Darf man heutzutage "tonal" komponieren?

Aleko

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Es macht aber allenthalben die Runde, dass man heute nicht mehr in dieser Weise komponieren dürfe, da dies eben rückwärtsgewandt und gestrig sei. Zumal sei die Tonalität ohnehin in ihren Möglichkeiten ausgeschöpft und alles was komponiert werden könne sei bereits geschrieben.

Ich bitte um Entschuldigung wegen einer Offtopic-Frage. Auch mich verwundern die Aussagen, dass alles schon komponiert wurde und man eben nach neuen Wegen bzw. Mitteln suchen soll. Wer hat sich das eigentlich ausgedacht? War das Herr Schöneberg? Und wenn ja, war es ihm womöglich nicht gegeben tonal zu komponieren? Dieses Thema irritiert mich und ich kann und will auch daran nicht glauben. Auch ich möchte komponieren und eher tonal :) Ich denke, es ist so wie mit Farben. Man kann doch nicht ernsthaft behaupten, dass alles schon gemalt wurde oder?
Vielleicht kann sich jemand zum Thema äußern. Was bringt Menschen dazu zu behaupten, alles Tonale sei schon komponiert worden?
 
Ich bitte um Entschuldigung wegen einer Offtopic-Frage. Auch mich verwundern
die Aussagen, dass alles schon komponiert wurde und man eben nach neuen
Wegen bzw. Mitteln suchen soll. Wer hat sich das eigentlich ausgedacht?
War das Herr Schöneberg? Und wenn ja, war es ihm womöglich nicht gegeben,
tonal zu komponieren? Dieses Thema irritiert mich und ich kann und will auch
daran nicht glauben. Auch ich möchte komponieren und eher tonal :) Ich denke,
es ist so wie mit Farben. Man kann doch nicht ernsthaft behaupten, dass alles
schon gemalt wurde oder?
Vielleicht kann sich jemand zum Thema äußern. Was bringt Menschen dazu zu
behaupten, alles Tonale sei schon komponiert worden?

Einen schönen guten Morgen, Aleko!

Um auf Deine letzte Frage zuerst zu antworten - niemand hat behauptet,
daß mit der Tonalität als Kunstmittel nichts mehr anzufangen sei.
Ferner: Es war Schönberg sehr wohl gegeben, tonal zu komponieren,
sogar betörend schöne Musik. Hör Dir einmal "Verklärte Nacht" an,
entweder in der originalen Streichsextett- oder in der Streichorchesterversion -
und das Oratorium "Gurrelieder".

Die Aversion gegen traditionelle Musik war ein Phänomen der Nachkriegszeit -
vielen aus der jungen Generation, die vom Nationalsozialismus und Weltkrieg geprägt worden sind,
galt traditionelle Musik als kontaminiert - durch den Mißbrauch, den ******/Goebbels etc.
mit dem klassichen Erbe getrieben hatten, durch die Nutzung zu Propagandazwecken.
Sie suchten ihr Heil in einer - wie sie hofften - von allen Traditionsresten gereinigten,
für Propagandazwecke unbrauchbaren Neuen Musik (zu schreiben mit großem N!) -
ähnlich wie Hugo Ball im ersten Weltkrieg, der aus Verzweiflung über den Mißbrauch
der Sprache zu Tötungszwecken sich ein eigenes Kunstidiom ausdachte.
Für diese jungen Wilden (Boulez, Nono, Goeyvaerts, Stockhausen et al.)
stand jedenfalls selbst Schönberg schon auf der falschen Seite der Barrikaden.
Ihr Ideal war die serielle Musik, in der das Schönbergsche Prinzip der Tonhöhenorganisation
auf alle Parameter ausgedehnt und der Musik der letzte Rest von Sprachähnlichkeit
ausgetrieben werden sollte.

Wir müssen über das Gebaren der Nachkriegs-Avantgarde nicht diskutieren.
Man kann es als Überreaktion verstehen, als Ausdruck einer Verzweiflung angesichts
der traumatisierenden Erfahrungen, die diese Flakhelfer-Generation gemacht hatte.
Der zunehmende Stilpluralismus seit Beginn der siebziger Jahren hat dieser
fundamentalistischen Avantgarde ohnehin den Garaus gemacht.
Seidem wird in allen Spielarten komponiert: tonal und neotonal, seriell und postseriell,
neoklassizistisch, neoromantisch, frei atonal, mikrotonal, strukturalistisch,
spektralistisch, komplexistisch (dieses Unwort gibt es wirklich!), reduktionistisch,
minimalistisch, pluralistisch, rhizomatisch, neomodern, neopostmodern.

Es ist völlig legitim, tonal zu komponieren -
die Hauptschwierigkeit ist dabei, Tonsatzclichés und Stilmixturen zu vermeiden.
Das Problem erlebst Du doch momentan auch mit Deiner Sonatine für Klavier -
à propos: Kommst Du mit ihr voran?

Herzliche Grüße,

Gomez


P.S. Schönberg hat übrigens auch nach dem Verzicht auf die Tonartbindung
wunderschöne Musik komponiert.
 
Zuletzt von einem Moderator bearbeitet:
Guten Tag!

Jetzt ist ein eigener Faden daraus geworden.
Als ich in der vergangenen Nacht Aleko geantwortet habe,
war die Frage in dieser Form noch nicht formuliert.

