Die Kompositionen von Fazil Say - Kitsch oder Kunst?

Z

Zoel

Guest
Eine Zeitlang habe ich mir auf Youtube die Kompositionen von Fazil Say angehört, der ja zur Zeit wegen dem Gerichtsverfahren gegen ihn in den Medien ist. Diese Kompositionen wurden ja teilweise sehr gelobt, ich bin mir aber ziemlich sicher, dass z. B. Adorno sie als Folklore-Kitsch verdammt hätte. Zu recht?

Da ist seine bombastische Istanbul-Symphonie, in der romantisches Vokabular mit einigen Orientalismen gewürzt wird:
Fazil Say - Instanbul Symbphony
Gelungener und stellenweise wirklich bewegend finde ich da schon eher sein Oratorium über den Dichter Nazim Hikmet:
FAZIL SAY - NAZIM ORATORYOSU - NAZIM ORATORIO - YouTube
Außerdem gibt es noch einige kleinere Klavierstücke, wie die folgende Ballade, die zwar eine verzaubernde Melodie, aber sonst nicht viel Interessantes zu bieten hat:
FAZIL SAY - BALLAD NO 2 : "KUMRU" For Piano - YouTube
Interessanter sind die Tänze von Nasreddin:
FAZIL SAY 4 DANCES OF NASREDDIN
Eine seiner besten Kompositionen für Klavier solo sind vielleicht die jazzigen Paganini-Variationen:
Fazil Say - Paganini Variations - YouTube

Was haltet ihr von diesen (und anderen Say'schen) Werken? Es soll hier ausdrücklich nicht um die Interpretationen oder das pianistische Können von Say gehen, sondern um den musikalischen Gehalt seiner Kompositionen. Er hat ja den Anspruch - und wird so auch von vielen Journalisten gesehen -, dass er nicht nur Pianist, sondern auch ernstzunehmender Komponist ist.
 
Gegenfrage: Sind die "Estampes" von Debussy Folklorekitsch?
 
Also ich spiele seine Summertime Variations und Alla Turca Jazz gerne. Ob das jetzt große Kunst ist? Egal, Hauptsache es macht Spaß:-).
 
Gegenfrage: Sind die "Estampes" von Debussy Folklorekitsch?
Keine Ahnung, ich habe sie (noch) nicht gehört. Das werde ich demnächst nachholen.

Also ich spiele seine Summertime Variations und Alla Turca Jazz gerne. Ob das jetzt große Kunst ist? Egal, Hauptsache es macht Spaß:-).
So denke ich manchmal auch, und ich habe auch Sympathien für diese Position - allerdings könnte man doch so alles rechtfertigen. Bestimmt haben die Comptine-Spieler auch großen Spaß, wenn sie "ihr" Stück spielen. (Was ja auch ok ist, nur ist es deshalb nicht obsolet, Musik auch nach bestimmten, ernstzunehmenden Kategorien zu bewerten.)
 
Zoel, mit meiner Gegenfrage wollte ich andeuten, dass das Einbringen folkloristischer Elemente noch lange nicht ein Werk zum Folklorekitsch macht. Wäre dem so, so müsste man vermutlich die halbe Klassik "aussortieren". Denk nur mal an Smetana, Mussorgsky u.v.m. bis hin zu Gershwin. Ob Kitsch oder Kunst ist eine Frage der Gestaltungstiefe - diese scheint MIR bei Fazil Say schon gegeben, und eben im Gegensatz zur zitierten Comptine. Das man letztere mit Spaß spielen und auch (nicht zu oft ;-)) hören kann, ist dabei unerheblich.

Aber vielleicht äußern sich hier Berufenere noch dazu?

Mir fehlt in Deiner Aufzählung eigentlich noch ein typisches FS-Stück (das allerdings auch schon wieder eine Barbeitung ist):
 
Zoel, mit meiner Gegenfrage wollte ich andeuten, dass das Einbringen folkloristischer Elemente noch lange nicht ein Werk zum Folklorekitsch macht. Wäre dem so, so müsste man vermutlich die halbe Klassik "aussortieren". Denk nur mal an Smetana, Mussorgsky u.v.m. bis hin zu Gershwin. Ob Kitsch oder Kunst ist eine Frage der Gestaltungstiefe - diese scheint MIR bei Fazil Say schon gegeben, und eben im Gegensatz zur zitierten Comptine.
Ich stimme dir völlig zu, dass vieles, was in der Romantik und Spätromantik, später dann auch im Jazz an Folklore-Elementen in die Musik hineinkommt, eine unglaubliche Bereicherung der Musik war und ist, und keineswegs als Kitsch abgetan werden kann. Ich muss sagen, dass ich Musik, die einen etwas "exotischen" oder "volkstümlichen" Charakter hat (sofern er authentisch ist und nicht gekünstelt), sogar besonders mag.

