Der Weg nach Nirgendwo

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19. Juni 2013
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Ein merkwürdiges Phänomen unserer Tage ist das Aufblühen einer im Vergleich zum Klavierlied eher stiefmütterlich behandelten, von der etablierten Musikwissenschaft nur unzureichend gewürdigten Gattung: das sich seit einigen Jahrzehnten epidemisch ausbreitende ensemble-begleitete Kunstlied. Noch ungewöhnlicher im Kontext der vorwiegend seriellen oder reihentechnischen, zumindest aber tonalitätsfreien Avantgardemusik ist dabei eine vom Epochenstil her kaum erklärbare Gattungstradition: die freiwillige Selbstbeschränkung vieler dieser Orchesterlieder auf eine – disons le mot – neotonale Harmonik, die im Notenbild fast schon provokativ an der klaren Tonartbezeichnung durch # oder b erkennbar wird: erste Vorzeichen jener Neuen Einfachheit, die ab den 70er Jahren in Darmstadt und Donaueschingen Furore machen sollte.

Um das Phänomen in seiner Vielschichtigkeit zu begreifen, ist es ratsam, sich einmal pars pro toto einem dieser merkwürdigen, beliebig aus der Fülle herausgegriffenen Orchesterlieder analytisch zu nähern. So richten wir unser Augenmerk auf Neil Sedakas „Amarillo“, das 1971 komponiert und im selben Jahr in London vor einem – avant la lettre – ADHS-artig unruhigen Publikum uraufgeführt wurde, wobei es unmöglich ist, dem Leser hier eine gewisse Verwunderung vorzuenthalten: die Verwunderung angesichts der Tatsache, daß ein prominenter Interpret dieses Liedes, der Bariton Tony Christie, sich in der öffentlichen Wahrnehmung quasi vor den Komponisten geschoben und ihn verdrängt hat. Das ist so, als hielte man Elisabeth Schwarzkopf für die Komponistin der „Vier letzten Lieder“. Es ist demgegenüber festzuhalten, daß das zu analysierende Werk aus der Feder des US-amerikanischen Komponisten Neil Sedaka (*1939) stammt und das populäre Gedicht eines Landsmanns, des Lyrikers Howard Greenfield (1936-1986) vertont.

Gehen wir medias in res und widmen uns zunächst der Textvorlage, einem postromantischen Liebesgedicht, wie es uns in der ersten Abfolge von Strophe und Refrain kunstvoll-naiv gegenübertritt: Das namenlose, aus dem Bundesstaat Texas stammende lyrische Ich erlebt die schmerzliche Distanz zu seiner Geliebten mit Namen Maria, die offenbar auch Mutter eines gemeinsamen und als besonders schön deklarierten Kleinkinds ist (“my baby“). Das Bedürfnis, mit beiden aufs Innigste vereint zu sein, weckt im Dichter die Sehnsucht nach sofortiger Distanzüberwindung: Zum Liebes- gesellt sich das romantische Wander- und Reisemotiv. Zwecks Vermeidung einer in diesem Kontext vorhersehbaren Parzivalesken Irrfahrt gilt es, den geeigneten Reiseweg nach Amarillo – derzeitiger Wohnort der Geliebten und ihres Kindes – zu ermitteln, wobei man noch erwähnen sollte, daß sich im Ortsnamen eine hübsche Anspielung auf das Verb 'amare' verbirgt. In einer weiteren Distanzüberschreitung erbittet das lyrische Ich die Information unmittelbar vom Leser: “Is this the way to Amarillo...[…]...show me the way to Amarillo“. Zweifellos ist hier die Straßenroute gemeint, betrachtet aus der Perspektive eines vor dem Lenkrad seines Pkw sitzenden auskunftheischenden Automobilisten. Bahn- oder Busreisenden würde sich die Frage vermutlich kaum stellen.