Jetzt reizt sie mich, differenzierter zu antworten.
Es hat tatsächlich den Versuch gegeben, alle nichtavantgardistische Musik
zu diskreditieren - in der Musikpublizistik der 50er bis 70er Jahre.
Unter Mißbrauch adornoscher Formulierungen sprach man vom "neuesten Stand des Materials",
hinter den zurückzufallen ein "Akt der Regression" sei und den "Rückfall in die Barbarei" einläute etc.

Das Schöne ist nur, daß sich Komponisten nicht an Vorgaben aus der Musikpublizistik halten.
Die von ihren Ordnungszwängen gebeutelte europäische Avantgarde
hatte ein anderes Problem: Erst mußte sie John Cage verkraften,
dann war Anfang der 70er mit Steve Reich und der "Minimal Music"
eine ernstzunehmende populäre Kunstmusik-Alternative zu verdauen,
die auf Komponisten wie beispielsweise Ligeti großen Einfluß hatte.

Die Lage ist seit den 80er Jahren so unübersichtlich geworden,
daß in der Avantgarde niemand mehr von einem verbindlichen Kanon zu sprechen wagt -
Ausnahmen bestätigen die Regel: Natürlich fuchteln Leute à la C.S.Mahnkopf wild
mit ihren Partituren herum, erklären ihren ästhetischen Standpunkt für alleinseligmachend
und verdammen alle davon abweichenden Standpunkte als Renegatentum.
Das erinnert mich an die Streitereien unter den K-Gruppen (wiederum 70er Jahre),
die sich mit ihren 0,01 % Wählerstimmen gegenseitig den "Führungsanspruch
der Arbeiterklasse" streitig gemacht haben.

Aus dem Fehlen eines verbindlichen Kanons folgt:
Man darf alles, man kann alles - man muß es aber auch können!
Ich glaube nicht, daß man sich als Komponist an den Schreibtisch oder vors Klavier
setzt und fragt: Wie schreibe ich heute - tonal oder atonal? Das ist Unfug.
Ein Komponist sucht sich nicht sein Material, sondern das Material findet ihn -
mit der Initialidee, der ersten Skizze zu irgendetwas.
Aufgabe des Komponisten ist es, seinem Material gewachsen zu sein.
Man kann in einem tonalen oder nichttonalen Idiom scheitern.
.

Ich propagiere also nicht Beliebigkeit, sondern im Gegenteil Verbindlichkeit -
allerdings keine des Materials, sondern seiner Verarbeitung.
Man kann also gerne atonal oder auch tonal komponieren,
modal, mikrotonal oder weiß-ich-was. Man sollte nur reflektieren,
womit man sich da beschäftigt.

Gruß an alle!

Gomez
 
Sehr schoene Beitraege von Gomez; die ich fuer mich genau so unterschreiben kann.

In einem Punkt wuerde ich sogar darueber hinaus gehen:

[...]die Hauptschwierigkeit ist dabei, Tonsatzclichés und Stilmixturen zu vermeiden.
Selbst gegen solche Stilnachahmungen (wenn ich Tonsatzclichés richtig interpretiere) spricht an sich nichts, wenn sie gut gemacht sind -- es gibt ja auch von beruehmten Komponisten genug Stuecke mit "im Stil von" oder dergleichen im Titel.

Und Stilmixturen sind ja recht prominent in postmoderner Musik (oder eigentlich sogar schon bei Mahler...). Ein zufaelliges Beispiel (unter vielen) eines harmonisch sehr heterogenen Stuecks sind Rzewskis People United-Variationen.
 
Hallo,
Danke für diese ausführliche Aufklärung :)
Zwei Fragen hätte ich noch zu Tonsatzclichés und Stilmixturen.

1. Heißt es nun ich "darf" nicht eine Sonate in herkömmlicher Sonatenform komponieren? Warum nicht? Mit Sicherheit wird sie aufgrund der modernen Musikvorlieben kein Mensch brauchen aber ich darf sie doch für mich komponieren oder nicht?
2. Und warum kann ich nicht etwas von verschiedenen Stilrichtungen nehmen, wenn ich das in einem gewissen Stück für musikalisch logisch und gelungen halte?

Danke
 
Zuletzt von einem Moderator bearbeitet:
Zwei Fragen hätte ich noch zu Tonsatzclichés und Stilmixturen.

1. Heißt es nun ich "darf" nicht eine Sonate in herkömmlicher Sonatenform komponieren?
Warum nicht? Mit Sicherheit wird sie aufgrund der modernen Musikvorlieben kein Mensch brauchen,
aber ich darf sie doch für mich komponieren oder nicht?

2. Und warum kann ich nicht etwas von verschiedenen Stilrichtungen nehmen,
wenn ich das in einem gewissen Stück für musikalisch logisch und gelungen halte?

Danke

Guten Abend, Aleko -

also erstmal: Du mußt doch - Gott sei es gedankt -
niemanden um Erlaubnis bitten, ob und wie Du komponieren darfst.
Und wenn es Dir jemand vergraulen will, dann höre nicht auf ihn.
Für einen angehenden Komponisten gehören der klassische Sonatenhauptsatz
und das Sonatenrondo geradezu zum Pflichtprogramm.

