Ei gude - wie?

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19. Juni 2013
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Oft belächelt, schlimmer noch: veräppelt - der Gutmensch. Dabei sollten wir einmal genauer hinschauen und lernen, ihn in seinen Bedürfnissen und Abhängigkeiten zu verstehen - bevor man schließlich in seiner Manier ein vorschnelles Urteil fällt.

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Den Gutmenschen bekümmert das Leid, wie es sich um ihm herum bemerkbar macht: als Filmausschnitt beim häuslichen Konsum der Fernsehnachrichten, während er das üppige Abendbrot in sich reinschiebt. Der Kontrast zwischen seinem angenehmen Leben und den Kriegs- und Elendsbildern auf dem Flachbildschirm ist zu gewaltig. Er verdirbt ihm fast schon den Appetit und erzeugt ein potentiell schlechtes Gewissen. Zur Wiederherstellung ungetrübter Essensfreude und zur Beseitigung des schlechten Gewissens muß dieser Kontrast verringert werden - ein guter Grund, die Weltverbesserung in Angriff zu nehmen.

Weltverbesserung ist schön, aber mit dem ersten Schritt in der Praxis aufreibend und häßlich: Man begegnet lauter unauflöslichen Widersprüchen, in sich und bei den Mitstreitern, und man erkennt die nicht zu harmonisierenden Interessen-Gegensätze zwischen Konfliktparteien. Es kann nicht jedermanns Aufgabe sein, dabei seine Kräfte zu verschleißen. Es muß auch Träumer geben, die den Rest der immer noch herzensträgen Menschheit von der großen Utopie der Weltverbesserung überzeugen: durch aufrüttelnde Worte, Spendenaufrufe, Fair-Trade-Basare, Demonstrationen, Mitgliedschaft bei einer NGO. Das aufrüttelnde Wort ist mindestens so wichtig wie die Aktion der Kollegen vor Ort.

Das aufrüttelnde Wort ist auch deshalb so wichtig, weil der Mensch ja prinzipiell gut ist und einzig durch miserable Lebensverhältnisse vom Ausleben seiner Gutheit abgehalten wird. Wenn die Menschheit nur auf die flammenden Appelle hörte - wi wont piss foa äffriboddi - wären längst alle Probleme beseitigt. Das goldene Zeitalter könnte anbrechen, ein säkulares Paradies ließe sich errichten - weshalb es verpflichtend ist, die andern immer aufs Neue zu belehren.

Das Wort allein ist für den Gutmenschen bereits schöpfungsmächtig (das verbindet ihn mit Gott, zu dem er sonst eher auf Distanz bleibt). Die allseits befriedete Welt kann schon vorweg Gestalt annehmen, durch Sprachregelungen und Denkverbote, deren Einhaltung dann umso dringlicher zu überwachen ist. Und weil das Private politisch ist und weil alles mit allem zusammenhängt wie der berühmte Schoppen Rotz, treibt es den Weltfrieden voran, wenn man seinen Nachbarn eines als falsch zu deklarierenden Wortgebrauchs überführt.

Sich so nah am Innersten zu bewegen, das die Welt zusammenhält, euphorisiert den Gutmenschen; das hehre Ziel färbt auf ihn ab, das Gute seiner Absichten durchdringt und prägt ihn. So von sich überzeugt sein zu können, ist eine Droge, auf deren Genuß er nicht mehr verzichten kann. Der mit nüchterner Selbstbegegnung verbundene Entzugsschmerz wäre unaushaltbar. Für den einmal angefixten Gutmenschen ist die Weltverbesserung nur noch Mittel zum Zweck; Ziel ist das Bedürfnis, sich selbst als gut erleben zu können.

Für die Selbststabilisierung so wichtig wie das Gefühl, gut zu sein, ist die Abgrenzung von dem noch unerleuchteten Rest der Menschheit. Der Gutmensch hält sich in puncto Weltverbesserung für allein legitimiert. Daß es neben seinen Zwangsgedanken andere - pragmatische, weniger belastete - Sicht- und Herangehensweisen gibt, paßt nicht ins dualistische Weltbild und wird entsprechend ignoriert oder bekämpft. Wer nicht dazugehört, muß sich vor dem Gutmenschen einer Gewissensprüfung unterziehen, und die Absolution wird Andersdenkenden nur zuteil, wenn sie dem Geßlerhut gutmenschlicher Tabus und Sprachregelungen ihre Reverenz erweisen.

In programmatischer Schärfe bekämpft der Gutmensch alle Formen von Intoleranz - wird aber selber intolerant gegenüber jedem, der sich nicht vor dem Geßlerhut gutmenschlicher Tabus und Sprachregelungen verneigt - wobei man anerkennen muß, daß diese Intoleranz des Gutmenschen im Dienst der edelsten Sache steht und deshalb gerechtfertigt ist: Abweichler werden ausgegrenzt, mit übler Nachrede bedacht, denunziert, um ihren Beruf gebracht - und in letzter Instanz wäre es angemessen, sie zu liquidieren - wenn, ja wenn sich dadurch das Unrecht nur ein für alle Mal aus der Welt schaffen ließe...