Allerdings sind wir heute in einer etwas anderen Situation als die Romantiker, als Gershwin: Es gab eben die "atonale" Revolution in der Musik, die Abkehr vom romantischen Sentiment, und Komponisten wie die der Neuen Wiener Schule, Cage, Ligeti, Varèse, Stockhausen usw. haben ihre Werke geschrieben. Nun komponiert aber Fazil Say, als ob er von diesen Entwicklungen kaum etwas mitbekommen hätte (obwohl er durchaus diese Komponisten kennt, er hat sich mit moderner Musik ausführlich beschäftigt, wie man der Say-Biographie von Otten entnehmen kann). Er unterschreitet somit ein bereits erreichtes Reflexionsniveau, seine Musik ist unter den heutigen Bedingungen nicht mehr authentisch, was er durch Bombast und Sentimentalität (was nicht dasselbe wie Sentiment ist!) auszugleichen versucht. Ob die etwas vage Kategorie der "Gestaltungstiefe" hier weiterhilft, wage ich zu bezweifeln.
Es bleibt jedem unbenommen, diese Ansichten für elitär zu halten und in den Klängen der "Istanbul-Symphonie" zu baden.
 
Zoel, so ganz kann ich dieser Argumentation nicht folgen. Über den Unterschied zwischen Volksmusik und volkstümlicher Musik brauchen wir glaube ich nicht zu diskutieren. Ich maße mir kein Urteil über türkische Folklore/Volksmusik an, dazu habe ich nicht die Kompetenz.
Versteh ich aber Deine nachfolgende Argumentation richtig, dass man aufgrund der musikalischen Entwicklung im letzten Jahrhundert nur mehr atonal komponieren darf? Und was heisst in diesem Zusammenhang Reflexionsniveau welches unterschritten wird? Mir ist die Istanbul-Symphonie auch "zu schwülstig" aber kann das nicht auch Ausdruck bzw. Element der osmanischen Kultur (wie z.B. in der Architektur) sein?
 
Allerdings sind wir heute in einer etwas anderen Situation als die Romantiker, als Gershwin: Es gab eben die "atonale" Revolution in der Musik, die Abkehr vom romantischen Sentiment, und Komponisten wie die der Neuen Wiener Schule, Cage, Ligeti, Varèse, Stockhausen usw. haben ihre Werke geschrieben. Nun komponiert aber Fazil Say, als ob er von diesen Entwicklungen kaum etwas mitbekommen hätte (obwohl er durchaus diese Komponisten kennt, er hat sich mit moderner Musik ausführlich beschäftigt, wie man der Say-Biographie von Otten entnehmen kann). Er unterschreitet somit ein bereits erreichtes Reflexionsniveau, seine Musik ist unter den heutigen Bedingungen nicht mehr authentisch, was er durch Bombast und Sentimentalität (was nicht dasselbe wie Sentiment ist!) auszugleichen versucht. Ob die etwas vage Kategorie der "Gestaltungstiefe" hier weiterhilft, wage ich zu bezweifeln.
Es bleibt jedem unbenommen, diese Ansichten für elitär zu halten und in den Klängen der "Istanbul-Symphonie" zu baden.
Der Name Gershwin ist soeben gefallen. Es ist bekannt, dass er bestens vertraut war mit den Vertretern der nordamerikanischen Avantgarde seinerzeit (Cowell, Ruggles, Lou Harrison u.a.) und eng mit dem im Exil lebenden Arnold Schönberg - folgerichtig unterscheidet sich seine Musiksprache von der aller eher populären Komponisten-Kollegen (Rodgers, Porter, Berlin etc.), ohne an Gehalt einerseits und an populärer Wirkung andererseits einzubüßen. Sein Bruder Ira hat als Texter sehr viel mit Kurt Weill zusammengearbeitet, dessen Musiksprache in einer ähnlichen Position anzusiedeln ist: Avanciert, ohne deshalb unpopulär zu werden. Freilich hat Weill im Zuge der in Berlin erworbenen Erfahrungen zunächst das ganze Arsenal an avantgardistischen Stilmitteln der frühen 1920er-Jahre auch kompositorisch genutzt (1. Sinfonie, Violinkonzert).

Während Kunstmusik in der Kombination mit süd- oder osteuropäischem Einschlag in vielen Facetten im Repertoire präsent ist, dürfte die Verbindung mit vorderasiatischen (hier türkischen) Elementen weniger oft zustande gekommen sein, was zunächst neugierig macht. Dennoch spielt sich da etwas ab, was ein wenig an die Person und das Lebenswerk von Friedrich Gulda erinnert: Im Zentrum steht die klassische Pianistik auf einem sehr hohen Niveau, die mitunter sehr unkonventionell in der Präsentation daherkommt. Von diesem Standard aus erfolgen Exkursionen auf Gebiete wie Komposition einerseits und Jazz/Popularmusik andererseits - ebenfalls auf einem hohen Qualitätsniveau. Trotzdem ist und bleibt mir der klassische Pianist die plausibelste der gespielten Rollen, auch wenn es vermutlich der Künstler selbst ganz anders sehen möchte - das macht die Sache natürlich für alle spannend, zumal das Sortieren nach E und U hierzulande in den Köpfen immer noch herumgeistert. Hätte ein Leonard Bernstein in Mitteleuropa seine Karriere begründen müssen, hätte er sicherlich einiges anders gemacht. Aber wenn man sich überlegt, dass sich ein Wilhelm Furtwängler lieber als Komponist als als Dirigent gesehen hätte...!
 