Stilcollagen sind seit Mahler und Ives sogar ein integraler Bestandteil
der musikalischen Moderne - worauf Pianovirus hingewiesen hat.
Das Schreiben "à la manière de..." war vorallem im Neoklassizismus
der Zwischenkriegszeit beliebt, bei Strawinsky, Poulenc und anderen.
Es handelte sich dabei aber nicht um einfache, sondern um verfremdende Stilkopien.
Musikalisch spielt sich da etwas schwer zu beschreibendes ab:
Das historische Material wird gleichzeitig nostalgisch zitiert wie parodistisch bespöttelt,
mit gänzlich Unadäquatem konfrontiert, mit gewollten Anachronismen durchsetzt,
z.B. Anleihen bei der damals aktuellen Unterhaltungsmusik (Ragtime, Jazz, Chanson).

Daran anzuknüpfen ist - zumindest für einen Anfänger im Komponieren - gefährlich.
Für das konzentriertere Arbeiten ist es besser, sich auf einer einheitlichen
Stilebene zu bewegen. Das ist aber nicht mehr als eine Empfehlung meinerseits.
Vielleicht bin ich einfach zu puristisch.

Herzliche Grüße,

Gomez
 
Stilcollagen sind seit Mahler und Ives sogar ein integraler Bestandteil
der musikalischen Moderne - worauf Pianovirus hingewiesen hat.
Das Schreiben "à la manière de..." war vorallem im Neoklassizismus
der Zwischenkriegszeit beliebt, bei Strawinsky, Poulenc und anderen.
Es handelte sich dabei aber nicht um einfache, sondern um verfremdende Stilkopien.
Musikalisch spielt sich da etwas schwer zu beschreibendes ab:
Das historische Material wird gleichzeitig nostalgisch zitiert wie parodistisch bespöttelt,
mit gänzlich Unadäquatem konfrontiert, mit gewollten Anachronismen durchsetzt,
z.B. Anleihen bei der damals aktuellen Unterhaltungsmusik (Ragtime, Jazz, Chanson).

hallo,

das ist ganz wunderbar von Gomez beschrieben!!!

Wenn man ein Beispiel wahrnehmen will, wie solche ambivalente Collagierung oder stilistische Färbung funktioniert:
Beethoven: Klaviersonate As-Dur op.110

Stilimitationen oder besser gesagt beziehungsvolle Anklänge an Mozart, Bach, Händel finden sich ebenso in dieser fantastischen Sonate, wie scheinbar triviale Gassenhauer.

Die beziehungsvollen Techniken der frühen Moderne sind gewiß anders, auch gebrochener als bei Beethoven - aber zum kennen lernen eignet sich diese geniale Sonate bestens!

Und jede Wette: Gomez wird mir bzgl. der changierend historisierenden Sonate op.110 zustimmen.

Gruß, Rolf
 
Und jede Wette: Gomez wird mir bzgl. der changierend historisierenden Sonate op.110 zustimmen.

Gruß, Rolf


Die Wette hast Du gewonnen!

Und Dein Vergleich mit op.110 ist ein lehrreiches Beispiel dafür,
wie die Hörerfahrung neuerer Musik die Sinne schärft,
um für Besonderheiten älterer Musik ein Bewußtsein zu entwickeln.

Die Irritation über Strawinskys formalistische Spielereien
lenkt den Blick zurück auf Beethoven -
und legt bei ihm ein bestimmtes Avantgardepotential frei.
Das Neue interpretiert das Alte - und das Alte legitimiert das Neue.

Mit dieser schönen Gewißheit begebe ich mich jetzt an mein Tagewerk.

Gruß, Gomez
 
Es handelte sich dabei aber nicht um einfache, sondern um
verfremdende Stilkopien.
[...]
Das historische Material wird gleichzeitig nostalgisch zitiert wie parodistisch bespöttelt

Ein interessantes Begriffspaar, das es so ähnlich auch in der
Literaturwissenschaft gibt. Schon in der Antike unterscheidet man
zwischen den Rezeptionskonzepten der imitatio und der
aemulatio. Erstere meint v.a. die Nachahmung eines Modells als
Reverenz vor diesem (z.B. schreibt Tacitus seine Rhetorikmonographie in der
Sprache Ciceros; oder Symmachus läßt, wenn er dem Kaiser
Valentian die Wiederaufstellung der "heidnischen" Victoriastatue im
Senat schmackhaft machen will, nach dem Vorbild Ciceros die
Personifikation der Stadt Rom auftreten), letztere eine
Rezeption, die eher zu autonomen Formen führt. Ein Beispiel hierfür
aus meinem Lieblingsautor Aristophanes: er komponiert einen
Dionysos-Hymnos (einen "Dithyrambos") im Stil des
"Avantgarde"-Komponisten Thimotheos, läßt ihn aber von einem
Frösche-Chor singen ("brekekéx koáx koáx"), womit er zeigt, daß er
derlei auch schreiben kann, aber nicht mag. Oder er imitiert Monodien
des Tragikers Euripides, unterlegt sie aber mit komischen Texten und
schaft so eine autonome komische Lyrik. Das Begriffspaar imitatio :
aemulatio ist aber nicht binär, sondern bezeichnet eher die Endpole einer Skala.