Was macht Neil Sedaka aus alledem? Er vertont den Text – wie es sich formal anbietet – als Strophenlied, mit einer dem Vokalteil vorangehenden, vom orchestralen Tuttiklang geprägten Introduktion. Instrumentationstechnisch gewagt, für europäische Ohren durchaus ungewöhnlich ist die darauffolgende asketische, style-dépouillé-artige Begleitung der Vokallinie durch schlichte Harmonietupfer über einer elektroakustisch verstärkten Baßgitarre. Genauso irritierend: der durchgehende Gebrauch der Perkussionsfarbe, deren Einsatz allerdings – nach längerem Hören unverkennbar – einer konstanten Hervorhebung des Metrum-Grundschlags dient, mit diskreter Betonung der zweiten und vierten Zählzeit, dem europäischen Marsch gar nicht unähnlich. Exotisch wiederum der responsorial hinzutretende Vokalisen-Frauenchor, der sich im Refrain gar mit dem Baritonsolo zur echten Vokalpolyphonie vereinigt, punctus contra punctum, von kurzen Bläser-Einwürfen unterbrochen – einer der wenigen, musikalisch bezwingenden Augenblicke in diesem sonst eher unterkomplexen Musikstück. Oder um es weniger höflich auszudrücken: Das Lied vertraut eigentlich dermaßen plump auf die Wirkung elementarster harmonischer Grundfunktionen, der melodische Verlauf ist so dermaßen vorhersehbar-einfach, gleichsam vorkünstlerisch, daß man schon an einen parodistischen Gebrauch all dieser Stilmittel zu glauben geneigt wäre, wenn – ja wenn nicht das Refrain-Ende mit einer geradezu neodadaistisch anumutenden Silbenkombination aufwartete (“Sha [sic!] la la la la la la la“), der sich jene vom Komponisten gewählte Simplizität auf so perfekte Art und Weise anschmiegt, daß man sie im Sinne einer geglückten Wort-Ton-Kongruenz für schlechthin genial halten möchte.

Die zweite Strophe intensiviert zunächst das Geschehen. Der im Gedicht bereits halluzinierte Klang der Kirchenglocke weckt Assoziationen an eine Heiratsabsicht, die eingedenk des bis dato unehelichen Kindes ja durchaus angebracht wäre, wofern mit “sweet Maria and the guy who's coming to see her“ nicht die Gottesmutter gemeint, ihr Baby in diesem Fall kein anderer als der Heiland selber wäre und sich der Subtext des vertonten Gedichts somit als zutiefst religiös entpuppte – allein: Der Musikanteil vermag damit kaum Schritt zu halten. Er vertraut rigoros auf das Kunstmittel nahezu unveränderter Wiederholung – wie um den Hörer vorzubereiten auf das Schockmoment eines dann auch textlich völlig identischen Refrains. Und das ist nun allerdings vollkommen unfaßbar und unbegreiflich. Trotz mehrfacher Nachfragen kennt das lyrische Ich immer noch nicht den Weg nach Amarillo. Und das, obwohl jeder bessere Straßenatlas darüber Auskunft gibt: Amarillo ist im Potter County gelegen, 35° 12' nördlich, 101° 51' westlich, über die Interstates 27 und 40, über die Highways 60, 87 und 287 bequem zu erreichen. Es hieße, die Intelligenz des Texaners zu unterschätzen, wollte man annehmen, daß sich unter den Befragten kein orts- und zugleich redekundiger Gesprächspartner befunden haben sollte. Das Unvermögen, sachkundigen Rat anzunehmen, gedanklich umzusetzen und den Weg in die gewünschte Richtung einzuschlagen, fällt zur Gänze auf das lyrische Ich bzw. den Textdichter zurück: ein vermutlich analphabetenhaft debiler Cowboy, und es ist konsequent, daß der sein intellektuelles Unvermögen einbekennende Refrain zuletzt wieder in den Glückslaut vollendeter Regression mündet (“Sha la la la la la la la“).

Überflüssig zu sagen, daß sich hier musikalisch nichts Neues tut; woher auch: Es wäre in diesem Fall sogar herzlich unangemessen. Nur altvertrautes Material erklingt in der exakt gleichen Reihenfolge, wenn man von einer völlig unmotivierten Ganztonrückung am Schluß absieht, die zum gleichbleibenden Wissensstand des Fragestellers in keiner Relation steht – ja, zu der es schlichtweg kein inhaltliches Pendant gibt.