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Wenn es Deine Zeit und Motivation zulässt, wünsche ich mir noch so eine launige Satire über den "Besorgten". :lol:
 
:lol:

Ein sehr treffendes Beispiel für Gomez' grandiose Charakterisierung. Im Endstadium der Selbstgerechtigkeit versteigt sich der Gutmensch gar zur Schaffung einer imaginären neuen Wirklichkeit, in der Gesetze nur noch dem eigenen moralischen Maßstab gehorchen: "Das steht nicht in unserem Grundgesetz!!!". In dem Fall ist der Anspruch kaum nachvollziehbar, hat doch das Gute eh über das Recht triumphiert.
 
Wenn es Deine Zeit und Motivation zulässt, wünsche ich mir noch so eine launige Satire über den "Besorgten".

Satiren auf Bestellung sind schwierig. Ich bin kein Journalist. Aber weil sich diese Spezies in Mecklenburg-Vorpommern gerade erfolgreich an der Wahlurne ausgetobt hat, will ich versuchen, mich ihr zuzuwenden - wobei die Geschichte ziemlich traurig wird und ein offenes Ende hat.

Terminologisch @Rheinkultur : Der Besorgte ist alles, nur nicht betroffen. Der Begriff „Betroffenheit“ wurde durch epidemischen Gebrauch im grün-alternativen Milieu so entwertet, daß man ihn außerhalb dieses Soziotops nicht benutzt. Ein klarer Fall von Konditionierung: Kaum fällt irgendwo dieses Wort, schon hat man die typisch-grüne Heulsuse vor Augen.

Ferner: „die besorgten Bürger“ - das ist entweder auch schon ein Witzwort oder - wenn ernst gemeint - ein Euphemismus. Zum einen ist 'Sorge' ein Tarnbegriff im Munde rechter Ideologen, die für ihre öffentlichen Auftritte Kreide fressen, weil sie das als Stimmvieh zu umwerbende konservative Klein-/Bürgertum nicht abschrecken wollen. Was sie mit Sorge umschreiben, ist in Wirklichkeit ihr diffuser Haß auf alles Allochthone: ihr Lieblingssündenbock, auf den sie alles übertragen, was ihr Fassungsvermögen übersteigt, bevor sie ihn in jene Wüste zurückschicken möchten, aus der er nach ihrer Ansicht kommt. - Zum andern wird Sorge als sendetauglicher Begriff in Gesprächen mit den sogenannten Mainstream-Medien benutzt, die das dahinterstehende Ressentiment in anderer Gestalt nicht dulden würden (anders als in den 70ern; da durfte jeder Bauer auf einer Anti-AKW-Demo in die Kamera grunzen. Damals war der Volksmund noch zugelassen. Daß das heute nicht möglich ist, aus nachvollziehbaren Gründen, verstärkt bei den Ausgeschlossenen die Wut und bestätigt sie in ihrer Wahrnehmung der Mainstream-Medien als parteiisch und parteilich).

Zuguterletzt müßte man unterscheiden zwischen Rattenfängern, die mit dem Eingehen auf die diffusen oder konkreten Ängste ihrer Landsleute auf Stimmenfang gehen, und dem Gros überforderter und desorientierter Menschen, das ihnen die Stimme leiht. Ich halte diese Unterscheidung für wichtig und versuche, mich dem zweiten Typus zuzuwenden, wobei als Schwierigkeit hinzukommt: Ein Soziogramm muß nach der Sozialisation fragen. Ost- und Westsozialisation sind noch immer sehr bestimmend. Ich beschränke mich qua Erfahrung auf den Wessi-Typus.
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Die Urform des Besorgten - in seiner älteren Ausprägung - hat den gesellschaftlichen Umbruch erlebt, der mit dem Reizbegriff '68' verbundenen ist. Mit ihrem schleichenden Sieg über das Establishment wurden die verbürgerlichten 68er selber zum neuen Establishment, lange bevor sie 1998 bundesweit mitregieren durften. Ein Teil ihres Schwarzweißdenkens, ihr Tonfall, ihr Diskussions- und Lebensstil, all das wurde schon Anfang der 70er Jahre prägend. Nachdem sie mit viel gutem Haschischdunst den Muff von tausend Jahren ausgetrieben hatten (dachten sie zumindest), bis zur letzten Institution durchmarschiert waren, der kleinstädtischen Volkshochschule, der regionalen Sendeanstalt und dem Pfarrgemeinderat, hatten sie das Wichtigste erobert: die Diskurshoheit. Und das tags zuvor noch bekämpfte Bürgertum reihte sich willig ein, von linksliberal bis konservativ, übernahm etwas vom Habitus und der Phraseologie, geködert vom Lebenselixier der im Grunde apolitischen 68er: dem Hedonismus. Es hat sich 'Sex and Drugs and Rock 'n' Roll' einfach nur abgewandelt in 'Zweitfrau, Alk und Popmusik' – schon war's dabei. Selbst die prominentesten Gegner der Alternativkultur sind von 68 geprägt worden und profitieren davon; daß ein Horst Seehofer (CSU) in Berlin eine offene Zweitbeziehung mit seiner Sekretärin lebte, ihr gar noch ein Kind gemacht hat, hätte früher sein politisches Ende bedeutet. Soviel zur illusionären Hoffnung von AfD-lern, sie könnten 1968 ungeschehen machen und die Zahnpasta zurück in die Tube quetschen.