Nun meine Fragen: sind "einfache" und "verfremdende" Stilkopie in der
Musik auch Endpunkte einer Skala, oder kommt man mit der
Begriffsopposition aus?
Und dann bitte ich um ein bißchen Nachhilfe für meine
Vorstellungskraft anhand von drei Beispielen, die mir grade so
einfallen:

1. Rolf hat in einem anderen Faden auf Wagners Albumsonate hingewiesen
(https://www.clavio.de/forum/werke-komponisten-musiker/6426-albumsonate-dur.html#post88850).
Als ich mir den Band (19 der Wagner-Ed.) besorgt hatte, entdeckte ich
darin u.a. zwei Sonaten, die im Vorwort als Stilstudien bezeichnet werden;
eine erinnert irgendwie an Clementi, die andere bezieht sich lt.
Vorwort auf Beethoven;

2. Griegs "Holberg-Suite";

3. Hindemidts „Rag Time (wohltemperiert)“:

Wie wären diese Stück zuzuordnen, sei es zu den beiden Begriffen, sei
es auf einer Skala zwischen beiden?

Dank und Gruß,

Friedrich
 
Guten Abend, Friedrich!

Schöne Fragen stellst Du!

Schon allein dafür möchte ich Dir danken -
wie auch für den Exkurs zu Aristophanes' Parodie,
von der Du in einem anderen Kontext schon mal gesprochen hast
und zu der ich Dich befragen wollte (was ich dann vergessen habe).

Zu Wagner möchte ich Rolf die genaue Antwort überlassen -
sage aber ohne Kenntnis der genannten Werke, daß ich mir eine parodistische Absicht
bei ihm hier nicht vorstellen kann. Clementi ist typische Anfänger-Klavierliteratur,
die Imitation eines Clementi-Sonatenmodells ideal zur Aneignung gewisser Kompositionstechniken:
ein fließender, gut durchhörbarer Klaviersatz, klare Tonartverhältnisse, einfache motivisch-thematische Arbeit.
Und vor Beethoven hatte Wagner den größten Respekt - an ihm hat er sich wohl
mit einem ambitionierteren Kompositionsversuch orientiert.

Bei Grieg ist der Fall diffiziler - weder ist seine Musik eine Stilkopie,
noch verrät sie parodistische Absichten. Es ist eine Hommage an die Musik des 17.+18.Jahrhunderts,
der man aber ihre Entstehungszeit (1884) anhören soll, harmonisch wie satztechnisch -
eine von barockisierender Melodik geprägte Serenadenmusik.

Am schwierigsten ist die Standortbestimmung im Falle Hindemiths.
Die Verwendung des Themas der c-Moll-Fuge aus dem WTK 1 läßt eher
an eine Travestie als an eine Parodie denken. Man hat bei Hindemith den Eindruck,
daß er zwei Dinge zusammenzwingen möchte, die ihm sehr wichtig sind:
Programmatisch an Bach anzuknüpfen und einen guten Ragtime zu komponieren.
Wenn im Zusammenprall zweier grundverschiedener Ausdruckswelten
etwas veräppelt wird, dann eher der Ragtime - und nicht Bach.

Um Deine Frage zu beantworten: Wagner - einfache Stilkopie zu Übungszwecken (so vermute ich)
Grieg - verfremdende Hommage, keine parodistische Absicht
Hindemith - ernsthafte Komposition mit parodistischem Einschlag.

Aber am letztgenannten Beispiel läßt sich so etwas wie die Dialektik der Parodie zeigen:
ohne Affinität zum parodierten Objekt keine Parodie.
Gute Parodien sind im Grunde heimliche Liebeserklärungen -
und gleichzeitig die Distanzierung davon.

Herzliche Grüße,

Gomez
 
Zuletzt von einem Moderator bearbeitet:
Ein besseres Beispiel als der Ragtime von Hindemith ist vielleicht "Piano-Rag-Music" von Strawinsky.

http://www.youtube.com/watch?v=tfYzJd4_s0k

Strawinsky verfremdet den Ragtime mit zahlreichen modernen Satztechniken. Eigenwillige Harmonik, Cluster, extreme Lagen etc

lg marcus
 

Als ich mir den Band (19 der Wagner-Ed.) besorgt hatte, entdeckte ich
darin u.a. zwei Sonaten, die im Vorwort als Stilstudien bezeichnet werden;
eine erinnert irgendwie an Clementi, die andere bezieht sich lt.
Vorwort auf Beethoven;

hallo Friedrich,

Band 19 mit dem vielversprechenden Titel "Klavierwerke" enthält sehr hetergone Kompositionen:
a) "Studienarbeiten" - hierzu zählen die für den Kompositionsunterricht bei Theodor Weinlig angefertigten beiden Klaviersonaten in B-Dur und A-Dur; während die eine einfachen Clementi-Mustern folgt (Wagner selber bezeichnete sie als an Pleyel´schen Sonatinen orientiert), knüpft die andere an Formmustern des frühen Beethoven an und probiert auch stellenweise eine polyphone Satzweise (fugato), allerdings letzteres ohne Bezugnahme auf Beethovens späte Sonaten (die Wagner zu dieser Zeit kaum kannte). In beiden Sonaten ist sowohl das thematische Material, als auch die pianistische Verarbeitung relativ dürftig (man ahnt in diesen noch keinen großen Komponisten), auch die Harmonik ist konventionell. - - Wagner fing nicht als Genie an!
ebenfalls zu diesen frühen Studienarbeiten zählt die etwas persönlichere und ambitionierte, aber viel zu lange Fantasie fis-Moll
b) allerlei Gelegenheitskompositionen
c) und aus diesen Gelegenheitskompositionen/Nebenwerken ragen vier Werke immerhin heraus:
eine Sonate für das Album von Frau M.W.
Albumblatt Es-Dur
Albumblatt As-Dur "Ankunft bei den schwarzen Schwänen
"Porazzi-Thema", auch als Elegie bezeichnet