In summa: Der Gattung Orchesterlied wird durch „Amarillo“ nichts Neues hinzugefügt – im Gegenteil: Daß das Werk so stark auf die Wirkung abgegriffener, längst veralteter Kunstmittel rekurriert, schmälert seine Bedeutung denn doch beträchtlich. Kompositionstechnisch führt der Weg nach Amarillo in die Sackgasse. Es gehört vollendete Schamlosigkeit oder ausgesprochene Ignoranz dazu, im Jahr 1971 ein Stück so rücksichtslos auf schlichtester Kadenzharmonik, elementarsten Begleitmustern und simpelsten Melodiefloskeln – bei unverändert starrer Wiederholung identischer Formteile – aufbauen zu lassen. Das Lied ist ein drastischer Rückschritt gegenüber dem viel entwickelteren Bewußtseinsstand, wie er sich in den Orchesterliedern bei Mahler, R.Strauss, Zemlinsky, Berg und Webern artikuliert. Es dürfte kein Zufall sein, daß sich Howard Greenfield und Neil Sedaka in europäischen Literatur- und Avantgardemusik-Kreisen keiner großen Bekanntschaft erfreuen, von Beliebtheit ganz zu schweigen, und das könnte zu tun haben mit einem spezifisch abendländischen Vorbehalt gegenüber ihrer allzu simplizistischen Kost. Und es muß vorerst offen bleiben, ob man dem Dichter-/Komponisten-Gespann, ihrem Werk und dieser obskuren Gattung, der es zugehört, überhaupt einen größeren Bekanntheitsgrad wünschen sollte. Bei Neil Sedaka müßte sich (angesichts einer gewissen unleugbaren Musikalität) schöpferischer Wagemut erst noch entfalten – wohingegen man Herrn Greenfield auf jeden Fall bessere Orts- und Lesekenntnis und dem oben genannten Interpreten, Herrn Christie, eine Packung Ritalin, einen anderen Optiker und vor allem einen einsatzfreudigeren Friseur wünscht.
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Genial. :super: Das lese ich heute Abend meinem Mann vor. Auf seine Kommentare bin ich schon sehr gespannt. :schweigen::lol: :lol:
 
Könntest Du dies bitte mal mit "living next door to Alice" in der Interpretation von hau ab Carpendale durchziehen?
Feine Idee! Du wirst lachen, das Original war auch auf meiner Liste, zusammen mit "Chirpy Chirpy Cheep Cheep" von "Middle of the Road" - einem weiteren Höhepunkt des Jahres 1971. Ich fand dann aber Tony Christie am ergiebigsten...
 
Die Verkennung des Großartigen hinter dem Schlichten: eine europäische Ignoranz

Eine Erwiderung

Wieder einmal dünkte es einem Rezensenten, der europäischen Kreisen entstammt, welche sich für kulturell hochwertig halten, ein großartiges Werk geradezu klassischer Amerikanischer Volkskunst zu verreißen.

Von wahrhaft demokratischen Geiste durchdrungen erschaffen Künstler des Amerikanischen Volkes Werke, die von allen ihren Landsleuten verstanden werden können und zu ihrem seelischen Wohlbefinden beitragen. Das Stilmittel der Repetition einfacher Harmonien, die jedermann ins Ohr gehen, und leichter Texte, die auch vom schlichten Geiste in Kürze auswendig gelernt werden können, ist kein Zeichen ihrer Unfähigkeit, sondern im Gegenteil: ihres auf-die-Leute-Zugehens, so daß sie alle diese Musik erleben können. Schon nach der ersten Strophe gelingt es selbst durchschnittlichen kleinen Kindern die Fortsetzung des Werkes korrekt zu erraten. Noch schlichtere Gemüter werden spätestens in den folgenden Strophen abgeholt.

Auf diese Art und Weise wird erreicht, was selbst von eingebildeten europäischen Kreisen hoch angesehene Philosophien wie die des Zen-Buddhismus trotz Jahre-langer Bemühungen nur selten erreichen können: die Wahrnehmung, daß die Welt exakt so ist wie sie sein soll und nicht anders.