Die Urform des Besorgten ist der im Wandel der 60er/70er Jahre Zurückgebliebene. Von Haus aus nicht sehr wortmächtig, Arbeiter oder Handwerker, Kleinbürger, potentiell eher sozial- als christdemokratisch wählend, von Natur aus duckmäuserisch, nach TWA der klassische autoritäre Charakter. Mitbestimmung hat es in seiner Kindheit nicht gegeben, Pluralität der Lebensstile erst recht nicht. Er verkraftet den Wandel um sich herum, weil das Vertraute noch da ist. Aus dem Radio dudelt es zwar angloamerikanisch, aber es gibt ja die Einser-Sender mit deutschem Schlager. Er ist kein Freund von Straßenfesten, geht aber mit seinen Kindern dorthin, um ihnen eine Freude zu machen. Das offizielle Multikulti-Programm ist ihm fremd, aber solange es beim rein symbolischen Geschmuse bleibt, spendiert auch er mal ne Mark für Eritrea. Er versteht nicht, warum die Moderatoren bei „Panorama“ und „Report“ so schlecht gelaunt sind, aber zum Glück gibt's ja das zweite Programm mit dem französischen Spielfilm, der ihn einschlafen läßt. Und der Zustrom an Nicht-Biodeutschen in seinem Leben ist übersichtlich: der indische Arzt im Krankenhaus, nachts in der Notaufnahme, der besser Deutsch spricht als er selbst, der persische Taxifahrer, viel höflicher als seine Landsmänner, die immer über den miesen Verdienst maulen, last not least: der schwarze Paketbote.

Zusammengefaßt: Solange es ihm halbwegs gutging, hat sich dieser Typus zurückgehalten, und wie gesagt – er ist ja auch selbst Profiteur des gesellschaftlichen Wandels, war schon mal im Sexshop, im Balkan-Grill und freut sich insgeheim an den Blue-Jeans-Knackärschchen der jungen Mädels. Aber zugleich brodelt es in ihm, kaum in Worte zu fassen (während die da oben quasseln können, unablässig und unverständlich). Erst als sich die Welt um ihn herum auf drastische Weise ändert, findet er seine Stimme: seine Arbeitskraft wird nicht mehr gebraucht, die seiner Kinder auch nicht, oder nur gegen schlechte Bezahlung, die neue Hartz-IV-Regelung vergreift sich an seinem Ersparten; er erkennt seinen Kiez nicht wieder: die Bürgersteige vermüllt, die Fassaden graffito-besprüht, in Bahn und Buß ein sichtbar höherer Anteil an Nichtdeutschen; die Geschichten seiner Kinder über Gewaltexzesse: Tritte gegen den Kopf jemandes, der schon bewußtlos am Boden liegt, das gab's in seiner Jugendzeit nicht, Nachrichten über Ehrenmorde und Messerstechereien, und dann letztes Jahr der Zustrom von einer Million Flüchtlinge, zwar nicht in seiner Lebenswirklichkeit, aber in den Nachrichten, täglich kommentiert - Wasser auf seine Mühlen. Die D-Mark wurde ihm genommen und durch Knete ersetzt, mit der die Griechen ihre Schulden bezahlt bekommen; Brüssel und nicht mehr der Brauer um die Ecke bestimmt, was in seinem Bier schwimmen darf, und sein Vaterland wird mit Ausländern geflutet, die hier mehr Knete bekommen als der deutsche Asi, mit dem er sich zum ersten Mal in seinem Leben solidarisch fühlt.

Seine Verunsicherung läßt ihn jede Horrorgeschichte aufgreifen: in Bremen ganze Stadtteile in den Händen des Miri-Clans, der Berliner Görtlitz-Park eine Drogenstube ohne Dach, Köln, die geschändeten Mädchen aus der Silvesternacht – die in Protzbungalows im geschützten Bereich wohnende Politik duldet da unten rechtsfreie Räume, überläßt den einfachen Bürger der Straßenkriminalität und macht sich auch noch lustig über ihn, wenn er vor laufender Kamera, steif und ungelenk, darüber zu sprechen versucht. Er sehnt sich nach seiner Rohrstock-Kindheit zurück, als alles noch ordentlich und übersichtlich war.

Man fordert ihn zwar alle vier Jahre auf, sich an der politischen Willensbildung zu beteiligen, aber bei den etablierten Parteien gibt es niemanden, der seine Verbiesterung versteht und seine – tja, darf man das jetzt so nennen? - Sorgen teilt. Keine der sogenannten Volksparteien tut das. Erst rechts davon tauchen Kräfte auf, mit denen er bisher eigentlich nichts am Hut hatte.

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