Interessant und spielenswert, auch sehr hörenswert, sind die zuletzt genannten: sie sind aus Wagners Reifezeit, speziell die Albumsonate galt ihm selber auch als Komposition (allein die Mühe, für dieses Werk einen angemessenen Titel bzw. eine eigene Gattungsbezeichnung zu finden, belegt das)

Mit Sicherheit ging es im Unterricht des jungen Wagner nicht darum, changierende Stilkopien herzustellen - es ging um den Nachweis, mit den Proportionen und Formen umgehen zu können. Grob gesagt: brave, gut gemachte Schülerarbeiten - mehr nicht.

Stilanleihen und - imitationen findet man allerdings in Wagners Opern:
parodistisch:
die Koloraturen des Beckmesserständchens in den Meistersingern
negativ wertend:
der erste Aufzug der Götterdämmerung a la Auber ("sitz ich herrlich nicht am Rheine"), hier verwendet Wagner die in sein musikdramatisches Konzept eingepasste Stilimitation, um den alles andere als glanzvollen Hof des Gibichungenkönigs darzustellen
- - beide Beispiele dienen im Kontext des jeweiligen Werks der Aussageabsicht, sind also kein artistischer Selbstzweck; auch sind solche Stilimitationen nirgends bei Wagner der Anlaß eines Werks

ein gewisses Maß an parodistisch-ironischer Absicht hat das Lied "Schmerzen" aus den Wesendonckliedern: es ist wie ein Klavierauszug einer großen Glanzarie gestaltet, was angesichts des lächerlichen Textes komisch wirkt und auch komisch wirken soll - zugleich aber operiert das Lied mit raffinierten Harmonien. Es changiert also zwischen Ironie und Ernst.

Mir fällt beim frühen Wagner noch auf:
die Feen, das Liebesverbot lehnen sich an Rossini und Weber an
Rienzi lehnt sich an Meyerbeer an
der fliegende Holländer orientiert sich sehr an Weber ("summ und brumm" muss sich neben "wir winden dir den Jungfernkranz" wahrlich nicht verstecken)
________________

Griegs "aus Holbergs Zeit" ist ein Werk, welchem Tschaikowskis Streichersuite sehr ähnlich ist: beide sind eine liebevolle Verbeugung vor älterer Musik, und beiden hört man natürlich ihre Entstehungszeit an, wie Gomez es treffend charakterisiert hat.

Eine eindeutige Stilimitation finden wir in Tschaikowskis Oper Pique Dame, wo Rokokomusik sowohl zitiert als auch imitiert wird

Die Grenze zwischen Ernst und Parodie ist wohl oft nicht eindeutig festzulegen: verspottet Liszt Mendelssohn mit seinem Gnomenreigen? Diese Etüde kann man als "a la Mendelssohn" wahrnehmen, und man nimmt dabei auch wahr, dass Liszt in Sachen Klaviersatz der Anregung überlegen ist. Ich glaube nicht, dass der einzige Anlaß für den Gnomenreigen ein "ätschi Felix, ich kann´s besser" gewesen ist - ein wenig davon enthält diese Etüde quasi nebenbei.

Komplizierter wird es dann im frühen 20. Jh.:
- Ravels La Valse ist Stilimitation und Hommage
- Mahlers Trauermarsch ist halb parodistisch, halb todernst
- Strawinskis Pulcinella ist charmant
- Prokovevs klassische Sinfonie ist spaßhafte Verbeugung
da findet sich dann allerhand innerhalb der von Dir bezeichneten Grenzen.

herzliche Grüße,
Rolf
 
...Mahlers Trauermarsch ist halb parodistisch, halb todernst...

Der gängigen Vorstellung, daß die Parodie reiner unbarmherziger Ulk sei,
ist - wie gesagt - zu widersprechen: Kritik und Affirmation stehen bei ihr
in einem komplizierten Verhältnis zueinander.

Rolf hat nun etwas zweites, sehr Wichtiges angesprochen:
Das Parodistische ist selbst Ausdrucksträger. Wieso wechselt im ersten Satz
von Mahlers 5.Symphonie, dem cis-Moll-Trauermarsch,
ernste Klage mit grausamer Verhöhnung dieses Ernstes?

Um die Frage zu beantworten, muß man Mahlers Parodietechnik beschreiben.
Er integriert leierkastenartige, in parallelen Sexten geführte Melodienfloskeln in seine Musik,
auch die Begleitung schwankt zwischen polyphonisierendem Satz und leierkastenartiger Homophonie.
Streckenweise hört sich das an wie schlechte italienische Opernmusik.
Mahler komponiert eine Hörerfahrung aus: Bestimmte Tonsatz-Charaktere haben sich abgenutzt,
sind Clichés geworden. Darüber mokiert er sich aber nicht.
Indem er ihr Abgenutztsein satz- und instrumentationstechnisch noch hervorhebt,
ihre peinigende Drastik noch verstärkt, bringt er das Vernutzte wieder zum Sprechen.
Er zwingt die Lüge, wieder die Wahrheit zu sagen.

Weill und Schostakowitsch haben dies aus Mahler herausgehört
und weitergetrieben.
 