Modernste Gehirnforschung hat aufgezeigt, daß in der Amygdala ein Vergleich stattfindet zwischen dem, was die Sinnesorgane liefern, und dem, was eine komplexe Vorhersagemaschinerie aus den vorhergehenden Sinnesdaten errechnet hat. Momentane starke Abweichungen von der Vorhersage führen zu einem Schreck, dauerhafte Abweichung zu klinisch relevanten Angstzuständen. Im Gegensatz dazu führt eine perfekte Übereinstimmung zu Glück und psychischer Sicherheit. Ein Lebensziel vieler Menschen, auch außerhalb der Amerikanischen Hochkultur.

Eben da nun diese von Amerikanischen Künstlern geschaffene Musik sich so einfach vorhersehbar jedem Menschen einprägen kann, erschafft sie für ihre Hörer dieses überweltliche Glück bereits auf Erden. Selbst das Denkorgan einfacher Menschen erfährt dabei keinerlei Überbeanspruchung oder gar Überforderung.

Im Gegensatz dazu können monumentale stundenlange Werke wie die eines Anton Bruckner, der von manchem Vertreter gewisser europäischer Kulturzirkel als "schlichter Geist" bezeichnet wird, von einem Menschen selbst unter maximaler Belastung seines Gehirnes nicht durchdrungen werden. Dauernd wird der bemitleidenswerte Zuhörer solcher europäischer Monstrositäten mit unerhörten Variationen und schlimmer noch Neuigkeiten konfrontiert, so daß an der Amygdala stets widerstrebende Signale an ihren Eingängen vorliegen. Wie oben bereits erwähnt, führt dies zu klinisch-relevanten Angstzuständen.

Es kann daher kein Wunder sein, daß gerade in europäischen "Kulturkreisen" wahrhafte Untergangsängste herrschen und allerhand Phobien gegen eine aus Amerika auf Europa zurollende bessere Zukunft verbreitet sind. Während in den Vereinigten Staaten eben Freude, Zuverischt und Sicherheit vorwiegen.

Aber auch dieses rückständige Europa wird bald geheilt werden. Europäische Jugendliche nehmen die von Amerikanischen Großkonzernen bereit gestellten Medien gerne wahr und entfernen sich bereits im Geiste vom überheblichen Dünkel ihrer Vorfahren. Es wird nicht mehr lange dauern, und die Amerikanische Kultur wird diese europäische Überheblichkeit hinweg gefegt haben, so daß auch die Europäer mit Hilfe der Werke großartiger Amerikanischer Künstler zu überweltlicher Sicherheit und Freude gelangen können.

Sha la la la la la la la ...
 
Auch wenn dieser zweifellos wohlmeinende Versuch, wenigstens ansatzweise in die Gedankenwelt meiner Rezension hineinzufinden, aller Ehren wert ist, kann ich's dem Verfasser leider nicht ersparen, ihm das völlige Mißlingen seiner (denoch achtbaren) Bemühungen vor Augen zu führen. Der Verfasser möge es nicht als alteuropäischen Hochmut, sondern als Chance betrachten, wenn ihm hier Einblicke in die Prolegomena zu seinem Fachgebiet gewährt werden, ohne deren Kenntnis blindlings draufloszuschreiben er sich erkühnt hat.

