ab der zweiten Seite nur noch Gewürge, weil der Flügel überraschend schwer geht (Verhältnis potenziell unendlich zu Null)! Mit der Terzenetüde kann man ähnliche Erlebnisse sammeln!
Was ist noch akzeptabel zwischen diesen Extremen?
 
Derlei Überlegungen hatte ich auch mal angestellt.

Entweder redet man sich ein, der Weg sei das Ziel und empfindet am Üben Freude und beschränkt Darbietungen vor anderen auf ein Minimum, oder man lässt das Literaturspiel sein. Das Verhältnis von investierter Übezeit zur gewonnenen Repertoire-Erweiterung ist immer schlecht, hinzukommt das zwangsläufige Abklingen des aufgebauten Repartoires, so bald man was Neues anfängt.

Durch sinnvolles Üben scheint man den Repertoire-Erhalt etwas stabilisieren zu können, aber nur in engen Grenzen.

Meine Idee eines Auswegs war noch, Improvisieren zu üben, weil man dann wenigstens unbegrenztes Repertoire hat (auf dem jeweils erreichten Improvisations-Level). Der Weg war mir aber auch zu steinig, so dass ich mich für "Der Weg ist das Ziel" entschieden habe.
:bye:
 
allein das Üben wundervoller Literatur ist Eiscreme ohne Ende!
Die Terzenetüde hat mir beigebracht, wie man Terzen spielt. Sie bereiten mir seltenst in anderen Stücken Schwierigkeiten. Könnte daran liegen, daß Chopin mit seiner ungemein süffigen Musik mich immer wieder an´s Klavier gesogen hat, um die schillernden Triller in mein Ohr zu zaubern.
 
Wer gerne vorspielt, oder zwangsläufig häufig(er) vorspielen muss, sollte nach Effekt-Literatur suchen, die nicht lang geübt werden muss. Dabei richtet sich das Genre dann ja vielleicht auch nach den Zuhörern. Da steht der Nutzen weit über den Investitionen. Ich glaube, dass viele Pianisten häufig "Perlen vor die Säue" werfen, sich halb tot üben für Sachen, die von den Wenigsten angemessen gewürdigt werden. Habe selbst auf einer Kirchenmusikerstelle diese Erfahrung gemacht. Der lang einstudierte große Bach wurde beim Herausgehen gerade noch wahrgenommen, begleitet von Gequatsche, dem Öffnen des Regenschirms, etc. Bei einer Improvisation, die im markerschütternden Tutti endete, blieben zu meiner Überraschung alle sitzen, klatschten Beifall und sprachen mich hinterher an: Kosten 0, Nutzen 100%. Zurück zum Klavier: das enthusiastisch eingeübte Klavierwerke verloren gehen, halte ich für eine Katastrophe. Ich schlage einen Dreischritt vor: 1. Einstudieren neuer Werke, die einen graduell stets höheren Anspruch haben. 2. Repertoirepflege allgemein: regelmäßiges Spiel der erarbeiteten Werke, keine langen Pausen einlegen. 3. Repertoire-Studien: am Repertoire Schwachstellen üben, wie ein neues Werk. Dafür verlangt das Klavier seinen Preis: Zeit!
 
Wie wäre es mit einer guten Mischung? Sprich, das Material des Vorspiels mit 1. Repertoire (Aufwand nur hinsichtlich Repertoirepflege), 2. neuen Stücken, die eher schnell gelernt sind (Erarbeitung in bis zu 2 Monaten) und 3. Stücken, deren Vorbereitung länger dauert. Da man, wenn man regelmäßig vorspielt, eh verschiedene Stücke in Bearbeitung hat, ist es dann nicht so schlimm, wenn die Vorbereitung einzelner Werke wesentlich länger dauert, wenn dafür andere Kirschen mit weniger Aufwand im Vorbeigehen gepflückt werden können.
 
bestimmte Stücke nicht einstudieren möchte, weil ihr das zu teuer ist.
Ich finde es nachvollziehbar, sich als Amateur auf niedrig hängende Früchte in Form leichter Stücke zu konzentrieren. Man kann trotzdem Freude haben. Entspannung vielleicht sogar mehr, als wenn man sich ständig weiterentwickeln möchte.

Ob man dann eine KL braucht, sei dahingestellt, aber wenn man ihn sich leisten kann – warum nicht?
 
Hallo,
es würde mich interessieren, wie Ihr die folgende Betrachtung seht:
Man kann ja beim Erlernen eines neuen Stücks so eine Art Kosten-Nutzen Rechnung aufmachen. (...)
...tja, auch wenn die Absicht der "Überlegung" eigentlich vernünftig ist, so ist die geschilderte Verfahrensweise kläglich!

Ein Profi erstellt einen Wirtschaftsplan, bevor er in ein Projekt zu investieren erwägt. Dein Chopinerlebnis (schlecht verkäufliches Produkt mit hohen Herstellungs- und Wartungskosten bei absehbar geringem Umsatz) wäre dir erspart geblieben, wenn du vorab BWL studiert hättest und besagten Plan korrekt erstellt hättest.