Original und Fälschung

In Zusammenhang mit Wagners Kompositionsübungen
war von Clementi die Rede.

Ein Beispiel für künstlerische Verfremdung -
zunächst das Original: Clementi, Sonatine op.36-1 (1797)

http://www.google.de/url?q=http://w...IwBjhk&usg=AFQjCNE7U3qz8rwfydzDyhBSa-YPdK7Kwg

Und jetzt Satie: "Sonatine bureaucratique" (1917)

http://www.google.de/url?q=http://w...uAIwAw&usg=AFQjCNH61ReKjdEaeY6gY5ap7KJ2qzLx8w

Ich halte Saties Version übrigens für entschieden originaler.

Gruß, Gomez
 
Guten Abend Christoph und Rolf,

wieder einmal habt Ihr, indem Ihr das Füllhorn Eures
Wissens über mir ausgeschüttet habt, mich nahzu geplättet.
Aber dennoch ("mich erhebend und entschlossen weiterlebend")
möchte ich gerne eine Punkt aufgreifen:

ohne Affinität zum parodierten Objekt keine Parodie.
Gute Parodien sind im Grunde heimliche Liebeserklärungen -
und gleichzeitig die Distanzierung davon.

Das ist sehr schön gesagt, ich glaube aber nicht, daß es das
ganze Spektrum der Wirkungsintentionen von Parodie
abdeckt. Tatsächlich gibt es wohl auch hier eine Skala,
deren eines Ende in vorstehendem Zitat charakterisiert wird.
Es gibt aber auch Parodie als reines humoristisches Mittel
und schließlich sogar als Mittel der komischen Vernichtung
eines Gegners.

Ob es für letzteres in der Musik gute
Beispiele gibt, würde ich gerne wissen; in der Literatur
gibt es sie. Eine (vielleicht nicht so gut bekannte) Instanz
aus der antiken Literatur wäre die Parodie von Lukans
Bürgerkriegsepos in Petrons Abenteuer- und Schelmenroman
Satyricon. Dieser Lucan gehört sozusagen als Nichtrömer,
Spanier und Neffe des zeitweiligen Regenten Seneca zur
Konkurrenz des altadeligen Römers Petron am Kaiserhof. P.s
Verfahren der Parodie ist sehr einfach: er spießt die
Vorliebe des Literatenzirkels um Seneca für eine Ästhetik
des Häßlichen, für übersteigertes Pathos und Manierismen
auf und imitiert diese Charakteristika in hoher
Komprimierung; was bei Lucan alle drei Verse vorkommt,
bringt er dreimal pro Vers (ähnlich verfahren etwa Brecht
in der "Kleinbürgerhochzeit" und Fitzgerald Kusz in "Schweig
Bub", nur daß hier der polemische Bezugspunkt kein
literarischer, sondern ein sozialer ist). Rein humoristisch
dagegen ist Petrons Homerparodie: der Zorn des "Gottes"
(eigentlich ist er eher eine Art Gartenzwerg) Priap als
Ursache der Irrfahrten des Protagonisten bringt vor dem
Hintergrund des homerischen Zorn des Poseidon eine komische
Komponente herein, nicht aber einen polemischen Bezug zu
Homer. In diesen beiden Fällen setzt Parodie auch keine
Affinität zum Vorbild, sondern nur dessen gute Kenntnis
voraus. Und natürlich gibt es auch für die von Gomez
angesprochene Verwendung von Parodie schon in der Antike
schöne Beispiele. Ich möchte hier an das bereits genannte
Beispiel der "Musiktheater"-Komödie des Aristophanes, die
"Frösche" anknüpfen. Zweifellos will Aristophanes dem eben
verstorbenen Tragiker Euripides ein Denkmal setzen. Und aus
diesem Grunde veranstaltet er eine Art Werkschau, indem er
den toten Euripides in der Unterwelt die Prologanfänge
seiner bekanntesten Tragödien rezitieren läßt. Gleichzeitig
aber arbeitet er die oft kritisierte Schematizität dieser
Prologe heraus, indem er den Diskussiongegner Aischylos dem
Euripides an passender Stelle immer mit derselben Phrase in
die Parade fahren läßt ("lek'ythion apólesen", wtl. "verlor
sein Ölfläschchen" - das Ö. ist eine Metapher für den Penis
samt Zubehör, was nicht nur Gaudi ist, sondern der Verlust
der Manneskraft symbolisiert, daß in den Prologen keine
"Power" steckt). Hier haben wir tatsächlich Parodie als
Mittel einer Art von distanzierter Liebeserklärung, die
literarische Größe anerkennt, ohne früher bereits
beanstandete Schwächen zu verschweigen.

Ende des Exkurses - ich wiederhole meine Frage: gibt es in der Musik
ebenfalls klare Beispiele für Parodie mit polemischem Bezugspunkt?

Einen schönen Abend wünscht

Friedrich
 
Zuletzt von einem Moderator bearbeitet:
Ende des Exkurses - ich wiederhole meine Frage: gibt es in der Musik
ebenfalls klare Beispiele für Parodie mit polemischem Bezugspunkt?

Lieber Friedrich,

erst einmal ganz herzlichen Dank für Deinen ebenso lehrreichen, wie informativen und vor allem auch amüsanten Ausflug in die Antike!! Schon Heine bedauerte, dass Petrons Satyricon nicht vollständig überliefert ist, ein Bedauern, welchem ich mich anschließe!