Es ist schlechterdings unmöglich, seine Erwiderung unerwidert zu lassen, deren Theoriedefizit schon an den wahllosen Bezügen auf Zen-Buddhismus oder Hirnforschung erkennbar wird. Die Strenge und den Ernst zen-buddhistischer Lernübungen mit dem Anhören eines Orchesterlieds wie „Amarillo“ gleichzusetzen, kommt schon einer besonderen Gehässigkeit gleich. Dann könnte man auch die Geschicklichkeit einer Kellnerin, auf dem Oktoberfest zehn Maß Bier auf einmal zu tragen, als Zenzi-Buddhismus bezeichnen. Und was ist von einer Hirnforschung zu halten – dieser ausgesprochen selbstbezüglichen Wissenschaft, die vor allem das primäre Gebot aller wissenschaftlichen Arbeit, nämlich angemessene Distanz gegenüber ihrem Forschungsobjekt zu wahren, souverän mißachtet – deren Hauptproblem nicht zufälligerweise darin besteht, daß es ihr schwerfällt, mit den eigenen Forschungsergebnissen Schritt zu halten, und die sich im Bedarfsfall auf ein Hirnorgan namens Amygdala rausredet? Und welchem anderen Zweck dient der positivistische Bezug auf dieses Hirnorgan als dem, wahrhaft große Musik kleinzureden und sie den Erfordernissen jener bei den simpelsten Abweichungen von prognostizierten Hirndaten bereits heillos überforderten Amygdala anzupassen? Macht es nicht die evolutionäre Würde des Menschen aus, sich von äußeren Bedrängnissen freizumachen, sie gleichsam zu übersteigen und an ihnen zu wachsen, wie einst vom homo ergaster zum homo sapiens sapiens, und ist es nicht gerade eines der Postulate der künstlerischen Moderne gewesen, diesen evolutionären Prozeß zu begleiten, wenn nicht vorwegzunehmen? Ist es nicht das bis heute uneingelöste Versprechen der künstlerischen Moderne, sich über weltimmanente Beschränkungen hinwegzusetzen, zu denen auch unsere Physis gehört? Wovon sonst handelt utopische Kunst wie z.B. die legendäre Oper „Sieg über die Sonne“ (1913), Ives' „Universe Symphony“, Skrjabins Mysterium bis hin zu Stockhausens „Licht“-Zyklus?

Wie billig dagegen das Geschrammel jener nach dem krudesten Strophe-Refrain-Reihungsschema gefertigten vierminütigen, auf schnelle Vermarktung hin ausgerichteten Produkte der US-amerikanischen Kulturindustrie, deren Texte noch nicht einmal Orientierungshilfe zu bieten vermögen: Der Sänger des genannten Liedes kennt bis zum fadeout nicht den Weg nach Amarillo. Zu einem anderen Lied dieser Wesensart, „A horse with no name“, gibt es einen Begleitfilm (Video genannt), auf dem allerdings deutlich Kamele zu erkennen sind. Das also ist das Pferd ohne Namen? Auf einem solchen Erkenntnisstand weit unterhalb der „Sesamstraße“ bewegt sich diese Musik – in einer Welt, die einem Fötus im Mutterleib mehr zu verarbeitende Reize zumutet als dem postnatalen Menschen? Wahrhaft utopische Kunst (im emphatischen Wortsinne) ist sich dagegen ihrer Vorbildfunktion bewußt – für den noch unerlösten Teil jener dumpf vor sich hinbrütenden Menschheit, der nicht zufälligerweise im US-amerikanisch dominierten Machtbereich gehäuft auftritt. Andere Kulturen haben da schon ein wesentlich höheres evolutionäres Niveau erreicht. Während US-Präsident Trump noch lernen muß, vom Teleprompter abzulesen, arbeitet Nordkorea bereits an einer künstlichen, alle Denkvorgänge drastisch beschleunigenden Bemygdala, die sich Präsident Kim Jong-un demnächst persönlich implantieren wird.
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Zuletzt bearbeitet:
@Gomez de Riquet , ich kauf Dein Buch, wenn es erscheint:super:
 

@Gomez de Riquet @Bernhard Hiller
Herrlich, Ihr beiden! :super:

Danke für das Lesevergnügen! :kuscheln:
 
@Gomez de Riquet So macht's Spaß. Muß mir noch eine Erwiderung zur Erwirderung einfallen lassen und ausformulieren. Mal schauen, wann sich Zeit dafür findet. Oder möchte hier ein anderer Claviot mal seine Schreibfähigkeiten in Szene setzen?
 
[...]
Oder um es weniger höflich auszudrücken: Das Lied vertraut eigentlich dermaßen plump auf die Wirkung elementarster harmonischer Grundfunktionen, der melodische Verlauf ist so dermaßen vorhersehbar-einfach, gleichsam vorkünstlerisch, daß man schon an einen parodistischen Gebrauch all dieser Stilmittel zu glauben geneigt wäre, wenn – ja wenn nicht das Refrain-Ende mit einer geradezu neodadaistisch anumutenden Silbenkombination aufwartete (“Sha [sic!] la la la la la la la“), der sich jene vom Komponisten gewählte Simplizität auf so perfekte Art und Weise anschmiegt, daß man sie im Sinne einer geglückten Wort-Ton-Kongruenz für schlechthin genial halten möchte.