...und abseits von durchdachten wirtschaftswissenschaftlichen Erkenntnissen mal unter uns gesagt: der Nutzen kann bei kakophonischem Krempel wie Chopinetüden doch nur kläglich ausfallen im Vergleich zu schönen Liedern;-)
 
Welch wunderbare Antworten @rolf und @Alter Tastendrücker!
Mein Lehrer sagt immer: "You never get payed for practising"
Tatsächlich bin ich einmal so vorgegangen. Ich bekam eine Anfrage, nur Stücke von Komponistinnen zu spielen. Die Gage war ok., aber mir war es zuviel Aufwand, Werke auswendig zu lernen, die ich in meinem Leben nie wieder anfassen würde und da entschied ich mich, Improvisationen zu spielen, ich bin ja schliesslich mit zwei x-Chromosomen gesegnet. Dieser Auftritt brachte mir in Folge jede Menge lukrativer Auftritte mit eigenen Stücken. Die Entscheidung war also genau richtig;-).
Ansonsten: s.o.
 

Habe selbst auf einer Kirchenmusikerstelle diese Erfahrung gemacht. Der lang einstudierte große Bach wurde beim Herausgehen gerade noch wahrgenommen, begleitet von Gequatsche, dem Öffnen des Regenschirms, etc.

In der Dreifaltigkeitskirche Hannover war ich sehr beeindruckt von der Tatsache, dass die gesamte Gemeinde, beim eigentlichen Auszug, bis zum letzten Ton sitzen bleibt und dann applaudiert. Egal, ob die Organistin, die Musikgruppe oder, wer auch immer, musiziert.
 
Ich habe bis heute noch nicht herausgefunden, wie man Ersteres erlernen kann.
Kinder machen und lernen vieles aus Spaß an der Freude, wie Rad fahren, schwimmen, zeichnen, basteln, musizieren und anderes. Wenn das mit zunehmendem Alter nachlässt, dann sind die Ursachen vielfältig. Erlernen kann man wohl höchstens, ein kindliches Gemüt zu erhalten, wobei die Lebensumstände mitunter ungünstiger werden.
 
In der Dreifaltigkeitskirche Hannover war ich sehr beeindruckt von der Tatsache, dass die gesamte Gemeinde, beim eigentlichen Auszug, bis zum letzten Ton sitzen bleibt und dann applaudiert. Egal, ob die Organistin, die Musikgruppe oder, wer auch immer, musiziert.
..das kann nur 'ne evangelische Kirche sein, die sind meistens besser erzogen..;-) die Katholiken leben aber im Stand der (H) Eiligkeit..;-)
 
Komplizierte Sache. Oft sind Stücke die die Musiker total feiern, weil "random berühmter Komponist" nicht ebenso honoriert bzw. als besonders wahrgenommen seitens des Publikums.

Ein bravourös vorgetragenes Solostück wird müde beklatscht und bei einem 0815 Pop-Titel (den man selbst nicht mehr hören kann) steht alles Kopf.

Ursachenforschung? Sicher ist das alles komplett abhängig vom Kontext. Aber zur Kontextualisierung kann auch ein Moderator bzw. eine Moderation beitragen. Ich meine "was wissen denn die Menschen in Gottesdienst 15 nach Trinitatis über Passacaglia xy?".

Klar wenn ich als Zuhörer das nötige Wissen mitbringe oder aufgrund meines Vorwissens überhaupt erst zu einem Konzert gehe.

Ich würde soweit gehen, dass ein zu Tränen vernichteter Organist die Schirmherren verflucht und sie unverhohlen damit konfrontiert: "Das war das von dem und ich saß daran so und so lang. Die Schwierigkeit besteht daran... und hören Sie hier ... hören Sie?"

Und warum fanden sie die Improvisation "besser"? Nun, vielleicht weil es unverkrampfter, unverkopfter un- "hilfe Bach *vorehrfurchterstarr* (oder wahlweise: "ok ich spiele diesen Namen, allein das macht mich schon geil... und wenn mir einer abgeht ... ) war.

Vielleicht konnten die Zuhörer 1:1 die Emotion des Organisten mitkriegen und mussten das nicht erst auf dem Umweg Übersetzung in eines anderen Komposition erfahren.

Und Improvisationen wie einfachen Stücken ist es eigen, dass man sie ganz gut beherrscht.

Erst wenn ich das kann, kann die Komposition "mir dienen" (wird wahrscheinlich wieder komisch aufgefasst werden von einigen hier, aber treffender fiel es mir grade nicht ein) und ich bin nicht mehr der Kasper - Marionett der irgendwelche Punkte abklappert.

Man unterscheidet sich sonst kaum von einer Lochkarte in einer Spieluhr.
 

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