In der Musik wirst Du bzgl. Deiner Frage zunächst in der Oper, genauer in der Operette, noch genauer in einer ganz speziell subversiven Variante letzterer fündig: Jacques Offenbach: La belle Helene (um sogleich das Meisterwerk aus den vielen Offenbachschen Operetten zu nennen). Sowohl die Gattung der "grand opera", der großen (meist tragischen) Oper wird hier gezielt und gekonnt parodiert, als auch ihr soziales Umfeld, will sagen, die Kreise, welche sich gerne aus gesellschaftlichen Gründen (a la jockey-club u.a.) ins Opernhaus begaben. Gattung wie Rezeption werden hier durch den Kakao gezogen. Nur dem äußeren Schein nach eine komische kleine Oper, diese schöne Helena...

Ein weiteres Exempel ist die geniale Fledermaus von Johann Strauss jun.. Doppelmoral und Feigheit der K.u.K. Wiener Gesellschaft wird hier noch mehr durch die brillante Musik, als durch den Text parodiert (wobei der Text auch nicht eben harmlos ist). Hierbei verwendet Strauss in der partienweise scharf und höhnisch parodierenden Musik sowohl Elemente der damaligen Populärmusik (Wiener Walzer), als auch der grand opera ("erzittert, ihr Verbrecher, die Strafe bricht herein! Hier stehe ich als Rächer: ich selbst bin Eisenstein!). Der später mit Geige verniedlichte "Walzerkönig" setzte hier seine vermeintliche Domäne, den Walzer, satirisch und parodistisch ein - Ziel der Parodie ist die Wiener Gesellschaft.

Vermutlich aber bist Du mehr an einem textfreien Musikstück interessiert, also an einem ohne mehr oder weniger "literarischer" Bezugnahme. Hier könnte der grandiose Hexensabbat des letzten Satzes von Berlioz: Sinfonie fantastique betrachtet werden. Heine attestierte dieser Musik, dass sie eine neue Qualität ins Ästhetische gebracht hat: das Häßliche. Da hat Heine recht!! Primär sind alle Kobolzereien dieses irrwitzigen Sinfonienfinales diabolisch, höllisch, hexenhaft. Zugleich aber, durch die Integration des gregorianischen dies irae Motivs mit Glockenklängen (sic!) und schriller Orchestration, durch das bösartige Verbiegen des dies irae Motivs in einen schnellen 6/8 Takt enthält diese Musik als weitere Dimension parodistische Elemente. Der sakrale Tonfall mit all seinen mitschwingenden Bedeutungen wird, gerade weil eines seiner ehrwürdigsten und ältesten Elemente eincollagiert wird (die Sequenz dies irae ist ja aus der Totenmesse), in dieser hexenhaften höllischen Klangorgie dem Gelächter preisgegeben. (((das muss man nicht so hören - aber es steckt drin))).

In der Musikwissenschaft gehen die Meinungen auseinander: manche halten es für eine Parodie, manche nicht - Liszts Transkription "feierlicher Marsch aus Parsifal".

Frederic Chopin... Mazurka op.17 a-moll... auch das Dur-Pathos der "Militärpolonaise" im Kontext von op.40 (A-Dur grandioso - c-Moll lamento) sowie im Kontext der Entstehungszeit ("Polen" aus Pariser Perspektive lange nach dem Novemberaufstand) ist brüchig, enthält parodistische Elemente (vgl. auch Chopins Briefe zur Situation in Polen). Mehr dem "höllischen" zugeneigt das dritte Scherzo, welches vermutlich ein karikaturistisches Portrait enthält bzw. ein solches verwendet (schon Schumann fand darin "viel voller Verachtung"...)

Ludwig van Beethoven: Sonate op.110, 33 Veränderungen (Diabellivariationen) in der Sonate verwendet der Scherzosatz ein vulgäres Gassenlied der Soldateska "ich bin liederlich, du bist liederlich, wir sind liederliche Leute" (vgl. Uhde, Beethovens Klaviersonaten II, Reklam) - und liebevoll parodistisch ist jene Variation, die "in der Manier von Mozart" das Diabellithema strukturell mit einem Mozartthema verbindet. Überhaupt finden sich Stilparodien in diesen Variationen!!

Soweit ein kleiner Ausflug ins 19. Jh.. Natürlich ist Beckmessers Ständchen ebenso Parodie, wie Falstafs Lamento :) und Rossini muss man nicht eigens als Komiker und Parodisten erwähnen!

Mir bis heute unverständlich ist, dass Maurice Ravel seinen wunderbaren Zyklus Gaspard de la Nuit als Parodie auf die Romantik verstanden wissen wollte! Hier zeigt sich besonders drastisch, was Gomez mit der versteckten Liebeserklärung gemeint hat!!

Aber bzgl. der Musik des 20. Jh. kann Dir Gomez ausführlicher antworten, als ich.

Überhaupt ist "Humor/Witz/Parodie/Karikatur und Musik" ein schwieriges Thema - da wird es vieles zu sammeln und zu diskutieren geben. ich hoffe, ich habe ein paar Ansätze bieten können.

herzliche Grüße,
Rolf
 
Guten Abend, Friedrich!

Deine Fragen werden immer schöner -
indem sie mich als Befragten erst einmal mit einem Exkurs beglücken,
der interessanter ist als alles, was ich Dir zur Antwort geben könnte.
Vielen Dank für Deine lehrreiche Frage!