[...]
Kaum zu glauben aber der erste Teil dieser genialer Silbenfolge ;-) ("sha la la la la") wurde zwei Jahre später als Titel eines Liedes verwendet.

Meine Englischkenntnisse reichen leider nicht aus um zu verstehen was da passiert: "my heart goes schalala lala" und das am Morgen, im Sonnenschein und am Abend.
 
Vor Jahrhunderten zielten Komponisten darauf ab, die Gesetze der Welt in der Musik hörbar zu machen. Melodien und Strukturen gehorchten damit festen Gesetzen, welche sich von Musiktheoretikern anaylsieren lassen. Jedoch zielten diese Komponisten auf Höheres als nur auf Struktur ab: der Mensch solle von der Musik erfaßt werden und dadurch seelisch geheilt werden.

Zum damaligen Zeitpunkt war dies eine mystische Angelegenheit. Als Menschen des 3. Jahrtausend mit fortgeschrittener Wissenschaft und Technik verfügen wir endlich über Möglichkeiten zu analysieren, wie diese Erfassung des Menschen durch die Musik geschieht. Eine Musikwissenschaft, die sich nicht einfach in der Aufteilung auf immer kleinere Bereiche beschränkt und damit die Musik vor lauter Noten nicht erlebt, sondern eben das ganze Wesen der Musik erfoschen will, muß auch von diesen Neuerungen Gebrauch machen.

Gewiss hat die auf Strukturalismus reduzierte Musikwissenschaft recht, wenn sie feststellt, daß frühe Musik weitaus facettenreicher und interessanter strukturiert ist als das eingangs genannte Orchesterlied. Zu mittelalterlichen Zeiten lebten die Menschen noch in einfacher, naturnaher Umgebung. Diese Umgebung zu beobachten, aus Vorkommnissen Schlüsse zu ziehen, kurzum vorausschauend zu handeln, war für diese Menschen nicht nur selbstverständlich, sondern lebensnotwendig. Ihr Denkorgan war trainiert, so daß die damalige komplexe Musik von ihnen erfaßt werden konnte. Damit lagen an der Amygdala keine widerstrebenden, angsteinflößenden Signale an, sondern eine glückverheißende Übereinstimmung.

Dank des Fortschreitens der Technik wurde der Mensch von den Unbillen seiner natürlichen Umgebung immer weiter befreit. Lebensmittel gibt es unbegrenzt in Supermärkten oder "Restaurants" verzehrbereit zu erwerben, man braucht keine Felder zu passender Jahreszeit bestellen oder wilde Tiere zu jagen. Die dunkle Nacht wird durch das Drücken eines Schalters mit elektrischer Helligkeit verscheucht. Etc. Bereits 1971 war für viele Menschen die Notwendigkeit des Hirneinsatzes für das Bestehen des Alltages verschwunden.

Damit verkümmerte ihr Denkorgan zusehends. Mit alter, komplizierter Musik sind sie überfordert. Aber anständige Komponisten kümmern sich nach Boddhisatva-Art um sie: indem sie ihnen eine kümmerliche Musik bieten. Jawohl: kümmerlich - es wird Zeit, daß man diesen Begriff endlich korrekt - positiv - liest.

Seit 1971 nahm der technische Fortschritt rasant zu. Die Fernbedienung des TV wurde Selbstverständlichkeit, später kamen Smartphones hinzu. Irgendwelche Berührungen und Wischereien führen nun zu Ergebnissen, welche mit diesen Fingerbewegungen so gar nichts mehr zu tun haben. Nachrichten werden auf 140 Buchstaben begrenzt, und selbst das ist für viele Nutzer zu lang. Das Denkorgan kann weiter reduziert werden. Die weitere Entwicklung des Menschen setzt nicht etwa die Reihe vom Homo ergaster zum Homo sapiens fort, sondern führt zu Eloi und Morlocks.