Allerdings sind wir heute in einer etwas anderen Situation als die Romantiker, als Gershwin: Es gab eben die "atonale" Revolution in der Musik, die Abkehr vom romantischen Sentiment, und Komponisten wie die der Neuen Wiener Schule, Cage, Ligeti, Varèse, Stockhausen usw. haben ihre Werke geschrieben. Nun komponiert aber Fazil Say, als ob er von diesen Entwicklungen kaum etwas mitbekommen hätte (obwohl er durchaus diese Komponisten kennt, er hat sich mit moderner Musik ausführlich beschäftigt, wie man der Say-Biographie von Otten entnehmen kann). Er unterschreitet somit ein bereits erreichtes Reflexionsniveau, seine Musik ist unter den heutigen Bedingungen nicht mehr authentisch, was er durch Bombast und Sentimentalität (was nicht dasselbe wie Sentiment ist!) auszugleichen versucht. Ob die etwas vage Kategorie der "Gestaltungstiefe" hier weiterhilft, wage ich zu bezweifeln.
Es bleibt jedem unbenommen, diese Ansichten für elitär zu halten und in den Klängen der "Istanbul-Symphonie" zu baden.


Allerdings ist es auch so, dass wir wiederum in einer anderen Situation sind als die Revolutionäre der Neuen Musik. Ich behaupte, dass eine Evolution des musikalischen Materials, im Sinne eines "Fortschritts" ( ein Begriff, der meiner Ansicht nach in der Kunst ohnehin keinen Platz hat), nicht mehr möglich ist. Im Prinzip sind alle Wege und Holzwege schon beschritten worden.
Ich persönlich finde manches von FS grenzkitschig, allerdings halte ich seine Herangehensweise für legitim, ist er doch sicherlich ein ernsthafterer Musiker als die Herren des YET- Trios.
Vermutlich kann man heute nicht mehr anders agieren als eklektizistisch.
Alle Töne sind gespielt; nun schauen wir mal, ob wir dennoch einen persönlichen Stil schaffen können. Es spielt dabei keine Rolle, ob die Musik tonal oder atonal oder irgendwas "dazwischen" ist. In einem bestimmten Zusammenhang kann ein C-Dur -Akkord revolutionär sein. Arnold Schönberg selbst hat gesagt, dass noch eine Menge großer Musik in C-Dur zu schreiben wäre.
Natürlich ist Derartiges den Verfechtern der reinen Lehre ein Gräuel. Adorno nennt (sic) Strawinskis Sacre du Printemps ein "Virtuosenstück der Regression".
Rheinkultur hat sehr gut am Beispiel Weills und Gershwins dargestellt, wie durch den Balanceakt zwischen künstlerischem Niveau und nicht avantgardistischer Tonsprache authentische Musik entstehen kann.
 

Danke, Christian, Rheinkultur und walsroderpianist, für eure wertvollen Beiträge.

Versteh ich aber Deine nachfolgende Argumentation richtig, dass man aufgrund der musikalischen Entwicklung im letzten Jahrhundert nur mehr atonal komponieren darf?
So würde ich es nicht sagen. Von "dürfen" ist hier ohnehin nicht die Rede, jeder darf komponieren wie er will, allerdings muss er dann auch mit Kritik und Einwänden umgehen können.
Meine Argumentation ist von dem deutschen Komponisten Mathias Spahlinger beeinflusst (sein Gespräch mit Hans Heinrich Eggebrecht ist unter dem Titel "Geschichte der Musik als Gegenwart" veröffentlicht). Er sagt in etwa, dass mit der Entwicklung der Atonalität ein Stand in der Entwicklung der europäischen Musik erreicht ist, der nicht mehr unterschritten werden sollte. War die Tonalität ein abgeschlossenes System von Konventionen, so gilt in der Atonalität die strukturalistische Weisheit (Zitat Spahlinger): "Alles, was ist, ist das, was es ist, nur in seinem und durch seinen Zusammenhang". "Reflexionsniveau" also in dem Sinne, dass Konventionen und Traditionen ihrer selbst bewusst werden als das, was sie sind: Setzungen, die auch anders sein könnten.
Das hat - jetzt meine persönliche Meinung - Parallelen in der modernen Dichtung, wo auch die indogermanische Syntax, kausale Beziehungen, Wenn-Dann-Folgerungen usw. permanent in Frage gestellt werden, ob man nun Rilke, Joyce oder Kafka liest.
Mir scheint, dass ein solches "Reflexionsniveau" bei Fazil Say (noch) nicht erreicht ist.

Zum Thema noch ein interessantes Radiogespräch mit Alban Berg von 1936:
Was ist atonal?
 
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