Schwierig zu beantworten ist sie obendrein.
Eine Musik, deren Telos einzig und allein die polemischen Vernichtung
anderer Musik wäre, ist mir nicht bekannt - es kommt immer hinzu,
daß die in polemischer Absicht komponierte Musik aus sich heraus sinnvoll
sein möchte. Wie schon an anderer Stelle gesagt:
Auch das Parodistische ist ein Ausdrucksträger.

Beleg: das von Rolf gewählte Beispiel des 1.Akts der "Götterdämmerung".
Die Veräppelung der "Grand Opéra" à la Auber war für Wagner wohl nur
ein Nebeneffekt, zumal diese Gattung bereits in den letzten Zügen lag.
Dramaturgisch diente die Inanspruchnahme dieser Opernmusik-Konventionen,
um damit die Kälte der Gibichungenwelt, ihre formelhafte Starre und den
dahinter zum Vorschein kommenden Abgrund an Heuchelei hörbar werden zu lassen
(was den Aspekt der Bosheit Wagners gegenüber Auber noch verstärkt).

Das vollkommenste Stück Musikparodie, das ich kenne, dürfte wohl
Mozarts "Dorfmusikantensextett" F-Dur KV 522 sein, auch "Ein musikalischer Spaß" geheißen,
ein hochgradig unterschätztes Werk, das völlig zu Unrecht auf das "Spaßhafte"
reduziert und damit verharmlost wird. Falsches, dillettantisches Spiel
wird in dem Werk zwar auch aufs Korn genommen, aber das ist nur ein Aspekt.
In jedem Satz dieses Sextetts werden satz- und kompositionstechnische Fehler
liebevoll "auskomponiert". Mozarts moquirt sich über seine
minderbegabten komponierenden Zeitgenossen.

Im dritten Satz seiner 9.Symphonie D-Dur,
einem wüsten und brutalen Scherzosatz in Rondoform,
parodiert Mahler im ersten Couplet Franz Lehar,
und die Musik macht hörbar, daß es keine liebevolle Bezugnahme ist.
Wenn ich könnte, würde ich gerne ein Notenbeispiel hier hineinsetzen -
so muß man's mir einfach glauben, in der Partitur lesen oder die Musik anhören.

Lehar bleibt mein Stichwort für die nachfolgenden Beispiele.
In der Durchführung des ersten Satzes von Schostakowitschs 7.Symphonie ist das
berühmte "Thema der Invasion" der Lehar-Arie "Da geh ich ins Maxim" nachgebildet (aus der "lustigen Witwe"):
für Schostakowitsch eine private Anspielung - sein Sohn heißt Maxim -,
und zugleich eine versteckte Charakterisierung der heranrückenden Feinde
(je nach Lesart Hitlers Armeen oder Stalins Geheimdienst-Schergen) als Operettenfiguren.
Lehars Melodie in Schostakowitschs verfremdender Version taucht
im Mittelteil des vierten Satzes von Bartoks "Konzert für Orchester" wieder auf,
jedes Mal unterbrochen vom "Gelächter" des gesamten Orchesters. Der Grund:
Schostakowitschs 7.Symphonie wurde in Zeiten der amerikanisch-sowjetischen
Waffenbruderschaft von jedem US-Radiosender gespielt, Toscanini lobte sie in den höchsten Tönen -
sehr zu Bartoks Verdruß, der von Schostakowitschs akustischer Omnipräsenz
enerviert war und sich musikalisch gerächt hat.

Letztes Bespiel: Bernd Alois Zimmermanns "Musique pour les soupers du Roi Ubu",
ein in hohem Maße aus Zitatcollagen zusammengesetztes Werk,
veräppelt das "Klavierstück IX" seines Intimfeindes Karlheinz Stockhausen.
Der erste Akkord in dem Klavierstück wird 280 mal angeschlagen -
Zimmermann läßt ihn 631 mal erklingen und dann das berühmte Eingangswort
des Königs Ubu ertönen: Merd(r)e!

In diesem Forum hätte er sich damit eine temporäre Sperre zugezogen.

Herzliche Grüße,

Gomez
 
Zuletzt von einem Moderator bearbeitet:
Ich kann nicht glauben, dass die meisten denken, tonale Komposition sei heute "unüblich", "aus der Mode" oder "nicht mehr erwünscht"!

Ich verehre Chopin wie einen Gott (ich bin ungläubig, also ist Chopin tatsächlich mein Gott :D) und würde, wenn ich das Talent dazu hätte, in seinem Stil komponieren.

Es ist wirklich schade, dass nur noch die wirklich "moderne" (im Sinne der Musikrichtung) Musik als solche angenommen/angesehen wird.
 
Ich verehre Chopin wie einen Gott (ich bin ungläubig, also ist Chopin tatsächlich mein Gott :D)

hallo Glaubensbruder :)

dieser Religion gehöre ich auch an, wobei es keine monotheistische Religion ist - bei mir kommen neben Frederic noch andere Götter vor: Ludwig, Franz, Maurice, Claude, Alexander N. u.a. :)

heute wird durchaus - und wunderschön! - auch tonal komponiert: um nur ein sehr berühmtes Beispiel zu nennen fratres für Violine und Klavier von Arvo Pärt!

Gruß, Rolf
 

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