Die amerikanische Musikindustrie wird sich auch um sie kümmern und eine für sie passende kümmerliche Musik schreiben. Primen könnten das Standard-Interval der Zukunft sein. Und so lasset uns für die Zukunft üben, und trällern wir

Sha la la la la la la ...
 
[...] sondern führt zu Eloi und Morlocks.

Die amerikanische Musikindustrie wird sich auch um sie kümmern und eine für sie passende kümmerliche Musik schreiben. Primen könnten das Standard-Interval der Zukunft sein. Und so lasset uns für die Zukunft üben, und trällern wir

Sha la la la la la la ...
Meinst du, so wie ...
[...] bei den Sha-La-La-Fan-Gesängen in den Fußballstadien [...].
 
Kein Weg nach Irgendwo

Es besteht kein Zweifel daran, daß Hillers Versuch einer Apologie der Simplizität abscheulich ist. Jene regressive Tendenz, die noch vor wenigen Jahrzehnten in braunen Horden sich offenbarte, verlegt sich heute, ohnmächtig geworden, auf das Lob von Heimat, Blut und Boden. Scheinbar pazifiziert, schimmert doch durch das Gewand der Bauerstochter im Heimatfilm noch jene Waffe, die einst der Regression an die Macht verhalf.

Doch nicht minder fragwürdig muß heute Gomez de Riquets Eintreten für längst fadenscheinig gewordene bürgerliche Kategorien bei der Bewertung der musikalischen Produktion erscheinen. Wer „Komplexität“ und „Tiefe“ gegen die Simplizität der Regression ausspielt, verkennt den dialektischen Charakter des Fortschritts, der nicht anders sich äußern kann als in der Polarisierung. Jene, die heute wie Gomez de Riquet die bürgerlichen Kategorien zu restituieren versuchen, verkennen denn auch, daß diese längst im Verschwinden begriffen sind und nur noch als Schwundformen ihrer selbst eine bindende Kraft zeitigen. Diese versuchte Restitution des Bürgerlichen trägt die Male der Unwahrheit an sich nicht weniger als die Apologie der Simplizität. Scheinbar mit den Insignien der Bildung und der Wissenschaftlichkeit versehen, ist die Restitution der bürgerlichen Kategorien lediglich die spiegelbildliche Erscheinung der Unwahrheit der Regression. Daß jene sich dieser überlegen dünkt, daß sie prätentiös sich gibt, verschleiert nur ihre Hohlheit und läßt sie der Unwahrheit tiefer verfallen als selbst die Regression. Wo die Simplizität und deren Apologie immerhin nicht mehr prätendiert als sie ist und die Dürftigkeit ihres Materials und der Gestaltung gar nicht kaschiert, da erdreistet das zerfallende Skelett der bürgerlichen Kategorien sich, scheinbar legitimiert durch eine Ahnenreihe von „Klassikern“, seine Nackheit mit dem Brokat der Bildung zu verhüllen. Der Bürger wie der Regressive, der Apologet der Komplexität und jener der Simplizität kommen in ihrer Vergötzung des Vergangenen überein. Scheinbar divergent, konvergieren sie gerade dort, wo sie am Fernsten vom je anderen sich dünken. So entwertet der Advokat des Bürgerlichen gerade das Erbe, das zu advozieren er sich anschickt. Der abscheuliche Begriff der „Würdigung“, wie er als marktgängiges Edelsubstantiv die alljährlichen Jubiläen beliebig herbeigezerrter Komponisten schmücken soll, ist Signum des Zerfalls der bürgerlichen Kultur, die nur noch mit dem Vergangenen sich abzugeben wähnt und gerade darin mehr denn je dem bloß Gegenwärtigen verfällt. Auch der Begriff des Fortschritts, wie er im Eingangsbeitrag verwendet wird, entpuppt sich in den Anstrengungen der Restitution des Bürgerlichen als Kategorie der nur notdürftig verhüllten Regression. Je mehr diese Anstrengungen mit dem Vokabular einer längst brüchig gewordenen Wissenschaftlichkeit sich schmücken, desto mehr offenbaren sie ihre Unwahrheit.
 
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